60. Filmfestspiele Cannes 2007
Zunehmender Halbmond |
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Als Favorit gehandelt: Auf der anderen Seite von Fatih Akin | ||
(Foto: Pandora) |
Ein Vater macht einen Fehler, der das Leben mehrerer Menschen verändert, sein Sohn versucht ihn wieder gut zu machen. Eine Tochter sucht vergeblich ihre Mutter und findet schließlich eine Ersatzfamilie, vielleicht, aber das kann man nur ahnen, auch einen Geliebten. Eine Mutter entfremdet sich von ihrer Tochter, doch als die dann tot ist, erkennt sie in der Trauer, wie ähnlich die Tote ihr war und übernimmt deren Lebensaufgabe, führt sie zu Ende. Wenn man das liest, könnte man den
neuen Film von Fatih Akin für überladen und schwerblütig und auch für ein bisschen konstruiert halten. Doch bei allem Ernst und Facettenreichtum des Stoffes, bei aller Härte, mit der er erzählt ist, ist Auf der anderen Seite ein federleichter, überaus klarer Film geworden. Filmisch ist dies Akins bester Film. Dem Film fehlt ganz der Überdruck von Gegen die Wand, und er ist noch selbstbewusster als dieser – gelassen im Umgang mit seinen Mitteln, mutig sowohl in der Konstruktion der Geschichte, die in vieler Hinsicht an Pedro Almodovars Erfolgsfilm Alles über meine Mutter erinnert – auch darin ging es um Verlust und Mut zum Leben, um Identität und
Ersatzfamilien –, als auch in den politischen Themen, die er berührt.
Denn dieser Schicksalsreigen von Liebe und Zufall, erzählt nicht allein von drei Familien, deren Geschichte auf verschiedene Weise miteinander verwoben ist. Er handelt auch vom Hin- und Hergerissensein zwischen Herkunft und Zukunft, vom deutschen Asylrecht und vom politischen Widerstand in der Türkei. Eine der Hauptfiguren ist eine pro-kurdische Aktivistin – so was sieht man im türkischen
Kino normalerweise kaum. Ein anderer ist ein Intellektueller, der Goethe lehrt, und seiner neuen Heimat Türkei gegenüber ein Gemisch aus romantischer Sehnsucht und Schuldgefühl entwickelt. Hanna Schygulla schließlich spielt eine sympathische Ex-Hippie als relaxte Widergängerin ihrer frühen Fassbinder-Rollen.
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Die Bewegung des Filmemachers Fatih Akin ist bemerkenswert. Sein erster Film spielte noch ganz in Deutschland – und seitdem nähert er sich mit jedem weiteren der Türkei an. Wieder reist einer aus Deutschland weg in die Türkei, und bleibt dort. Diesmal ist es unter anderem sogar eine Deutsche ohne türkische Wurzeln. Auf der anderen Seite ist klar Akins türkischster Film – obwohl der
Blick auf die Türkei und die dortigen Verhältnisse klar einer von Außen bleibt. Akins Blick auf die Türkei ist zum Teil etwas touristisch. Und wenn man schon ein paar Mal in Istanbul war, die türkische Filmszene zumindest oberflächlich kennt, dann sieht man auch, dass dies ein Kumpelfilm ist, dass Akin sehr viele Freunde und Bekannte, all die, mit denen er bei Istanbul-Aufenthalten so herumhängt, in Nebenrollen mitspielen lässt.
Einige Szenen sind allzu plakativ inszeniert, etwa
jene, in der die junge Lotte in Istanbul von ein paar Kindern erschossen wird. Ansonsten findet Akin für diese Story über Widerstand und Grenzüberschreitung eine schöne, ruhige Bildsprache – mit Auf der anderen Seite ist dieser Regisseur offenkundig dort angekommen, wo er als Filmemacher hinwollte: Im Wettbewerb von Cannes und in der idealen Position eines Mittlers zwischen den
Kulturen, der nie moralisiert und in Cannes gleichermaßen an genuin deutscher und genuin türkischer Regisseur wahrgenommen wird.
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Türkisches Kino at its best in allen seinen Qualitäten konnte man in der „Quinzaine“ erleben: Yumurta, der dritte Film von Semih Kaplanoglu, dessen Film Angel’s Fall vor einem Jahr in der Berlinale lief. Man freut sich für Regisseur und Sektion und fragt sich dann doch, warum
solch' ein Film nicht im Wettbewerb zu sehen ist. Denn Yumurta überragt ganz eindeutig den letzten Film von Nuri Bilge Ceylan, der Regisseurs-Ikone des türkischen Gegenwartskinos. Für mich persönlich ist Kaplanoglu, ein Generationsgenosse von Ceylan, der deutlich interessantere der beiden und der noch aufsteigende Stern des türkischen Gegenwartskinos.
Der Titel bedeutet auf
Deutsch „Eier“ und ist der zuerst fertig gestellte, aber chronologisch dritte (!!) Teil einer Trilogie, deren zweiter Film Milch, der erste Honig heißen werden, und die Hauptfigur Yussuf als 18-Jährigen, bzw. als Kind zeigen werden. In Yumurta sieht man ihn als
einen nicht mehr ganz jungen urbanen Intellektuellen, vielleicht um die 40, dessen Träume sich nicht ganz erfüllt haben. Er hat ein Buch mit Gedichten veröffentlicht und führt nun eine Buchhandlung. Als seine Mutter stirbt, kehrt er für ein paar Tage in sein Heimatdorf aufs Land zurück. Alle typische Motive des türkischen Kinos, die man auch schon von Ceylan oder Demirkubuz kennt.
