60. Filmfestspiele Cannes 2007
Blaue Nächte, blaue Finger |
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Praxis der Desillusionierung Zodiac | ||
(Foto: Warner Bros.) |
Die Kamera gleitet von rechts nach links, gelb-grüne Neonlichter und eine blaubeerfarbene Nacht beherrschen die Leinwand, eine Geschichtenerzählerin spricht aus dem Off und darunter erklingt Musik: »Try a little tenderness«… oder mal kurz das Titelthema aus In the Mood for Love. Wir sind in einem Film von Wong Kar-wai, und in mancher Hinsicht ist Wong Kar-wais neuer Film tatsächlich fast ein deja vue. Und doch ist diesmal alles anders: Der Starregisseur hat seine Heimat Hongkong verlassen, und bewegt sich durch die USA, genauer durch die Mythen des US-Kinos: der Highway und der Diner, New York und LA, Road Movie und Film Noir, und nicht zuletzt Edward Hopper – Wong meets Wim: ein Hauch von Wim Wenders schwebt durch diese Bilder, und noch nie war ein Wong Kar-wai-Film so uncool wie dieser.
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In My Blueberry Nights, mit dem am Mittwoch die Filmfestspiele von Cannes eröffnet wurden, erfindet sich Wong Kar-wai gewissermaßen neu, und bleibt doch ganz der Alte: Ein Regisseur, der musikalische Bilder bietet, dem poetischen Verweilen den Vorzug vor dem glatten Plot gibt, und ein Mann, der die Frauen liebt: Ein Film, in dem Natalie Portman und Rachel Weisz Hauptrollen
spielen, kann schon mal gar nicht so schlecht sein. Die Überraschung ist aber Jazzsängerin Norah Jones, die in ihrer ersten Kino-Hauptrolle weitgehend mit den Weltstars mithalten kann. Manchmal sieht man ihr zwar an, dass sie am Limit spielt, nichts mehr zuzusetzen hat.
Die Gefühle des Wong-territory sind mittlerweile vertraut, und dieser Film ist nicht, was Happy Together vor zehn Jahren
gewesen ist: Eine Neuerfindung, mit der der Regisseur nach Fallen Angels seinen Satz »Ich möchte keine Wong Kar-wai-Filme mehr machen« in die Tat umsetzte. Melancholie, Nacht, Neon, das kennen wir auch von ihm, und zugleich wie der Film daran erinnert, dass das Neon ursprünglich aus Amerika kam, wir überhaupt etwas erfahren über die US-Wurzeln des Hongkong-Kinos, eigentlich seine
italoamerikanischen Wurzeln – hier liegt übrigens eine der vagen, wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Wong und Zhang Yimou –, so belegt er auch umgekehrt, was wir schon immer wussten: die Gefühle des Hongkong-Kinos sind universal.
Eigentlich handelt My Blueberry Nights wie alle Wong-Filme von der Unfähigkeit zur Liebe, die ein allgemeines Problem ist. Zumindest die
Liebe moderner Art, die Liebe als Passion.
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Jude Law als Cafe-Besitzer hat im Film eine Sicherheits-Kamera im Laden, die permanent alles aufzeichnet. Und es ist ein bisschen sehr vorhersehbar, dass er dann irgendwann sagt, dass sie wie sein Tagebuch ist. Ab und an hat man das Gefühl, dass der Regisseur hier seiner eigenen Masche aufgesessen ist. Amerikas erweist sich da nicht als hilfreich. Wie vor ihm schon andere Regisseure – Wenders, Malle – arbeitet sich Wong derart angestrengt an den US-Mythen ab, dass beim Rest
die Disziplin fehlt.
»I need someone to talk to. Will you listen to me?« – »Of course. Come in.« Damit beginnt eine recht verlaberte erste halbe Stunde, bevor der Film aufbricht, und zu sich selbst findet. Zuwenig poetisch ist das, als fehlt gerade, was man an diesem Regisseur so schätzt. Und mehr als einmal denkt man: Wenn sie doch wenigstens chinesisch reden würden, wäre es schon um so vieles erträglicher.
