Cinema Moralia – Folge 3
Helle Bilder, dunkle Herzen |
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Berlin Alexanderplatz |
»Jetzt mal ohne Scheiß«, sagt Heike, und erzählt dann davon, wie sie sich letztes Wochenende Rainer Werner Fassbinders Berlin Alexanderplatz im Kino angeguckt hat, wohlgemerkt: den ganzen Film, 15 Stunden am Stück, gemeinsam mit der 17-jährigen Tochter und mit ihrer Mutter. »Grad bei meiner Mutter dacht ich… Ich hab nie im Leben gedacht, dass die durchhält.«
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Der lange in den Archivkellern verschwundene 15-teilige, vom WDR produzierte TV-Film lief in der neuen komplett restaurierte Fassung nun in Köln beim Medienforum und wurde so komplett auch bei der Berlinale im Februar nicht gezeigt, gleichzeitig ist er auch auf DVD erschienen (SZ-Cinemathek, 49.90 Euro). Es war seinerzeit eines der ungewöhnlichsten Projekte der deutschen
Fernsehgeschichte, und es war, wenn das stimmt, was heute nach fast 30 Jahren darüber zu erfahren ist, das »eigentliche Vermächtnis« (FAZ) des Regisseurs: Fassbinders 1980 entstandene Verfilmung von Alfred Döblins 1929 erschienenem, schnell Bestseller gewordenem Roman.
Sieht man den Film heute wieder, erstaunt man als erstes darüber, was damals im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Hauptsendezeit noch möglich war: Durchaus unterhaltsam und herausragend besetzt, ist
»Berlin Alexanderplatz« doch auch zweifellos ein sehr anspruchsvolles Stück Fernsehen, ein Kunstwerk, das sich nur dem erschließt, der aufmerksam ist, der sich auf die Bildsprache des Regisseurs und die Wortgewalt der ziemlich werkgetreu verfilmten Vorlage einlässt.
Zur Erinnerung: Döblins Roman handelt von Franz Biberkopf, einem gutherzigen, aber gewalttätigen Gelegenheitsarbeiter, Zuhälter und Totschläger aus verlorener Ehre. Nach verbüßter Haft wird er aus dem
Zuchthaus Tegel in eine Freiheit entlassen, oder eher geworfen, in der er nie wirklich ankommt. Er verliebt sich in die naiv-muntere, irgendwie auch raffinierte Mieze. Wie ein reiner, mitunter allerdings recht brutaler Tor wandert er nun durch’s Berlin der späten Weimarer Republik, trifft auf Nutten, Kriminelle, Drogensüchtige und Kapitalisten, und bleibt doch immer ein Fremder. Ein proletarischer Hiob auch, auf den die Schicksalsschläge reihenweise einprasseln.
Wie
Döblins Buch, das noch immer als der deutsche Großstadtroman schlechthin gilt, und das Zeitgenosse Walter Benjamin in seiner Besprechung »Krisis des Romans« 1930 als »die äußerste, schwindelnde, letzte, vorgeschobenste Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans« bezeichnet hatte, quasi als Schlussstein einer Gattung, ist auch Fassbinders Verfilmung ein Panorama aus ehemaligen Frontsoldaten und zukünftigen Nazis, idealistischen Arbeiterkämpfern und realistischen
Angestellten, gefallenen Frauen und opportunistischen Aufsteigern. Zugleich ein Kaleidoskop der Metropole, voll widersprüchlicher, in Montagetechnik zusammengefügter Facetten, ein Panoptikum des universalen Schreckens, getränkt in ein pessimistisches, aus unerfüllter Liebe verzweifeltes Menschenbild, das rückblickend auch als Abgesang erscheint, am Vorabend der Nazi-Diktatur.
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Als Fassbinders Serie Ende 1980 als 13-Teiler im Fernsehen ausgestrahlt wurde, schrieb sie Fernsehgeschichte und sorgte für heftigste Kontroversen. Der Boulevard, allen voran die Springer-Presse, hetzte gegen den als »links« geltenden Fassbinder und seinen Film: »Zu dunkel« sei der Film, das war der technische Vorwurf, aber vor allem sei der Film zu ordinär, zu gewalttätig, es enthalte »Schmuddelsex« (was ist das eigentlich?) und zeige einen Kriminellen als Hauptfigur – und man fragt sich heute beim Wiederlesen, ob die, die so etwas schrieben, es eigentlich selber glaubten, und nicht wenigstens merkten, dass all diese Vorwürfe, wenn schon, dann auch dem Roman gelten müssten. Fassbinders Wohnung jedenfalls musste sogar zeitweise unter Polizeischutz gestellt werden. Eine Ausstellung der Berliner »Kunstwerke« stellte diese Kontroverse in den vergangenen Monaten umfangreich dar.
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Fassbinders Verfilmung war übrigens nicht die erste. Bereits 1931 hatte Phil Jutzi einen Film gedreht, der ganz auf seinen Star Heinrich George in der Rolle des Biberkopf setzte. Im Gegensatz zum Roman, der ein Bestseller wurde, war dieser Film kein Erfolg. 1931 kritisierte Siegfried Kracauer die Verfilmung, weil sie Döblins Absicht in ihr Gegenteil verkehrt habe: Der an sich ideale Filmstoff sei dem Starkult geopfert worden. Man habe den Focus einseitig auf Heinrich George gelegt, während die Stadt und die montageartige Erzählweise des Romans zur bloßen Staffage verkommen seien.
