Schweden/DK 2000 · 106 min. · FSK: ab 12 Regie: Lukas Moodysson Drehbuch: Lukas Moodysson Kamera: Ulf Brantas Darsteller: Lisa Lindgren, Michael Nyqvist, Gustaf Hammarsten, Anja Lundqvist u.a. |
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Kollektives Leben |
Anfang der 70er Jahre brach 1968 auch an den deutschen Schulen aus. Nein, gemeint sind nicht Bildungsreform, die Rahmenrichtlinien des Ludwig von Friedeburg und die Einführung von Mengenlehre und »Sexualkunde«, sondern »das kleine rote schülerbuch«, das damals beflissene Eltern ihren Kinder geschenkt haben.
»Alle erwachsenen sind papiertiger.«
»Alle erwachsenen sind papiertiger« lernte man schon auf den ersten Seiten; »Wie wird man high?« hieß ein Kapitel, oder »Du und die gesellschaft« – die allerdings süstem geschrieben wird, damit die armen Kleinen nicht durch das y unterdrückt werden. Ja, es muss alles schon wahnsinnig albern und überflüssig gewesen sein, damals. Ein »wundervolles Sackhüpfen« (Adriano Sofri), mehr nicht. Das ist ja gerade von heute aus gesehen nichts
wirklich Neues. Zwar mussten wir in letzter Zeit erfahren, dass 68 und die Jahre danach für den sittlichen Zustand einiger irgendwie auch ein bisschen gefährlich gewesen sind. Aber eigentlich gilt: »Alle 68er sind Papiertiger.«
Wie geht das eigentlich zusammen? Die Wertschätzung für »68« als kulturelle Revolte, als zweiter Gründungsakt nicht nur der westdeutschen Gesellschaft, und der Spott über deren politisches, angeblich auch intellektuelles Scheitern. Und dann
plötzlich der Ernst den man einem entgegenbringt, der sich auf der Straße mal mit einem Polizisten geprügelt hat.
Lukas Moodyssons Zusammen! fragt auch nach dieser Vereinbarkeit des Widersprüchlichen. Und weil er aus Schweden kommt, wirkt der Film, fern deutscher Erregungen, zunächst einmal angenehm gelassen. »Franco ist tot, Franco ist tot« – man singt und lacht, weil den alten Diktator das Ende ereilt hat, prostet einander zu, und nach nur wenigen Sekunden sind Zeit und Ort der Handlung geklärt: Man befindet sich im November 1975 im schwedischen Stockholm, im Kollektiv Zusammen. Die gute Laune wirkt ansteckend – aber darf man denn das, den Tod eines Menschen feiern? Wäre es kein Film, fände sich bestimmt schnell jemand aus der Fraktion der moralisch Gerechten, politisch Korrekten, der genau diese mangelnde Gewaltfreiheit des Denkens zum Thema harscher Kritik macht. Moodysson zeigt öfter solche Momente, in denen man sich bei einem Gefühl erwischt, das vielleicht nicht ganz zulässig ist, und nur wer glaubt, dass Gefühle immer recht haben, wird darüber einfach hinweggehen. Im Off läuft Abbas SOS: There were those happy days – auch das ist natürlich einer jener sarkastischen Kommentare, an denen dieser Film reich ist. Man erlebt die alltäglichen Folgen und Ausläufer der Revolte: Nach-68er-Verhältnisse, in denen darüber diskutiert wird, ob Spülen »bourgois« ist, oder Pippi Langstrumpf eine Kapitalistin. Gelegentlich latscht einer ohne Hose durch die Wohnung, ansonsten ist die Welt nicht weniger wohlgeordnet, als jene andere, gegen die man seit den 60er Jahren in den Gesellschaften des Westens rebellierte.
»Beobachte diese gesellschaft, untersuche, wie sie funktioniert, und fange dann an, sie zu beeinflussen.«
In seinem zweiten Spielfilm nach Fucking Åmål befasst sich der schwedische Regisseur mit den alltäglichen Folgen und Ausläufern der Revolte von 1968. Eine fast ein wenig zu repräsentative Gruppe wohnt in dieser Kommune am Stadtrand der schwedischen Hauptstadt: das Paar Göran und Lena, die eine »offene Beziehung« führen, Anna und Lasse, die zwar getrennt sind, aber schon um des gemeinsamen Kindes Tet (benannt nach der Tet-Offensive der Vietnamesen gegen die USA) weiter unter einem Dach leben. Während Lasse zu Anna zurückwill, hat sie kürzlich ihre lesbische Sexualität »entdeckt«, und festgestellt, dass sie »keine Männer mehr braucht.« Dann gibt es noch ein weiteres, bereits ökologisch angehauchtes Paar, einen Akademiker, der Mitglied einer marxistisch-leninistischen Splittergruppe ist, und als Stahlarbeiter in einer Fabrik jobbt, um »die Arbeiter zur Revolution anzuleiten.« Schließlich Klas, als bekennender Homosexueller auch hier in einer Outsiderstellung, zudem verliebt in den heterosexuellen Lasse. In dieses komplexe soziale Geflecht kommt zusätzliche Bewegung, als eines Tages Görans Schwester Elisabeth mit ihren kleinen Kindern Eva und Stefan in das Kollektiv einzieht. Die bisher angepasste Hausfrau hat ihren Mann verlassen, und entdeckt nun eine völlig neue Welt...
