18.05.2007
60. Filmfestspiele Cannes 2007

Blaue Nächte, blaue Finger

ZODIAC
Praxis der Desillusionierung Zodiac
(Foto: Warner Bros.)

Im Reich der Zeichen: Zweierlei Neuerfindung, Depressions- und Prätentionskino, Wong meets Wim

Von Rüdiger Suchsland

Die Kamera gleitet von rechts nach links, gelb-grüne Neon­lichter und eine blau­beer­far­bene Nacht beherr­schen die Leinwand, eine Geschich­ten­er­zäh­lerin spricht aus dem Off und darunter erklingt Musik: »Try a little tender­ness«… oder mal kurz das Titel­thema aus In the Mood for Love. Wir sind in einem Film von Wong Kar-wai, und in mancher Hinsicht ist Wong Kar-wais neuer Film tatsäch­lich fast ein deja vue. Und doch ist diesmal alles anders: Der Star­re­gis­seur hat seine Heimat Hongkong verlassen, und bewegt sich durch die USA, genauer durch die Mythen des US-Kinos: der Highway und der Diner, New York und LA, Road Movie und Film Noir, und nicht zuletzt Edward Hopper – Wong meets Wim: ein Hauch von Wim Wenders schwebt durch diese Bilder, und noch nie war ein Wong Kar-wai-Film so uncool wie dieser.

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In My Blueberry Nights, mit dem am Mittwoch die Film­fest­spiele von Cannes eröffnet wurden, erfindet sich Wong Kar-wai gewis­ser­maßen neu, und bleibt doch ganz der Alte: Ein Regisseur, der musi­ka­li­sche Bilder bietet, dem poeti­schen Verweilen den Vorzug vor dem glatten Plot gibt, und ein Mann, der die Frauen liebt: Ein Film, in dem Natalie Portman und Rachel Weisz Haupt­rollen spielen, kann schon mal gar nicht so schlecht sein. Die Über­ra­schung ist aber Jazz­sän­gerin Norah Jones, die in ihrer ersten Kino-Haupt­rolle weit­ge­hend mit den Weltstars mithalten kann. Manchmal sieht man ihr zwar an, dass sie am Limit spielt, nichts mehr zuzu­setzen hat.
Die Gefühle des Wong-territory sind mitt­ler­weile vertraut, und dieser Film ist nicht, was Happy Together vor zehn Jahren gewesen ist: Eine Neuer­fin­dung, mit der der Regisseur nach Fallen Angels seinen Satz »Ich möchte keine Wong Kar-wai-Filme mehr machen« in die Tat umsetzte. Melan­cholie, Nacht, Neon, das kennen wir auch von ihm, und zugleich wie der Film daran erinnert, dass das Neon ursprüng­lich aus Amerika kam, wir überhaupt etwas erfahren über die US-Wurzeln des Hongkong-Kinos, eigent­lich seine italo­ame­ri­ka­ni­schen Wurzeln – hier liegt übrigens eine der vagen, wenigen Gemein­sam­keiten zwischen Wong und Zhang Yimou –, so belegt er auch umgekehrt, was wir schon immer wussten: die Gefühle des Hongkong-Kinos sind universal.
Eigent­lich handelt My Blueberry Nights wie alle Wong-Filme von der Unfähig­keit zur Liebe, die ein allge­meines Problem ist. Zumindest die Liebe moderner Art, die Liebe als Passion.

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Jude Law als Cafe-Besitzer hat im Film eine Sicher­heits-Kamera im Laden, die permanent alles aufzeichnet. Und es ist ein bisschen sehr vorher­sehbar, dass er dann irgend­wann sagt, dass sie wie sein Tagebuch ist. Ab und an hat man das Gefühl, dass der Regisseur hier seiner eigenen Masche aufge­sessen ist. Amerikas erweist sich da nicht als hilfreich. Wie vor ihm schon andere Regis­seure – Wenders, Malle – arbeitet sich Wong derart ange­strengt an den US-Mythen ab, dass beim Rest die Disziplin fehlt.
»I need someone to talk to. Will you listen to me?« – »Of course. Come in.« Damit beginnt eine recht verla­berte erste halbe Stunde, bevor der Film aufbricht, und zu sich selbst findet. Zuwenig poetisch ist das, als fehlt gerade, was man an diesem Regisseur so schätzt. Und mehr als einmal denkt man: Wenn sie doch wenigs­tens chine­sisch reden würden, wäre es schon um so vieles erträg­li­cher.

