Zeiten des Umbruchs

Armageddon Time

USA/Brasilien 2022 · 115 min. · FSK: ab 12
Regie: James Gray
Drehbuch:
Kamera: Darius Khondji
Darsteller: Anne Hathaway, Anthony Hopkins, Jeremy Strong, Banks Repeta, Jaylin Webb u.a.
Filmszene »Zeiten des Umbruchs«
Die Möglichkeit des Unmöglichen...
(Foto: Universal)

Das gebrochene Herz Amerikas und der ganzen Welt

James Grays autofiktionale Reise in das Jahr von Reagans Wahl erzählt vom Verlust der Unschuld, ist politisch, poetisch und ein gnadenloser Zerrspiegel unserer Gegenwart

James Gray reiht sich mit seiner auto­fik­tio­nalen Reise nach Queens, New York und in das Jahr 1980, kurz vor Reagans Wahl, in eine Reihe von Filme­ma­chern ein, die in den letzten Jahren das eigene Leben, die eigene Vergan­gen­heit exegiert haben, um über das Kleine das Große, über die Familie die Welt zu erklären. Dabei sind großar­tige Arbeiten entstanden wie Paul Thomas Andersons Licorice Pizza, Mike Mills C'mon C'mon oder Paolo Sorren­tinos Hand of God. Auch James Grays Film ist ein echter Glücks­fall, der nicht nur die sieben Minuten Standing-Ovations nach seiner Auffüh­rung in Cannes verdient hat, sondern den Preis, den dann aber Ruben Östlunds Triangle of Sadness erhalten hat.

Denn im Grunde ist Grays Zeiten des Umbruchs, der im Original erheblich tref­fender Arma­geddon Time heißt, genauso politisch wie Östlunds Satire, begibt sich aber mit einem deutlich stärkeren Narrativ, einem komple­xeren analy­ti­schen Blick und Schau­spie­lern, die bis in die kleinsten Neben­rollen bril­lieren, an eine der zahl­rei­chen Wurzeln des Übels unserer Gegenwart, um damit unsere manchmal so schwer zu dechif­frie­rende Gegenwart zu erklären.

Das Jahr 1980 in einem damals noch alles andere als gentri­fi­zierten Queens in New York könnte dafür kaum passender sein. Denn wir befinden uns kurz vor der Wahl Ronald Reagans, die eine Tür aufstoßen wird, die die Wahlen und die Demo­kratie Amerikas und der übrigen Welt nach­haltig verändern wird, wie das nicht nur die Ausnahme­serie The Americans (2013-2018) veran­schau­li­chen wird, die in eben diesem Jahr ihre Erzählung beginnt, sondern wie es auch Jason Reitman in seinem Front Runner (2018) ernüch­ternd über die demo­kra­ti­sche Vorwahl­kam­pagne von 1987 zeigt, aber da sind die »Arma­geddon Times« schon lange am Laufen und Ronald Reagan bereits zum zweiten Mal zum Präsi­denten gewählt worden.

Im Jahr 1980 besteht jedoch noch Hoffnung auf ein anderes Amerika und eine andere Welt, die auch die jüdisch-ameri­ka­ni­sche Familie Paul Graffs, des Alter Ego von James Gray, sich erhofft, und die den Wahlkampf Reagans am heimi­schen Fernseher mitver­folgt. Paul, großartig verkör­pert durch Michael Banks Repeat (bei dem man sich einmal mehr fragt, wie es die US-Ameri­kaner fertig­bringen, derartig gute Kinder-Schau­spieler zu casten), ist aller­dings mehr mit seinem privaten Leben und seinem Wunsch, Künstler zu werden, beschäf­tigt, ein Wunsch, der von seinem Großvater Aaron Rabi­no­witz (Anthony Hopkins), unter­stützt wird. Doch mit dem ersten Schultag in seiner neuen 6. Klasse wird auch Pauls Leben von den harschen Winden eines neuen poli­ti­schen Klimas erfasst. Seine Freund­schaft zu seinem afro-ameri­ka­ni­schen Mitschüler Chad (Dane West as Topper Lowell) führt dazu, dass seine Eltern ihn von der städ­ti­schen Schule nehmen und mit Unter­stüt­zung von Pauls Großvater auf eine Privat­schule schicken, die von Donald Trumps Vater Fred (John Diehl) und dessen Tochter Maryanne (Jessica Chastain) nicht nur finan­ziell, sondern über natio­na­lis­ti­sche Erbau­ungs­reden auch gesell­schafts­po­li­tisch geprägt wird.