»Der lehrer ist der einzige, der so sitzt, dass er alle gesichter sehen kann.«
Moodysson erzählt aus dem Blickwinkel dieser Neuankömmlinge. Vor allem staunend, mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis erlebt man ein Lebensgefühl, das heute zunächst fremd und vergangen wirkt, zugleich eigene nostalgische Erinnerungen wachruft, und sich im Verlauf des Films als seltsam vertraut entpuppt. Zunächst streift der Blick über die Oberfläche: Man sieht Poster, Konsumgegenstände, erinnert sich, dass es mal eine Zeit ohne Computer und CD-Player gab, in der Kinder nicht mit Kriegsspielzeug spielen sollten, und darüber diskutiert wurde, ob Fernsehen nicht bürgerliche Ideologie sei. Längst vergessene Musik ist zu hören, und auch in deren Auswahl zeigt sich das geschmackliche Gespür eines Regisseurs, der über die Vorliebe für bestimmte Schallplatten feinere Haarrisse in den Beziehungen der Menschen, die Individualität im scheinbar so geschlossen Kollektiv sichtbar macht. Denn mit dem Blick eines Ethnographen des Alltags führt eine zurückhaltende, mitunter fast dokumentarische Kamera den Zuschauer Schritt für Schritt hinter die Oberfläche des Scheins, macht Strukturen und Rituale als solche sichtbar, entlarvt Lebenslügen, und zeigt so, dass die Wirklichkeit des Zusammenlebens der Kommune längst nicht immer deren sozialrebellischem Selbstverständnis einer Verwirklichung des »anderen Lebens« entspricht. Gewiß wärmt Moodysson manches altbackene 68-er-Klischee ein weiteres Mal auf, übertreibt, bringt lieber einen Gag zuviel, als auf einen guten Witz zu verzichten. Doch bei allen komödiantischen Elementen, trotz mancher – und filmisch immer zu rechtfertigender Übertreibungen – werden die Figuren und ihre Anliegen hier niemals denunziert. Moodysson überprüft eine Weltanschauung, konfrontiert das Ideal mit der Wirklichkeit, aber ohne mit einem von beiden allzu scharf ins Gericht zu gehen. Im Zweifel dominieren Toleranz, Nachsicht und das Gefühl für die Würde der einzelnen Charaktere.
»Kinder und erwachsene sind aber keine natürlichen feinde.«
Wirklich Partei ergreift der Regisseur nur für die Kinder. Wie schon in Fucking Åmål erweist sich Moodysson auch in Zusammen! als ein Filmautor mit besonderem Gespür für die Führung junger Akteure und für das Darstellen jugendlicher Innenansichten. Sie allein nimmt er ganz ernst, und ihnen gegenüber erscheinen die sonderbaren Spiele der Erwachsenen – ähnlich wie in Ang Lees The Ice Storm – manchmal wie ein Albtraum. Zu den schönsten Passagen gehören die Episoden, in denen der 10jährige Stefan seinen Vater sucht, oder sich mit dem ganz anders erzogenen Tet anfreundet, und –, »Tauschen wir, ich will Pinochet sein« – Folter spielt; ebenso jene, in denen die 13jährige Eva zunächst unter den Zuständen in ihrem neuen Zuhause bitter leidet, – weil es hier ist »wie in 'Die Kinder von Bullerbü': die Leute denken von allem das Gegenteil.« Später verliebt sie sich in den Sohn der spießigen Nachbarsfamilie. Die gelegentliche Sicht auf dessen Eltern bildet den Kontrast zum »Kollektiv« und erinnert nachdrücklich daran, wogegen die Linke auch in den 70-ern noch rebellieren musste.
»China ist kommunistisch, indien noch nicht.«
Bei allen klugen Beobachtungen ist Zusammen! aber weniger eine strenge Analyse mit dem Anspruch, letztgültige Wahrheiten zu vermitteln, als eine sanft-raffinierte Komödie. Am Ende lässt sich der Film als sehr zeitgemässes Plädoyer für individuelle Selbstfindung und gegen übertriebene Angepasstheit lesen. Nie wirkt diese Geschichte einer sehr menschlichen, unaufdringlichen Annährung dabei aufgesetzt, nie gibt sie vor, dass plötzlich alle Probleme gelöst seien. Und bei aller Ironie erinnert man sich doch wieder, dass 68 vielleicht ein paar Dimensionen mehr hatte, als es vielen heute recht ist. Das stand freilich auch schon im kleinen roten schülerbuch.