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Auch ein zweiter der inter­es­san­testen Regis­seure der Gegenwart ist hier mit einem neuen und irgendwie anderen Film vertreten: David Fincher. Schon eher eine Neuer­fin­dung. Denn Zodiac über den gleich­na­migen berühmten Seri­en­kil­ler­fall demen­tiert alle Erwar­tungen auf eine auch nur vage Anknüp­fung an Finchers Se7en. Im Zentrum stehen die Jäger des Killers, Polizei und Medien. Ein zutiefst pessi­mis­ti­sches, aber überaus mensch­li­ches Drama der Desil­lu­sio­nie­rung: Wie Hitchcock in Vertigo wird auch Fincher San Francisco zu einem Ort, in dem die verschie­denen Zeichen sich bespie­geln, aber keinen schlüs­sigen Sinn ergeben.
Einige taten hier direkt nach dem Kino ihre Enttäu­schung kund. Aber man muss viel­leicht mal kurz inne­halten, und sich überlegen, was man alles schlecht und falsch machen könnte, bei diesem Film, um sich klar­zu­ma­chen, was Fincher alles gut und richtig macht. Zodiac ist ein in seiner Nüch­tern­heit toller Film, freilich eher ein philo­so­phi­scher Essay, als ein reiße­ri­scher Plot, eher ein Dokudrama, als ein Thriller. Finchers Filme hatten bisher immer eine stupende Inter­pre­ta­tion zur Gegenwart geboten, etwas präzise auf den Punkt gebracht. Diesmal wieder. Es ist die Praxis der Desil­lu­sio­nie­rung, von der Zodiac handelt. Er zeigt, dass eben nicht, wie in Se7en der Gang zur Biblio­thek Aufklärung bringt, dass die Welt eben kein Text ist, der sich in jedem Fall deco­dieren lässt.

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Fünf Filme aus dem Wett­be­werb kommen aus Osteuropa – die Öster­rei­cher wollen wir hier mal nicht dazu zählen, und Fatih Akin auch nicht –, und obwohl es uns schwer­fällt, all unsere gesam­melten Vorur­teile gegen das Kino der ehemalige Ostblock­staaten zu igno­rieren, taten wir genau das, und gingen hinein. Zweimal ein Fehler, denn nach jeweils etwa zwei bis drei Minuten sind die Vorur­teile wieder da.
Für das übliche Depres­si­ons­kino steht der erste der beiden Filme, 4 luni, 3 saptamâni si 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) aus Rumänien, von Cristian Mungiu. Man sieht dreckige häßliche Menschen an dreckigen häss­li­chen Schau­plätzen dreckige hässliche Dinge tun: Zwei junge Frauen, eine will abtreiben, obwohl sie schon im fünften Monat ist. Der böse Kommu­nismus – alles spielt 1987 – sorgt eben auch für mora­li­sche Verkom­men­heit. Und am Schluß stößt uns die Kamera dann ganz ganz lange ins blutige Fleisch des frisch­ab­ge­trieben Fötus, damit wir uns auch wirklich Gedanken machen. Ein Film, der nichts zu sagen hat, außer wie scheiße es den Leuten dort geht, und dass sie doch auch irgendwie Menschen sind. Leider stimmt beides.
Das Schlimmste daran ist nicht die kaum versteckte Pädagogik und der unver­hüllte Mora­lismus des Ganzen, sondern dass er so perfekt unsere Erwar­tungen bedient. Oder aus welchem Land würde man solche Filme eher erwarten, als aus Rumänien?

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Auch Andrey Zvyag­int­ssev, der vor drei Jahren unver­dient mit The Return in Venedig den Goldenen Löwen gewann, enttäuschte unsere Erwar­tungen ans russische Kino kein bisschen. Sein neuer Film, The Banish­ment, bediente die zweite Seite der osteu­ropäi­schen Medaille: Das übliche Präten­ti­ons­kino. Wieder geht es um Familie und Fami­li­en­werte, vor allem aber um die russische Seele. Darum ist das zwar ein überaus konser­va­tiver Film, aber anders, als es Wolfgang Schäuble, Paul Nolte und Wolfram Weimer gefallen würde.
Ein Paar mit zwei Kindern, eine Land­partie – in sein Vaterhaus natürlich. Und natürlich bricht in der äußeren Natur nun auch die innere der Menschen ganz unge­schützt hervor – wir sind schließ­lich in Russland. Sie also eröffnet ihm, dass sie schwanger sei und zwar von einem anderen. Wir erfahren zwar dass das nicht stimmt, dass das Kind sehr wohl von ihm ist, und sie ihm auf diese Weise nur durch die Blume das Ende ihrer Liebe eröffnen will. Oder, dass sie viel­leicht einfach Depres­sionen hat. Jeden­falls zwingt er sie zur Abtrei­bung und sie bringt sich um…

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Am Mitt­woch­morgen schon kam Kollege Schnelle mit einer Verwun­dung ins Kino. Ausge­rechnet sein kleiner Finger war so blau, wie die Nächte in Wong Kar-wais Eröff­nungs­film. Ob das als Hommage an den Lieb­lings­re­gis­seur gedacht war. Oder erlebt jeder irgend­wann seine blue finger nights?