Doch die Handlung entwickelt sich gelassener, weniger weinerlich, zukunftsorientierter und
streckenweise ironisch. Yussuf lernt Ayla kennen, seine Cousine zweiten Grades. Sie träumt davon die Heimatstadt zu verlassen und zu studieren. Sie verbringen ein paar Tage, fahren einmal in einen Nachbarort, besuchen Verwandte. Am Ende werden sie ein Paar.
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Das entwickelt schnell einen großen poetischen Sog. Kaplanoglu verfügt über eine seltene Fähigkeit, in kleinsten Andeutungen, quasi zwischen den Bildern alles zu erzählen. So weiß man im Prinzip schon nach der ersten Begegnung, das Yussuf und Ayla für einander bestimmt sind. Aber erst in der letzten Szene wird es klar, und noch da bleibt alles angedeutet. Ayla bringt ihm einfach ein Ei aus dem Hühnerstall. Eine großartige Kamera findet Bilder voller Harmonie und von den Zeitläufen abgehobener Ewigkeit, eine Art Rückkehr zur Natur – die aber immer beiläufig bleibt, nie prätentiös oder schicksalsschwer daher kommt. Das erinnert an Téchiné wie an Renoir, auf dessen The River in einigen Szenen angespielt wird. Und wenn man in Bildern loben will, könnte man sagen, dass Ceylan der Angelopoulos des türkischen Kinos ist, Kaplanoglu aber sein Renoir.
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Noch ein Wort zu Bela Tarr und The Man From London. Zwar bin ich gestern, wie gesagt, nach 40 Minuten aus dem Film herausgegangen. Aber das war vor allem der eigenen Unfähigkeit geschuldet, sich angemessen zu konzentrieren und sich auf den Film einzulassen. Man tut solchen Werken keinen Gefallen, wenn man sie nach einer Woche zeigt – so ein Film müsste am Anfang laufen. Dieser Regisseur weiß, was er tut, und er tut genau das, was er will. The Man from London ist ein langweiliger Film, und die Film Noir Verweise scheinen mir aufgesetzt und prätentiös, vor allem aber nicht zu funktionieren. Trotz der Simenon-Vorlage, die ich auch nicht kenne – allerdings muss ein Film auch ohne solche Kenntnis funktionieren.
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Die schlechtesten Wertungen bei den französischen Kritikern hat übrigens der zuletzt auch erwähnte Russe The Banishment erhalten (aber immerhin auch eine Höchstwertung), und Soom von Kim-Ki-duk, dem früheren koreanischen Regiegenie, den wir mit sicherem Instinkt geschwänzt haben – denn nichts ist schlimmer als eine enttäuschte Liebe – aber noch nachholen müssen – denn wissen will man’s natürlich ja trotzdem.
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Dass das deutsche Kino an der Croisette nicht zu übersehen ist liegt aber nicht allein an Fatih Akin. Auch in der »Quinzaine«, der konsequent dem mutigen Autorenfilm vorbehaltenen Sektion, und in „Un certain regard“ gibt es je einen Film, schließlich läuft Volker Schlöndorffs Ulzhan außer Konkurrenz und das bemerkenswerte Kammerspiel »Halbe Stunden« von Nicolas
Wackerbarth in der „Cinefondation“.
Für die meiste Furore sorgte aber in der „Quinzaine“ Jan Bonnys Gegenüber. Dieses Debüt eines Kölner Filmstudenten ist ein überaus ungewöhnliches Drama, das hinter der Fassade normaler ehelicher Abnutzung eine Hölle freilegt. Matthias Brandt glänzt einmal mehr in der überaus facettenreichen Darstellung eines schwachen »starken
Mannes«, und auch Viktoria Trauttmannsdorff besticht mit Intensität. Eine nervöse Handkamera spiegelt seelische Zersplitterungen.
Robert Thalheim, der mit Netto bekannt wurde schaffte den Sprung ins Kinomekka mit der Dramatisierung eigener Erlebnisse als Zivildienstleistender in der Auschwitz-Gedenkstätte. Am Ende kommen Touristen erzählt von der Banalisierung des Terrors im Alltag der Holocaust-Industrie, aber wie Akin zugleich auch von einem Erwachsenwerden zwischen Schuld und Zukunft – la condition allemande?
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Cannes, wir haben das nicht vergessen, ist ja nicht allein eine Veranstaltung für die Filmkunst, sondern eine große Messe. In den täglichen Dailys und vor allem an den unzähligen Firmen-Ständen im Bauch des Palais du Festival kann man sehen, was es alles so für Filme gibt, die wir nicht kennen. Und was alles so produziert wird: Zum Beispiel – auch dies ein Beitrag zur condition allemande – Eichnann mit Thomas Kretschmann in der Hauptrolle und mit Franka Potente. Auf dem Markt verpasst haben wir leider The Golden Nazi Vampire Of Absam: Part Ii – The Secret Of Kottlitz Castle, eine trash-horror-action-comedy, die offenbar in die Tat umsetzt, was ich in meiner Kritik zu Pans Labyrinth geschrieben hatte. Das kommt davon.
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Liberté, Egalité, Fraternité – die französischen Revolutionswerte haben allen neuen alten 68-er-Debatte von Monsieur Sarkozy zum Trotz weiterhin Geltung. Egalité ohne Fraternité erlebte immerhin sogar Olivier Assayas. Er kam nämlich nicht in die Party zur Quinzaine-Eröffnung hinein. Seine Freundin aber schon, die ist schließlich Regisseurin eines Quinzaine-Films. Ein Satz, mit dem man in Deutschland noch in fast jede Party reinkommt: »Wissen Sie eigentlich nicht, wenn Sie vor sich haben?«