Wilde Unschuld

Savage Grace

USA/E 2007 · 98 min. · FSK: ab 16
Regie: Tom Kalin
Drehbuch:
Kamera: Juan Miguel Azpiroz
Darsteller: Julianne Moore, Stephen Dillane, Eddie Redmayne, Elena Anaya, Unax Ugalde u.a.
Mutter und Söhnchen

Die Macht der Mutter

Unschuldig ist gar nichts, noch nicht einmal die Kindheit von Antony, dem jungen Mann, der hier als Erzähler aus dem Off mit den Zuschauern einen Blick auf seine Geschichte und vor allem die seiner Mutter wirft. Insofern führt der deutsche Titel in die Irre; aber auch die korrekte Über­set­zung »Wilde Anmut« verspricht mehr, als der Film hält.

Die Handlung ist auf ihre Weise atem­be­rau­bend: Barbara Daly Baekeland, ein früheres Model und Möch­te­gern-Hollywood-Starlet lebt im Paris der späten 40er-Jahre ein mondänes Leben am Rande von Künstler- und Schrift­stel­ler­kreisen. Sie ist mit Brooks Baekeland verhei­ratet, die Verhält­nisse sind überaus wohl­ha­bend, denn Brooks, der zwischen Paris, Spanien, der Schweiz und den USA das Leben eines Bonvivant führt, ist als Enkel des Plastik-Erfinders einer der reichsten Erben Amerikas. Die Ehe aller­dings ist unglück­lich, was – so jeden­falls legt es der Film nahe – wenig mit dem Müßiggang des Gatten und viel mit der Frus­tra­tion und latent sich stei­gernden Depres­sion – aufgrund der vermeint­lich geop­ferten Film­kar­riere – der Ehefrau zu tun hat. Auch die Geburt von Sohn Antony mindert das alltäg­liche Sinn­de­fizit der Mutter nicht, das sie verzwei­felt zu kompen­sieren sucht. Man erlebt Barbara als eine über­kan­di­delte, wich­tig­tue­ri­sche, haltlose Frau, die ihren Mann in kleine alltäg­liche Macht­spiele verwi­ckelt, sich – um ihn zu demütigen – in Gesell­schaft bewusst daneben benimmt, aus dem gleichen Grund offen fremdgeht, Lügen­ge­schichten erfindet und sämtliche Freunde und Bekannten ihres Mannes früher oder später in peinliche Auftritte verwi­ckelt. Auch hierfür legt der Film eine Erklärung nahe: Mangelndes Selbst­be­wusst­sein, die heimliche Furcht, vom Gatten früher oder später verlassen zu werden und dessen Freunden nicht gut genug zu sein, treibt Barbara zu Hand­lungen, die exakt das Befürch­tete bewirken.

Derweil die Distanz des Ehepaares wächst, wird die Beziehung zwischen Mutter und Sohn immer symbio­ti­scher, zumindest auf einsei­tige Art: Barbara idea­li­siert Antony, zugleich ist sie ihm eine über­mäch­tige, dominante Mutter, die ihm nicht nur einen strengen Kanon an Bildung und Benimm­re­geln auferlegt, sondern sich mit Beginn seiner Pubertät auch unver­hohlen in sein aufkei­mendes Sexu­al­leben einmischt. Sie verhält sich eifer­süchtig gegenüber einer Freundin, miss­bil­ligt homo­se­xu­elle Expe­ri­mente, verführt selbst einen seiner Liebhaber – bis beider zunehmend komplexe Beziehung, in der Mutter und Sohn sich vonein­ander nicht lösen können und doch mitein­ander nicht auskommen, in den – von der Mutter ausge­henden – Inzest mündet. Während Antonys schei­ternde Abna­be­lungs­ver­suche eine Schi­zo­phrenie auslösen, unter­nimmt Barbara Selbst­mord­ver­suche. Kurz darauf ersticht der Sohn die Mutter nach einem Streit. Der Nachspann klärt den Zuschauer noch darüber auf, dass Antony nach mehr­jäh­riger Haft versuchte, auch seine Groß­mutter zu töten und kurz darauf Selbst­mord beging.

Das Atem­be­rau­bende, Scho­ckie­rendes dieses Gesche­hens, dessen Schrecken sich immer weiter steigert, liegt nicht zuletzt daran, dass man weiß, dass es sich zu einem großen Teil um Fakten handelt: Howard A. Rodman Drehbuch zu Tom Kalins Film geht auf die gleich­na­mige Reportage zweier Jour­na­listen zurück.

Sobald dieser Plot bekannt ist, ist aber ein großer Teil der Faszi­na­tion vorbei, und Kalin gelingt es nur selten, den Tatsachen etwas hinzu­zu­fügen. Im Gegenteil verschenkt er reihen­weise die Gele­gen­heiten, das Paris der 50er und das Spanien der 60er, die Funktion des Nach­kriegs­eu­ropa als Spiel­wiese und Sehn­suchts­raum der US-Ameri­kaner und die Facetten der Kultur­re­vo­lu­tion der späten 60er zu entfalten – das gelingt Filmen wie Ming­hellas The Talented Mr. Ripley oder Berto­luccis Dreamers weitaus besser. Eine tiefere Reflexion seines Sujets fehlt dem Film ebenso wie Interesse an Charak­ter­psy­cho­logie: Was wirklich in Barbara vorge­gangen sein mag, wird so wenig deutlich, wie Moti­va­tionen ihres Mannes und ihres Sohnes. Speku­la­tion ist Kalin ebenso fremd wie Mut zu offenen Fragen. Statt­dessen drückt er sich und fügt der Bebil­de­rung und dem gehobenen Reenact­ment des Sachbuchs nur behaup­tete Tiefe hinzu.

Dabei ist der Film keines­wegs ohne visuellen Ehrgeiz. Der 1962 geborene Kalin, als Filme­ma­cher wie Video­künstler ein Idol des New Queer Cinema der 90er, der auch gemeinsam mit Cindy Sherman arbeitete, bezieht sich in der ersten, »bour­goisen« Hälfte offen auf die Ästhetik der Melo­dramen von Sirk, während die zweite »Bohème«-Hälfte immer wieder Atmo­s­phären von Pasolinis 60er-Jahre-Filmen wachruft. Aber es bleibt bei Zitaten, und die Spannung aus der Konfron­ta­tion zweier derart unter­schied­li­cher Film­spra­chen wird nie fruchtbar; auch hier ist alles halb­her­ziges, eher unin­spi­riertes Nach­stellen. Kalin entwi­ckelt in Savage Grace keine eigene Haltung, darüber hinaus aber begeht er die größte Sünde: Er langweilt.