Deutschland 2022 · 118 min. · FSK: ab 12 Regie: Hans-Christian Schmid Drehbuch: Hans-Christian Schmid, Michael Gutmann Kamera: Julian Krubasik Darsteller: Claude Heinrich, Adina Vetter, Yorck Dippe, Theresa Berlage, Caspar Hoffmann u.a. |
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Auf dem Weg in die initiale Traumatisierung | ||
(Foto: Pandora) |
Hans-Christian Schmid ist einer der interessantesten Chronisten deutschen Alltags im Umbruch. Seit seinem ersten Film Nach Fünf im Urwald (1995) über 23 – Nichts ist so wie es scheint (1998) und Requiem (2006) sowie zuletzt das eindringliche Depressionsdrama Was bleibt (2012) gelang es Schmid gerade über die stillen Momente in seinen Filmen eine fast schon überlaute Präsenz zu erzeugen, die dem Betrachter noch Jahre im Gedächtnis bleiben.
Nicht anders gilt das auch in Schmids neuem Film, der das Hoffen und Bangen der Familie Jan-Philipp Reemtsmas während dessen Entführung 1996 ins Zentrum seiner Erzählung stellt.
Zur Erinnerung: Jan-Philipp Reemtsma hatte sich nach dem Verkauf seines Erbanteils an der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH nicht einfach zur Ruhe gesetzt und wie so viele andere Erben Kunst gesammelt, sondern hat sich zu einem der faszinierendsten und eigenwilligsten deutschen Literatur- und Sozialwissenschaftler, Publizisten und Mäzene entwickelt. Er ist der Gründer und war bis 2015 auch der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Und er hat dem herzkranken deutschen Großautor Arno Schmidt (Kühe in Halbtrauer, Zettel’s Traum) für dessen letzten Lebensjahre finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht, indem er ihm 1977 den damaligen Wert eines Nobelpreises in Höhe von 350.000 DM als Unterstützung angeboten hatte. Zwei Jahre nach dessen Tod ermöglichte er 1981 die Gründung der Arno Schmidt Stiftung, deren alleiniger Vorstand er seit 1983 ist. Er ist zudem Mitherausgeber der Bargfelder Ausgabe des Gesamtwerks von Arno Schmidt und hat immer wieder in öffentlichen Lesungen daraus vorgelesen.
Schmids Film gelingt es mit wenigen Sequenzen, diesen anskizzierten bildungsbürgerlichen, wohlhabenden Hamburger Hintergrund Reemtsmas spürbar zu machen, das Arbeits- und das Wohnhaus nicht weit von der Elbe, und ein unmissverständlicher Bildungs-Ethos, der gegenüber seinem 13-jährigen Sohn Johann (Claude Heinrich) durchaus auch autoritäre Momente entwickelt. Aber alles in allem erhalten wir hier das Bild eines Menschen, den es in Deutschland viel zu selten gibt.
Im Kern von Schmids Film steht dann allerdings die Entführung Reemtsmas, die ein 33-tägiges Martyrium für Johann, dessen Mutter (Adina Vetter) und den befreundeten Rechtsanwalt (Justus von Dohnányi) werden wird. Sowohl Reemtsma selbst (»Im Keller«, 1997) als auch Johann haben versucht, sich diese Traumatisierung über Bücher aus der Seele zu schreiben. Schmid stützt sich allerdings nur auf Johann Scheerers Buch (»Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung«, 2018). Das mag im ersten Moment überraschend sein, sieht man sich den ungeheuren Erfolg von True Crime-Formaten wie im Moment gerade Netflix‘ Serie über den Serienmörder Jeffrey Dahmer oder im letzten Jahr Die Schlange, die konsequent auf den Täter und seine Opfer (so lange sie noch leben) fokussieren und wie etwas im Fall Dahmer die Angehörigen der Opfer erneut ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit stellen und nicht selten re-traumatisieren.
Wie es zu dem initialen Trauma kommt, davon erzählt Schmids Film in den ruhigen, intensiven, betont alltäglichen, fast schon banalen Bildern und Szenen, die wir aus seinen Filmen kennen. Das ist seine Handschrift, und diese Handschrift ist auch in diesem Fall ein Instrument, das so präzise wie subkutan die sich mehr und mehr im Strudel der Verzweiflung verlierenden Angehörigen (und Freunde) von Reemtsma begleitet und ganz nebenbei auch von der blauäugigen Unfähigkeit des deutschen Polizeiapparates erzählt, der selbst nach den einschneidenden RAF-Erfahrungen alles andere als professionell arbeitet.