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Auch ein zweiter der interessantesten Regisseure der Gegenwart ist hier mit einem neuen und irgendwie anderen Film vertreten: David Fincher. Schon eher eine Neuerfindung. Denn Zodiac über den gleichnamigen berühmten Serienkillerfall dementiert alle Erwartungen auf eine auch nur vage Anknüpfung an Finchers Se7en. Im Zentrum stehen die Jäger des Killers, Polizei und Medien. Ein zutiefst pessimistisches, aber überaus menschliches Drama der Desillusionierung: Wie Hitchcock in Vertigo wird auch Fincher San Francisco zu einem Ort, in dem die verschiedenen Zeichen sich bespiegeln, aber keinen schlüssigen Sinn ergeben.
Einige taten hier direkt nach
dem Kino ihre Enttäuschung kund. Aber man muss vielleicht mal kurz innehalten, und sich überlegen, was man alles schlecht und falsch machen könnte, bei diesem Film, um sich klarzumachen, was Fincher alles gut und richtig macht. Zodiac ist ein in seiner Nüchternheit toller Film, freilich eher ein philosophischer Essay, als ein reißerischer Plot, eher ein Dokudrama, als ein Thriller.
Finchers Filme hatten bisher immer eine stupende Interpretation zur Gegenwart geboten, etwas präzise auf den Punkt gebracht. Diesmal wieder. Es ist die Praxis der Desillusionierung, von der Zodiac handelt. Er zeigt, dass eben nicht, wie in Se7en der Gang zur Bibliothek Aufklärung bringt, dass die
Welt eben kein Text ist, der sich in jedem Fall decodieren lässt.
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Fünf Filme aus dem Wettbewerb kommen aus Osteuropa – die Österreicher wollen wir hier mal nicht dazu zählen, und Fatih Akin auch nicht –, und obwohl es uns schwerfällt, all unsere gesammelten Vorurteile gegen das Kino der ehemalige Ostblockstaaten zu ignorieren, taten wir genau das, und gingen hinein. Zweimal ein Fehler, denn nach jeweils etwa zwei bis drei Minuten sind die Vorurteile wieder da.
Für das übliche Depressionskino steht der erste der beiden Filme, 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) aus Rumänien, von Cristian Mungiu. Man sieht dreckige häßliche Menschen an dreckigen hässlichen Schauplätzen dreckige hässliche Dinge tun: Zwei junge Frauen, eine will abtreiben, obwohl sie schon im fünften Monat ist. Der böse Kommunismus
– alles spielt 1987 – sorgt eben auch für moralische Verkommenheit. Und am Schluß stößt uns die Kamera dann ganz ganz lange ins blutige Fleisch des frischabgetrieben Fötus, damit wir uns auch wirklich Gedanken machen. Ein Film, der nichts zu sagen hat, außer wie scheiße es den Leuten dort geht, und dass sie doch auch irgendwie Menschen sind. Leider stimmt beides.
Das Schlimmste daran ist nicht die kaum versteckte Pädagogik und der unverhüllte Moralismus des Ganzen,
sondern dass er so perfekt unsere Erwartungen bedient. Oder aus welchem Land würde man solche Filme eher erwarten, als aus Rumänien?
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Auch Andrey Zvyagintssev, der vor drei Jahren unverdient mit The Return in Venedig den Goldenen Löwen gewann, enttäuschte unsere Erwartungen ans russische Kino kein bisschen. Sein neuer Film, The Banishment, bediente die zweite Seite der osteuropäischen Medaille: Das übliche Prätentionskino. Wieder geht es um Familie und Familienwerte, vor allem aber um die
russische Seele. Darum ist das zwar ein überaus konservativer Film, aber anders, als es Wolfgang Schäuble, Paul Nolte und Wolfram Weimer gefallen würde.
Ein Paar mit zwei Kindern, eine Landpartie – in sein Vaterhaus natürlich. Und natürlich bricht in der äußeren Natur nun auch die innere der Menschen ganz ungeschützt hervor – wir sind schließlich in Russland. Sie also eröffnet ihm, dass sie schwanger sei und zwar von einem anderen. Wir erfahren zwar dass das nicht stimmt,
dass das Kind sehr wohl von ihm ist, und sie ihm auf diese Weise nur durch die Blume das Ende ihrer Liebe eröffnen will. Oder, dass sie vielleicht einfach Depressionen hat. Jedenfalls zwingt er sie zur Abtreibung und sie bringt sich um…
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Am Mittwochmorgen schon kam Kollege Schnelle mit einer Verwundung ins Kino. Ausgerechnet sein kleiner Finger war so blau, wie die Nächte in Wong Kar-wais Eröffnungsfilm. Ob das als Hommage an den Lieblingsregisseur gedacht war. Oder erlebt jeder irgendwann seine blue finger nights?