23.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Chillout mit Che

Maradona with Kusturica
Wäre Kusturica nicht Filmemacher,
dann wäre er vielleicht Fußballer (usw.):
Maradona with Kusturica

Zweimal Revolution, dreimal Herumhängen am Rio de la Plata und der argentinische Geist

Von Rüdiger Suchsland

»If he hadn’t been a foot­baller, he would be a revo­lu­tio­nary.« Viel­leicht wäre der Argen­ti­nier Che Guevara besser Fußballer geworden. Sollte er aller­dings aber wirklich eine auch nur entfernte Ähnlich­keit mit jenem Zombie gehabt haben, als den ihn uns Steven Soder­bergh jetzt in seinem neuen Film präsen­tiert, hätte er besten­falls eine gute Eckfahne abgegeben. Dieses Zombie­hafte ist aller­dings, um Miss­ver­s­tänd­nissen vorzu­beugen, keines­wegs eine These Soder­berghs, das wäre ja noch inter­es­sant. Sondern es ist das Resultat eines Films, der in einer Weise miss­glückt ist, wie es dann ange­sichts der Voraus­set­zungen und Umstände doch über­raschte. Oder wir haben den Film einfach nicht verstanden.

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Lang, sehr lang ist er erwartet worden. Zehn Jahre hat man daran gear­beitet, und wie um diese ganze Anstren­gung zu doku­men­tieren, ist der fertige Film jetzt gleich­falls lang, sehr lang geworden. Che, das Biopic über den ikoni­schen Posterboy der Welt­re­vo­lu­tion von Hollywood-Inde­pen­dent Steven Soderberg (Sex, Lies And Videotape, Ocean’s Eleven). Oder sind es doch zwei Filme, CHE 1 und CHE 2? Schließ­lich zerfällt alles klar in zwei gleich lange Teile, und bei der ersten Vorfüh­rung bei den Film­fest­spielen von Cannes gab es am Mittwoch eine vier­telstün­dige »Inter­mis­sion«, bei der die Produk­tion in sand­far­bener Papier­tüte mit »CHE«-Aufschrift die ermüdete Welt­presse mittels Sandwich und Wasser­fla­sche für die zweite Hälfte der Welt­re­vo­lu­tion mit Proviant versorgte. Oder war das, was man hier in Cannes zu sehen bekam, am Ende doch nur ein vier­ein­halb­stün­diger Rohschnitt, die Vorstufe zu einem Film auf üblicher Spiel­film­länge, der hier allen Bedenken zum Trotz gezeigt wurde, damit Produk­tion und der einfluss­reiche Welt­ver­trieb Wild Bunch nicht ein Jahr warten oder auf die im Vergleich viel unbe­lieb­teren Verkaufs­plätze Venedig oder Berlinale auswei­chen müssen?
Letzt­end­lich zählt das Ergebnis. Und das ist, kurz gesagt, ein einziges Desaster. Ein lang­at­miges, träges Stück Film – ohne Fokus, ohne Idee, ohne Mut, ohne Esprit. Die größte Enttäu­schung des bishe­rigen Festivals, ein Film der nichts Erkenn­bares sein will, nur erkennbar alles Mögliche nicht ist.

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Che im Dschungel. Er keucht ziemlich, vor allem am Anfang, damit die Zuschauer schnell kapieren: »Der Mann hat Asthma« und denken: »Was für ein Exempel an Selb­stü­ber­win­dung!« Trotz Asthma hat Che ziemlich oft einen Zigar­ren­stumpen zwischen den Zähnen. Mal ist der Dschungel so dicht, dass ein Busch­messer zum Einsatz kommt, dann wieder ist der Blick offen für den Weg, der noch vor ihnen liegt. Inserts im Film infor­mieren: ‘367 km nach Havanna', ‘287 km nach Havanna' und so fort. Von den vier Stunden und acht­und­zwanzig Minuten, die Steven Soder­berghs Film Che dauert, befinden sich Film und Zuschauer etwa drei­ein­halb Stunden gemeinsam im Dschungel. Dazwi­schen ist in Schwarz­weiß die Rede bei der UNO geschnitten, nach­ge­stellt natürlich wie der Rest des Films, der fast völlig auf Doku­men­tar­auf­nahmen verzichtet, sie dort aller­dings, wo er sie verwendet, nicht gerade konse­quent und nach keinem durch­schau­baren Prinzip einsetzt. Dazwi­schen auch zweimal Momente eines Abends 1955, an dem Che angeblich für die Revo­lu­tion gewonnen wurde. Eine einzige Szene mit Weib und Kindern, mehr nicht.