Schmid verzwirbelt diese Ebenen zu einem intensiven Kammerspiel, das nur selten die Räume der Reemtsma-Residenz verlässt, sondern sich auf die binnenpsychologische Entwicklung der Gruppe konzentriert und konsequent herausarbeitet, dass es trotz des Wiedersehens mit dem Vater kein Happy End, sondern nur ein Weiterleben-Müssen geben kann.
Mit einem brillanten Ensemble, in dem mit Claude Heinrich als Johann endlich mal wieder ein überragender Jungdarsteller vor der
Kamera steht, aber auch mit einem hervorragenden Justus von Dohnányi und einer eindringlichen Adina Vetter, hat Schmid aus einem tatsächlich klassischen Thriller-Stoff einen sehr modernen und immer wieder überraschenden Anti-Thriller gemacht, der auch die wahren Angehörigen, denen Schmid den Film vorab gezeigt hat, überzeugt hat.
Was ist da eigentlich passiert? Ich schätze das Filmfest Hamburg sehr, wie man auch im heutigen »Cinema Moralia« (Folge 286) nachlesen kann, aber wenn ein deutscher Film, der Film von einem Regisseur, der mit seinem vorherigen Filmen wenigstens auf der Berlinale seine Premiere hatte, dann plötzlich seine Weltpremiere in Hamburg hat, dann ist irgendetwas schiefgelaufen.
Aber was?
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Coming of Age, das Erwachsenwerden ist eines der beliebtesten Filmthemen. Denn es führt die Zuschauer auf sich selbst und eine universale Erfahrung zurück, die jeder von ihnen gemacht hat: Wie sich das Kind in den kompletten erwachsenen Menschen wandelt, wie man sich von den Eltern emanzipiert und ein unabhängiges, freies Subjekt wird, den Umgang mit eigenen Gefühlen entdeckt, Liebe und Sex, Schmerz und Verletzung erfährt.
Aber ein Coming of Age wie dieses haben
glücklicherweise nur die allerwenigsten erlebt, jedenfalls in den zivilisierten, sehr behüteten Verhältnissen Westeuropas.
Die Hauptfigur in diesem Fall ist ein 13-jähriger Junge, er heißt Johann. Zu Beginn des Films ist seine Welt noch in Ordnung: die Verhältnisse sind gut bürgerlich, er muss Latein für die Schule pauken, spielt in einer Rockband, und pubertiert. Es ist klar, bald wird er sich von seinen Eltern, die ihn schon jetzt nerven und ihn aus seiner Sicht vor allem zu behindern scheinen, lösen.
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Eines Nachts ändert sich alles radikal: »Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.« – Mit diesem Satz wird Johann (Claude Heinrich) von seiner Mutter (Adina Vetter) geweckt. Sein Vater (Philipp Hauß), ein Wissenschaftler und Multimillionär, wurde entführt. Man fordert 20 Millionen D-Mark Lösegeld.
Plötzlich ist für Johann nichts mehr, wie es gerade noch war, das Leben ist durcheinander geworfen, die Werte auf den Kopf gestellt, Freiheit und Möglichkeiten wandeln sich
in Angst und Sicherheitsbedürfnis. Und der ruhige gedämpfte Bungalow in Hamburg-Blankenese wird zum belebten Zentrum eines privaten Krisenstabs: Freunde der Familie, ein Anwalt und die Polizei gehen ein und aus.
Es sind diese existentiellen Veränderungen, die im Mittelpunkt des Films von Hans-Christian Schmid stehen.
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Wir sind dann wohl die Angehörigen basiert auf Ereignissen rund um die Entführung des Wissenschaftlers, Autors und Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma im Jahr 1996 und auf dem autobiografischen Roman seines Sohnes Johann Scheerer, der seine Erinnerungen poetisch aufbereitet, und darin seine, nicht »die« Wahrheit der Ereignisse erzählt.
Alles wird größtenteils aus der Perspektive des damals 13-jährigen erzählt. Um dessen vertraute Umgebung
formieren sich neue fast familienähnliche Strukturen aus fremden Menschen. Und alle machen Fehler.
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ZEIT: ...sonst zieht man aus der Lektüre Ihres Buches eher die Lehre: Wenn einer entführt wird – lieber nicht die Polizei rufen.