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In den letzten Wochen entzündete sich im Vorfeld der 25. Wiederkehr von Fassbinders Todestag nun ein heftiger Streit, der vor allem um die restaurierte Fassung des Films und die für sie verantwortliche Berliner »Fassbinder Foundation« kreiste. Vier Jahre nach Fassbinders Tod 1982 gründete Fassbinders Mutter Lilo Eder die Berliner Foundation, um Nachlass und Rechte des Regisseurs zu verwalten.
Von
»handwerklichen Mängeln« ist nun im Zusammenhang mit Berlin Alexanderplatz die Rede, der Film sei in der Restauration ungebührlich aufgehellt und somit verfälscht worden, lauten die Vorwürfe. Sie wurden in einer gemeinsamen Erklärung von nicht weniger als 25 ehemaligen Mitarbeitern und Freunden Fassbinders erhoben, darunter Regisseur Werner Schroeter, Kameramann Michael
Ballhaus und Fassbinders frühere Ehefrau, die Schauspielerin und Sängerin Ingrid Caven. Die Unterzeichner forderten den Rücktritt der Foundation-Leiterin Lorenz. Lorenz war in Fassbinders späten Jahren dessen Cutterin der letzten 11 Filme, und ist als Erbin von Fassbinders Mutter Lilo Eder, seit 1992 indirekte Alleinerbin des Regisseurs. Zusätzlichen Zündstoff liefert der Debatte Lorenz' Behauptung, sie sei mit Fassbinder in den USA verheiratet gewesen – Beweise dafür
hat sie bisher nicht vorgelegt, und deutsche Behörden erkennen diese »Ehe« nicht an. Ein wenig wirkt alles also von außen wie ein Rosenkrieg, ein Streit unter eifersüchtigen Witwen, Groupies und Mitarbeitern. Zweifellos spielen Eitelkeiten und gegenseitiges Beleidigtsein hier eine Rolle.
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Doch darüber hinaus bleibt ein harter Kern an Vorwürfen, der auch dann seriös geprüft werden muss, wenn man Lorenz' Verdienste um die Pflege von Fassbinders Nachlass für unbestreitbar hält. Die eine Kritik richtet sich auf die Rechtsform der »Fassbinder-Foundation«, die nur dem Anschein nach eine Stiftung, tatsächlich aber eine GmbH ist – »Es gibt absolut keine Kontrolle, was Lorenz tut«, so Caven im Gespräch auf Nachfrage, »theoretisch kann sie die Filme aus dem Fenster
werfen. … Man kann rechtlich eigentlich nichts sagen, weil sie es ja geschafft hat, Erbin zu sein. Zwar hat sie es nicht geschafft mit dieser sogenannten Ehe, die wahrscheinlich überhaupt nicht besteht – mit dieser Lüge hat sie es nicht geschafft. … Eine Stiftung? Da denkt man doch, das ist gemeinnützig.«
Der zweite Vorwurf kreist um die restaurierte Fassung von Berlin Alexanderplatz, die Lorenz in Zusammenarbeit mit Fassbinders Kameramann Xaver Schwarzenberger verantwortet hatte. Dass deren Bilder im Vergleich zur Ursprungsfassung deutlich aufgehellt wurden, ist unbestritten. Lorenz und Schwarzenberger betonen, die jetzige Farbpalette entspräche Fassbinders Absicht, 1980 hätten dazu nur die technischen Mittel gefehlt.
Die Gegenseite spricht von Verfälschungen »aus Gründen besserer Verkäuflichkeit«. »Was ist
denn gut, wenn man sogenannte ›verbessernde Eingriffe‹ vornimmt?«, so Caven, »Wieso kann ein Kameramann unwidersprochen behaupten, er wisse, wie Rainer das gern gehabt hätte? Er hat die Dunkelheit verteidigt – das war sein Stil, ein ästhetisches Prinzip, das dem Roman und seiner vornationalsozialistischen Atmosphäre entsprach.« Und auch Fassbinders damalige Regieassistentin Renate Leiffer sagt »Das ist schlecht restauriert.« Die Aufhellung sei nicht
Fassbinders Intention gewesen, da werde das Werk »der Massenverträglichkeit und dem Eigeninteresse geopfert«.
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Alles erinnert ein wenig an den Streit um die Restauration der Sixtinischen Kapelle: Ohne alle Patina, deutlich heller und viel bunter erschienen Michelangelos Fresken plötzlich nach der Überarbeitung. Darüber kann man endlos streiten. Im Kern geht es darum, ob das Recht des Künstlers auf Unantastbarkeit des Originalwerks, und damit auch auf Fehler, auch auf technische und unfreillige, im Rückblick nicht mehr korrigierbare Fehler, schwerer wiegt, oder die zweifellos fundierte, aber in ihrem Perfektionismus auch ein wenig spießige Quellenfuchtelei und Faktenhuberei von Philologen, Epigonen und selbsternannten Nachlaßverwaltern. Diese Formulierung enthält natürlich schon auch meine Position in der Sache. Aber immerhin ist der Streit hier nun da angekommen, wo er hingehört und geführt werden muss: Bei der Kunst. Und bei der wichtigen, ganz grundsätzlichen Frage: Wie geht Deutschland eigentlich mit dem Werk seines wichtigsten Nachkriegsregisseurs um?