Paul versucht in diesem Stadium seiner Coming-of-Age-Geschichte einen schwin­del­erre­genden Balance-Akt. Er will die alte Freund­schaft zu Chad bewahren, ist aber gleich­zeitig der xeno­phoben Haltung seiner neuen Mitschüler ausge­setzt und muss nicht nur verstehen lernen, dass seine Eltern – fantas­tisch von Anne Hathaway und Jeremy Strong gespielt – einer immer gefähr­li­cher werdenden Bezie­hungs­dy­namik ausge­lie­fert sind, dass die Shoa-Erfah­rungen seines Groß­va­ters auch Auswir­kungen auf sein eigenes Leben haben sollen.

Gray verz­wir­belt diese an sich schon komplexen Ebenen privater und gesell­schaft­li­cher Art mit einer faszi­nie­renden erzäh­le­ri­schen Leich­tig­keit zu einem Ganzen. Allein schon die Dialoge zwischen Paul und seinem Vater Irving, in dem ihm sein Vater in einer trau­ma­ti­sie­renden Nacht nicht nur die poli­ti­sche Dimension seines Handelns demons­triert, sondern auch sein privates, fami­liäres Dilemma erklärt, oder wie Paul von seinem Großvater Aaron, der selbst eine schwer nach­zu­voll­zie­hende Ambi­va­lenz bewiesen hat, indem er den Wechsel zu Pauls Privat­schule überhaupt erst ermö­g­lichte, gleich­zeitig aber von seinem Enkel eine gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Resilienz einfor­dert, um Rassismus schon im Kern auszu­he­beln, ist nicht nur schau­spie­le­risch ein Hoch­ge­nuss.

Denn Gray zeigt dadurch und auch in zahl­rei­chen anderen, ruhigen, sugges­tiven Einstel­lungen, die von einer flir­renden Poesie durch­drungen sind (Kamera: Darius Khondji), dass Politik immer in der Familie beginnt, dass fami­liäres Handeln immer auch ein Spie­gel­bild natio­nalen Handelns ist.

Dafür steht in diesem Fall nicht nur die Familie Trump, die hier nur in einer aber umso wich­ti­geren Neben­rolle auftaucht, und bereits in diesen frühen Jahren ihr demago­gi­sches Unwesen treibt und einmal mehr deutlich wird, dass die popu­lis­ti­sche, neoli­be­rale Politik Trumps tief in der jüngeren ameri­ka­ni­schen Geschichte verwur­zelt und kein Kind unserer Gegenwart ist. Gray zeigt aber vor allem die ganz normale ameri­ka­ni­sche Mittel­klasse mit all ihren Gespens­tern der Vergan­gen­heit und all den Blockaden und Träumen einer mehr als ambi­va­lenten Gegenwart, in der Gray für einen kurzen Moment noch einmal den Traum aufleuchten lässt, dass ein fried­li­ches Mitein­ander der verschie­denen Kulturen und Hier­ar­chien in einer kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft möglich ist, um ihn dann genauso kurz und friedlich auch wieder erlöschen zu lassen.

Das ist großes, das ist subtilstes Kino, das ganz ohne Lärm und Satire auskommt, um suggestiv von Menschen und ihren Schwächen zu erzählen und damit auch zu erzählen, was »uns« seit den 1980er Jahren verloren gegangen ist. Und natürlich, warum wir da stehen, wo wir gerade sind: Am Abgrund.

Verrat als Preis der Integration

Der Beginn des Endes der Welt: James Grays schöner, sehr autobiographischer Film Armageddon Time

James Gray erzählt fast immer Einwan­de­rer­ge­schichten, Geschichten von Familien und Milieus, in denen das Einwan­dern noch präsent ist, in den Älteren, in den Erzäh­lungen.
So auch hier.

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Man denkt bald an Antoine Doinel und Les quatre cents coups. Die Haupt­figur ist zwölf, wie Doinel. Er heißt Paul, ist Sohn einer jüdischen Familie, die ihren eigent­li­chen Nachnamen euro­päi­schen Ursprungs angli­siert hat (genau wie Regisseur Gray, Sohn ukrai­ni­scher Juden, deren Nachname ursprüng­lich Grayevski lautete).