Scheerer: Ja, hm ...
ZEIT: Sie hat – so beschreiben Sie es – durch Nachlässigkeit und Unprofessionalität beinahe eine Katastrophe ausgelöst, die noch weit größer gewesen wäre als die Entführung selbst.
Scheerer: Ich kenne viele schlimme Geschichten aus der Polizei. Und ich frage mich gelegentlich selbst, wie würde ich es machen, wenn so was noch mal passiert? Ruft man die Polizei oder lieber nicht? Ohne Polizei geht nur mit Polizei, man müsste sie informieren und sagen: Haltet euch raus.
ZEIT: Tun sie es dann?
Scheerer: Natürlich nicht! Der Einsatzleiter sagte zu meiner Mutter, nachdem sie die Polizei des Hauses verwiesen hatte: »Sie haben mich aus dem Boot geworfen, aber ich schwimme hinterher und reiche Ihnen die Hand.« Abwegig! Als wäre er noch in der Lage, ihr zu helfen. Aber so ticken die!
Johann Scheerer im Interview mit der ZEIT,
2018
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Hans-Christian Schmids erster Kinofilm seit zehn Jahren erzählt von diesem perversen Coming of Age auf sehr intime Weise.
Dies ist kein Thriller oder Entführungsdrama, sondern ein Kammerspiel. Gedämpfte Töne, sparsame Kamerafahrten und Dialoge herrschen vor, es geht ums Atmosphärische.
Auch die Kritik an den zum Teil haarsträubend dilettantischen Fehlern der Polizei ist zurückhaltend, sozusagen hanseatisch höflich formuliert.
Wobei es dann schon klar ist – da
wird alles doch zum Thriller –, dass die Mutter damals zusammen mit zwei Freunden der Familie entschied, die Lösegeldübergabe an der Polizei vorbei zu organisieren, und ihrem Mann damit wahrscheinlich das Leben rettete.
Der Film zeigt einfach die Risiken einer jeder Handlung. Und er zeigt die Welt der 90er Jahre, die auch im Rückblick schon ungemein weit weg erscheint: Eine Welt der Faxgeräte und Stadtpläne aus Papier, ohne Mobiltelephone, Internet und GoogleMaps.
So
ist dies ein Film des Subtilen.
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Da die Figuren die Zeit oft mit Warten verbringen – auf die nächste Nachricht der Entführer, das nächste Lebenszeichen des Opfers, die nächste Lösegeldübergabe –, gibt es immer wieder Momente, in denen der Film auf der Stelle tritt.
Das ist in jedem Fall routiniert inszeniert, es ist mitunter spannend; mitunter aber auch etwas langweilig. Zumal der Ausgang der Entführung zumindest den normal informierten Zeitgenossen bekannt sein sollte.
Da hat man als Zuschauer Zeit, darüber nachzudenken, warum dieser Film eigentlich gemacht wurde? Und warum er so und nicht anders gemacht wurde?
Es gibt gegen diesen Film gar nichts zu sagen, außer einem diffusen, mich als Autor selbst unbefriedigenden »irgendetwas stimmt nicht«. Vielleicht ist das auch schon die ganze Antwort auf die Frage des Anfangs.
Vielleicht müsste man noch feststellen, dass der Film die Ironie, kauzige Kinderperspektive auf die Erwachsenen nur ansatzweise so rüberbringt, wie sie im Buch stehen. Aber einem Film das Buch, auf dem er basiert, vorzuhalten, ist auch wenig originell.
Schmid präsentiert eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche, in ihren Fakten faszinierende Geschichte, die gut erzählt wird. Weil dies aber kein Dokumentarfilm ist, und Fakten, auch die des subjektiven Erlebens allein nicht alles sind, fallen einem mitunter aber andere Geschichten ein, die in dieser verborgen sind, und die Schmid leider nicht erzählt: Über Macht und Übermacht der Väter und die Fixierung der Söhne auf ihre Väter zum Beispiel. Über die verklemmte, verdrängte Empörung des Sohns über den Vater, der erst zu intellektuell für ihn ist, und dann zu entführt. Oder die Lektion, »dass man in Extremsituationen ruhig bleiben muss« (Scheerer). Oder über die Unmöglichkeit von Normalität in Verhältnissen, in denen man einerseits durch brutale gnadenlose Entführer gefährdet ist, und anderseits dann immerhin irgendwie 30 Millionen Mark aufbringen kann, um sein Leben zu retten.