Deutschland 2013 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Rick Ostermann Drehbuch: Rick Ostermann Kamera: Leah Striker Darsteller: Levin Liam, Helena Phil, Vivien Ciskowska, Patrick Lorenczat, Willow Voges-Fernandes u.a. |
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Kinder wie Billardkugeln |
Fast jeder kennt das Schicksal von Kaspar Hauser, der inmitten von Deutschland völlig ohne Kontakt zu anderen Menschen aufgewachsen ist. Er dient als ein so faszinierendes, wie verstörendes Beispiel dafür, wie sehr unser Menschsein erst durch unsere Erziehung und durch das Miteinader mit anderen Menschen geprägt wird. Werner Herzog war dies eine philosophische Betrachtung in Jeder für sich und Gott gegen alle wert.
Fast niemand kennt hingegen das Schicksal geschätzter 25.000 elternloser deutscher Kinder, die direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen um ihr Überleben kämpften. Auf der Flucht vor dem Hungertod und vor der Roten Armee, versuchten sie sich, nach Litauen und in andere weiter östlich gelegene Länder durchzuschlagen. Diese ganz auf sich zurückgeworfenen Flüchtlinge nennt man „Wolfskinder“. Nur wenige Hundert überlebten. Sie werden bis heute vom deutschen Staat nicht voll anerkannt.
Rick Ostermann zeigt in seinem Debütfilm Wolfskinder das Schicksal einiger dieser Kinder im Sommer 1946: Die Mutter von Hans und dem kleinen Fritzchen stirbt an Auszehrung. Unmittelbar vor ihrem Tod dringt sie auf ihre Söhne ein, dass diese sich zu einem Bauernhof in Litauen durchschlagen müssen, wo man sie kennt und aufnehmen wird. Hans soll auf seinen kleinen Bruder aufpassen. Doch von Rotarmisten gejagt, verlieren sie sich sehr bald aus den Augen. Hans schließt sich einer anderen Gruppe von Kindern an. Das Schicksal von Fritzchen bleibt zunächst ungewiss.
Der Begriff „Wolfskinder“ ist von dem Ausdruck „Wolfsmenschen“ abgeleitet, der ab 1945 für Menschen verwendet wurde, die aufgrund der Kriegsumstände auf ihre elementarsten Bedürfnisse reduziert und somit „vertiert“ waren. Im Gegensatz zu Kaspar Hauser blieb ihnen immerhin noch die menschliche Sprache. Nicht umsonst bläut die Mutter von Hans und Fritzchen ihren Söhnen bis zuletzt ein, niemals ihre Namen zu vergessen.
Rick Ostermann betont in seiner Inszenierung den gewaltigen Kontrast zwischen der wunderschönen Naturlandschaft Ostpreußens und dem harten Überlebenskampf der Wolfskinder. Die Sonne scheint auf satt grüne Wiesen und auf romantische Auenwälder. Doch die wenigen inmitten der Natur gezeigten Kinder sind nicht zum Sonntagspicknick hierhergekommen, sondern hetzen ums nackte Überleben durch den Wald.
Sie rennen blindlings in zerfetzter und vor Dreck starrer Kleidung mit wunden Füßen und von schwärenden Wunden überseht. Waldbeeren dient ihnen als Grundnahrung, ein lebender Frosch oder das rohe Fleisch eines Huhns sind eine delikate Abwechslung. Ein Mädchen hat eine völlig verdreckte Puppe dabei, Doch selbst die muss bald sie bald gegen eine warme Suppe abtreten. Hans hat als einziges Wolfskind ein Buch. Bezeichnenderweise handelt es sich um das Tagebuch von Charles Darwin.
Der heutige erbarmungslose neoliberale Wirtschaftskampf wird gerne als Sozialdarwinismus bezeichnet. Doch diese Kinder haben keinerlei Begriff von Wirtschaft und von Politik. Ihr Überlebenskampf ist ganz buchstäblich: Wie Wild werden sie gehetzt und abgeschossen, sobald sie vor die Flinte eines Rotarmisten geraten. Die Form der tödlichen Selektion lautet Einzelkämpfer gegen Kinderverbände. Hierbei hat sich gezeigt, dass die in Gruppen bleibenden Kinder bessere Überlebenschancen hatten. Aber viele haben trotzdem nicht überlebt, die davon berichten könnten.
Rick Ostermann ist sowohl bei seinem Drehbuch als auch bei seiner Inszenierung erschütternd konsequent. In kalten Farben fängt die Kamera völlig emotionslos das Schicksal der Wolfskinder ein. Der Zuschauer hat keinen Abstand und keinen Wissensvorsprung, sondern ist ebenso desorientiert, wie die unfreiwilligen kleinen Protagonisten. Diese Kinder sind wie Billardkugeln, die von äußeren Kräften hart angestoßen immer wieder in tausend verschiedene Richtungen zersprengt werden.
Immerhin ahnen sie, dass Zusammenhalt gleich Überleben ist. Deshalb bilden sie immer wieder zufällige temporäre Allianzen, die oft jedoch ebenso schnell wieder zerstört werden. Nicht selten löst sich ein Verband auch deshalb komplett auf, weil kein einziges Kind überlebt. Wer jedoch Glück hat, tut gut daran, auch noch seinen Namen zu verleugnen. Es ist der letzte Schritt zur vollständigen Auflösung der eigenen gewachsenen Identität.
Identitätsverlust zum Überleben. Wolfskinder, die auf ihre reine Kreatürlichkeit zurückgeworfen sind. Kaspar Hauser blickt eigensinnig grinsend um die Ecke.