Young Adam

GB/F 2003 · 98 min. · FSK: ab 16
Regie: David Mackenzie
Drehbuch:
Kamera: Giles Nuttgens
Darsteller: Ewan McGregor, Tilda Swindon, Peter Mullan, Emily Mortimer u.a.
Obsession im kühlen Schottland

Sucht nach Leben!

Abhän­gig­keit hat viele Gesichter: Alkohol, Drogen, Spiel ...
Die einzige, die Joe sich zugesteht, ist die nach Sex. Ständig ist er auf der Suche nach neuer Befrie­di­gung, egal, ob die Begegnung leiden­schaft­lich ist, zärtlich oder eher mecha­nisch. Und so moralisch die Gesell­schaft um ihn herum auch tut: Für sie scheint Sex ein ebenso wichtiges Mittel zu sein, Kontakt aufzu­nehmen, sich ein wenig Gebor­gen­heit und Zuwendung zu verschaffen – wehe denen, die hier versagen. Für die einen sind die intimen Begeg­nungen verbind­li­cher als für die anderen, dann kommt es zu Miss­ver­s­tänd­nissen. Doch niemand ist Opfer in diesem Spiel, der sich nicht selbst dazu macht – oder von der Öffent­lich­keit dazu erklärt wird.

Eine düstere Welt ist dieses Schott­land der unmit­tel­baren Nach­kriegs­zeit. Die Gesell­schaft ist permis­siver als sie es sich zuge­stehen will, und gewalt­tä­tiger als sie glaubt. Der gefühl­lose Held dieser exis­ten­zia­lis­ti­schen Geschichte erinnert an den »Fremden« von Albert Camus, auch wenn er ganz anders schuldig wird. David Macken­zies Verfil­mung des Romans »Young Adam«, ein frühes Werk des schot­ti­schen Beat-Autors Alexander Trocchi, begleitet einen Menschen auf der Suche nach Sinn­haf­tig­keit und entdeckt doch nur Routine und Schwindel.

Der junge Fluss­schiffer Joe findet eine im Wasser treibende Leiche – dass er die junge Frau, Cathie, kannte und näheres über ihren Tod weiß, erschließt sich erst im Laufe des Films durch Rück­blenden. Gleich­zeitig wird ein Bezie­hungs­dreieck entfaltet: Joe wird der Liebhaber von Ella, der Frau des Boots­füh­rers Les. Die Erzählung über die Erwach­senen auf dem Lastkahn (namens »Atlantic Eve« – und damit ebenso fehl am Platz in den engen Kanälen wie Joe) wird zur inner­li­chen Konfron­ta­tion mit dem Mord­pro­zess, in dem ein anderer Liebhaber Cathies angeklagt ist.

Kann Joe zusehen, wie ein Unschul­diger verur­teilt wird? Eine unge­heu­er­liche Frage: Hat er tatsäch­lich die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, um den Fami­li­en­vater zu retten? Könnte er beweisen, dass es kein Mord war (und wo bleibt die Unschulds­ver­mu­tung in diesem Indi­zi­en­pro­zess)? Wenn er ebenso unschuldig wäre wie der Klempner, hätte er doch das selbe Recht, dem Gericht zu entkommen.
Joe, darge­stellt vom schot­ti­schen Star­schau­spieler Ewan McGregor, der in den hellsten Momenten des Films an den jungen Robert Redford erinnert und in den fins­tersten an Ian McKellen als Richard III., ist ein amora­li­scher Charakter – weil er sich mit den Werten der Gesell­schaft nicht iden­ti­fi­zieren kann. Das isoliert ihn aber auch von seinen Mitmen­schen, und als einzige Verbin­dung bleibt physische Lust. Letzt­end­lich ist er allein, weil er keine Verant­wor­tung über­nehmen kann. Die obsessive Beziehung zu Cathie erscheint so als Chance, die er nicht nutzen konnte. Seine Flucht vor dem Fami­li­en­leben bleibt ohne Ziel, denn die Schrift­stel­lerei hat er ebenso aufge­geben.
Die Frauen, die ihm begegnen, sind ungleich realitäts­ver­bun­dener: Cathie (Emily Mortimer) ist eine moderne junge Frau, die sich in die mora­li­sie­rende Nach­kriegs­zeit verirrt zu haben scheint. Ella (Tilda Swinton, ähnlich abge­ar­beitet wie in War Zone und gleich­zeitig von einer Energie, wie sie sie in Orlando versprühte) ist eine Unter­neh­merin mit klaren Zielen, und man möchte ihr in ihrer Lebens­klug­heit unter­stellen, dass sie ihre Schwester nicht zufällig auf das Schiff einlädt. Doch trotz der körper­li­chen Annähe­rung vermögen sie ebenso wenig eine Bindung zu Joe herzu­stellen wie Les, der frus­trierte Binnen­ka­pitän, der ihn auf dem Kahn ange­stellt hat – der Darsteller Peter Mullan ist hier­zu­lande in der Titel­rolle von Mike Leighs My Name Is Joe ebenso bekannt geworden wie durch die Regie von Die unbarm­her­zigen Schwes­tern.

So wichtig Sex für die Prot­ago­nisten ist, so wenig verzichtet David Mackenzie darauf, ihn unge­kün­s­telt und ausführ­lich zu insze­nieren. Doch Liebhaber von Hochglanz-Porno­gra­phie werden trotz dras­ti­scher Szenen nicht auf ihre Kosten kommen. In den Kame­ra­bil­dern von Giles Nuttgens werden schweiß­trei­bende Bewegung ebenso deutlich wie die Ehrfurcht vor dem begehrten Körper, der Zartheit einer Kaiser­schnitt­narbe beispiels­weise. Diese Szenen sind keines­wegs als Stimu­lan­zien zwischen­durch gedacht, sondern elemen­tarer Bestand­teil der Erzählung und Charak­te­ri­sie­rung, und bei aller Direkt­heit und Härte keine Sekunde zu lang.

Die Cine­ma­scope-Bilder Nuttgens' vermögen es in ihrem film-noir-Stil, die weiten Ebenen des schot­ti­schen Tieflands, die Tristesse der Städte ebenso einzu­fangen wie die engen Räume des Kahns, und immer wieder macht er uns mit den Prot­ago­nisten zu Voyeuren, die durch Wandritzen und über Rasier­spiegel sehen, was nicht für sie bestimmt sein sollte. Und wie die Prot­ago­nisten verstehen die Zuschauer so manches erst auf den zweiten Blick. Wer sucht, schaut sich um, und Macken­zies Film bietet viele Details fürs Auge, während die Dialoge bewusst karg gehalten sind – wozu ausspre­chen, was in Gesten wie dem Waschen der kohle­be­staubten Männer deutlich wird. Dezent begleitet wird die Geschichte von einem Sound­track, der von David Byrne, dem ehema­ligen Talking Head, kompo­niert wurde. Nur zweimal erklingt im Verlauf der Handlung Musik, und das von Peter Mullan gesungene und auf der Gitarre hinge­klim­perte Stück leitet ebenso einen Bruch ein wie die Gram­mo­phon­platte in Cathies Wohnung. Doch alle Wende­punkte dieses empfind­samen Meis­ter­werks führen nur weiter weg von einer Erlösung.