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Früh­sommer 1980, ein neuer Lehrer kommt an die Schule. Anne Hathaway spielt die Mutter einer gebil­deten, mittel­stän­di­schen jüdischen Familie in Brooklyn, Brighton Beach. Man ist liberal, aber mit Schwarzen möchte man allzuviel doch nicht zu tun haben. Tisch­sitten lassen auch bei den Erwach­senen zu wünschen übrig, Anthony Hopkins spielt den Großvater, man redet durch­ein­ander über die Großtante in der CSSR, über Kibbuzzim, über die Camps. Der Großvater erinnert sich an Ellis Island, erzählt, wie die Urgroß­mutter in der Ukraine noch die anti­jü­di­schen Pogrome erlebte, und schärft dem Enkel ein: »Take care of yourself and remember your past.«

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Im Fernsehen sagt Ronald Reagan: »We could see Arma­geddon.« Das reale Ende der Welt beginnt mit diesen Sätzen. Der Vater sagt nur: »Terrible governor, what a schmock.« Er verpasst den Beginn einer Entwick­lung, die bis zur Präsi­dent­schaft Donald Trumps reicht.
James Gray spricht über die Wunden, die Amerika in dieser Zeit erlitten hat, aber er tut dies nicht mit Rhetorik, sondern mit einer klar­sich­tigen Einfach­heit, und um das alles zu verdeut­li­chen, verschiebt er die Politik in die Welt der Bildung und der Kunst. Arma­geddon Time funk­tio­niert wie ein Coming-of-Age-Film.

Großes Starkino und sensible Erzähl­kunst treffen hier zusammen. James Gray erzählt von seiner eigenen Kindheit im jüdisch-russi­schen Milieu von Brighton Beach. Aus der Perspek­tive eines 12-Jährigen erzählt er vom Erwach­sen­werden im Schatten der Wahl Ronald Reagans und des Endes aller progressiv-liberalen Träume Amerikas. Anne Hathaway spielt die Mutter, die am Fort­schritt weiter fest­halten mag und doch dem Sohn die Künst­ler­kar­riere auszu­reden sucht.

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Paul ist mit dem einzigen schwarzen Jungen seine Klasse befreundet, einem ziem­li­chen Tauge­nichts, und wird, als beide beim Joint-Rauchen auf dem Klo erwischt werden, von der öffent­li­chen Schule verwiesen. Gray baut auf diesen Elementen auf und webt eine komplexe Geschichte über den Rassismus in den Verei­nigten Staaten, die ihre Wurzeln in der ukrai­nisch-jüdischen Herkunft des Filme­ma­chers findet.
Die Eltern zwingen Paul, eine private Elite­schule aus der mehr­heit­lich rechts­kon­ser­va­tiven Szene zu besuchen. Deren Haupt­sponsor war Donald Trumps Vater, ein Bauun­ter­nehmer, der den Immo­bi­li­en­markt im Stadtteil Queens beherrschte (in dem James Gray tatsäch­lich selbst zur Schule ging). Auch die großar­tige Szene, in der Paul einen sehr primi­tiven Computer aus seiner Schule stiehlt, ist eine persön­liche Erin­ne­rung an die Kindheit des Regis­seurs. Und eine deutliche Anspie­lung auf Les quatre cents coups.

Arma­geddon Time ist also eine offen­sicht­liche Ausein­an­der­set­zung (und teilweise Abrech­nung) Grays mit seiner eigenen Kindheit, mit einem gewalt­tä­tigen Vater, mit einer doppel­bö­digen Erziehung, die Soli­da­rität und Heuchelei schmerz­haft verbindet. Vor allem bildet dieser Film einen entschei­denden Schlüssel, um praktisch das gesamte bisherige Kino dieses US-ameri­ka­ni­schen Autoren­fil­mers neu zu inter­pre­tieren, das gleich­zeitig von seinen Vater­fi­guren und der mora­li­schen Selbst­kritik besessen ist, das von den Codes der aufneh­menden und inte­grie­renden Mehrheit der Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft erzählt.

Während der Großvater als gütige Stimme des Gewissens fungiert, ist der Vater die Stimme des Prag­ma­tismus, die alte Gefäl­lig­keiten in Anspruch nimmt und dem Sohn schließ­lich erklärt, dass die wahre ameri­ka­ni­sche Moral darin besteht, sich selbst zu suchen, sich trotz Unge­rech­tig­keiten zu retten und die Wider­sprüche der Moral anzu­nehmen.

Immer wieder erzählt Gray davon, dass der mora­li­sche Verrat der Preis ist für die Inte­gra­tion in die Gesell­schaft, nach der man strebt. Eine sehr mutige, intime Selbst­ana­lyse.
Und zum ersten Mal gibt sich Grays Prot­ago­nist nicht mit der Inte­gra­tion zufrieden, sondern rettet sich am Ende moralisch selbst.

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Gebro­chene Nostalgie. Immer wieder mal kurze Fanta­sie­welten. Und dann natürlich die Wahl Reagans. Arma­geddon.
Am Ende hält Papa Trump eine Rede in der Schule: »You are ready to face the world. You are elite.«
Und Paul geht raus. School’s out.