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Was der sich getraut hat! Der Epilog Fassbinders sei »ein zweistündiges Drogendelirium«, sagt Heike, aber fügt gleich hinzu: »Danach kann man sich normales Fernsehen nicht mehr angucken, so normiert wie es ist.« »Es war immer so«, sagt Heike auch noch: »Alles, was mich am Ende wirklich interessiert hat, war meistens anstrengend und ich hatt' auch meistens keine Lust dazu.« Also Fassbinder gucken, hell oder nicht!
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Ein kleines Geschmäckle bleibt natürlich, wenn ausgerechnet in der »Süddeutschen« von Fritz Göttler im Streit allzu eindeutig pro-Lorenz Position bezogen und das Verdienst der Foundation betont wird, flankiert von einem Schwarzenberger-Interview, kaum überraschend pro Restaurierung. Hierzu ein treffend-bissiger Kommentar in der »taz«: »Was Göttler nicht schreibt: Die restaurierte Fassung von Berlin Alexanderplatz wird als ein Höhepunkt der DVD-Edition der SZ angepriesen. Schon vor einem Jahr warnte Enno Patalas, langjähriger Leiter des Münchner Filmmuseums, in der Zeitschrift 'Revolver' davor, in welch heikle Position Filmkritiker geraten, wenn sie im Auftrag ihres Verlags Öffentlichkeitsarbeit für dessen DVD-Editionen betreiben.«
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Filmkritik und Korruption ist ein Thema, das zu wenig beachtet wird, und mehr beachtet werden sollte. Ein Beispiel: Pressehefte schreiben. Es ist, wie ins Bordell zu gehen: Viele tun das, kaum einer redet darüber.
Klar: Honorare stagnieren auf der Stufe der Mitte der 90er Jahre. Während qualitätsvolle Filmkritik zunehmend in die ehrenamtliche Tätigkeit überzuwechseln scheint, halten sich immer mehr Autoren – so sie nicht einen verdienstbringenden Zweitberuf ausüben
– am Tropf der Produzenten und Verleiher über Wasser: Sie schreiben Pressehefte und fertigen »electronic press kits«, dolmetschen, sind Consultant, oder wechseln gleich ganz die Seiten. Schleichende Korruption. Im Einzelfall der persönlichen Existenznot ist das kaum jemandem zu verdenken, doch prinzipiell ist es schlichtweg unakzeptabel, und trägt zum Ruin des ganzen Berufstandes bei.
Etwa der leitende Redakteur eines eh schon branchennahen, absolut unkritischen
»Branchenmagazins«, der seit Jahren pro Monat mehrere Pressehefte für die Verleiher schreibt und dann über die Platzierung der gleichen Filme in seinem Heft entscheidet. Ein anderes Beispiel ist der Fall eines – im Übrigen persönlich recht sympathischen – Berliner »Kritikers«, der 2006 für einen Film das Presseheft verfertigte, bei den Interviews für die Kollegen dolmetschte, um dann noch gleich selbst ein Interview im Radio zu veröffentlichen und eine Kritik in
einem Magazin schrieb.
Kann ja alles noch kommen, aber ich selbst hatte es glücklicherweise bisher noch nicht nötig, Pressehefte zu schreiben. Einmal habe ich eines redaktionell überarbeitet, und einen Beitrag neu geschrieben. Einmal wurde ein in anderem Zusammenhang geschriebener, fertiger Beitrag auf Anfrage übernommen. Und dreimal habe ich Interviews geführt, die dann ins Presseheft aufgenommen wurden. Wenn darunter dann der eigene Name steht, liegen die Karten für alle
offen auf dem Tisch, es dürfte kein Problem geben. Aber vielleicht sollte man sogar das lassen.
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Zweites Beispiel fürs Thema Filmkritik und Korruption: Darüber reden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, ist der beliebte und fast immer praktizierte Spruch »in der Branche.« Stimmt ja auch, was wäre ein Filmkritiker ohne seine Augen. Aber wenn der Blick getrübt ist, soll man dass dann nicht sagen? Täte der Filmkritik nicht ein wenig mehr Kritik der Kritik gut, ein beim-Namen-nennen der Dinge. Wer korrupt ist, muss auch korrupt genannt werden. Und wer dumm ist dumm. Aber schon hier kann ich keine Namen nennen, will ich nicht morgen noch ein Telefongespräch führen wie heute vormittag: Über die Kollegennamen im artechock-Cannes-Tagebuch. »Das macht man nicht«, sagte die Dame am Telefon. Warum eigentlich? Es gibt nicht nur Kadavergehorsam, sondern auch Kadaversolidarität.
Rüdiger Suchsland