Die inter­es­san­testen Teile der Lebens­ge­schichte des Argen­ti­niers Ernesto »Che« Guevara, spart Soder­bergh aus, so konse­quent, dass man dahinter ein System vermuten muss: Nichts über den Aufstieg Ches innerhalb der kuba­ni­schen Revo­lu­tion. Nichts über das durchaus gespannte Verhältnis zu Fidel Castro. Nichts über seine Zeit als kuba­ni­scher Minister. Nichts über die Monate in Afrika. Nichts über die Hinter­gründe der Boli­vi­en­mis­sion. Nichts über Beweg­gründe, Motive. Nichts über seine Kindheit. Keine Psycho­logie. Keine Küsse mit Frau Aleida oder Tamara Bunke (gespielt nebenbei bemerkt von Franka Potente: 6 Szenen, 4 Sätze). Wenn überhaupt, dann erlebt man Che als den Spaß­ver­derber der Revo­lu­tion, der Askese predigt, der seinen Mitstrei­tern jedes noch so kleine Vergnügen, auch in der Stunde des Sieges, versagt.

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Sein Prinzip machte Soder­bergh immerhin in der Pres­se­kon­fe­renz klar: Er wollte, dass das Publikum mit Che herum­hängen könnte, er habe deswegen ganz absicht­lich alle »movie moments« heraus­ge­nommen. Stilis­tisch wirkt alles aber dann doch wie eine schlechte Fern­seh­do­ku­men­ta­tion. Und zugleich ein bisschen wie die Main­stream-Version eines Straub-Films: Grüner Wald, grüne Blätter, das Rauschen des Windes, und unter Bäumen Menschen, die unun­ter­bro­chen etwas dekla­mieren, was inhalt­lich oft belanglos ist. Hier immerhin nicht mit dem Rücken zum Zuschauer. Dieses Neutra­li­sieren und Entleeren immerhin ist inter­es­sant, und muss wohl Absicht sein.
Nun fragt man sich, wofür das alles? Warum einen Film, der alle schönen und häss­li­chen und abgrün­digen Seiten seines Gegen­standes ignoriert?

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Mag schon sein, dass Revo­lu­tion letzt­end­lich lang­weilig ist. Aber Soder­berghs Film ist eigent­lich nur das gestam­melte Geständnis, dass ihm zu seinem Gegen­stand aber auch gar nichts einge­fallen ist, dass er zu »Che« aber auch überhaupt nichts zu sagen hat, dass er in ihm keinerlei Gefühle auslöst, nicht Liebe, nicht Hass, keine Gedanken und keine Position.
Als Che im Film von einer Jour­na­listin gefragt wird, welche Eigen­schaft es sei, die vor allen anderen einen guten Revo­lu­ti­onär ausmache, antwortet er »Liebe«. Das ist der Schlüssel auch zu Soder­berghs Film: Von Liebe ist hier nämlich nichts zu spüren. Nie wird das Charisma klar, über das Che Guevara doch ganz offen­kundig verfügte, nie versteht man die Realität des »Mythos Che«. Aber über die Wider­sprüch­lich­keit der realen Figur erfährt man auch nichts. Was bleibt, ist ein reichlich geschöntes, dabei aber immer total blut­leeres Tagebuch Che Guevaras.

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Die meisten Kollegen reagieren ähnlich. »A gigantic piece of shit«, meint ein Kritiker aus Spanien, eine Münchner Kollegin lästert über »Sober­bergh«, und hat eine schöne These, die wir hier mitteilen wollen: Ein Männer­film sei das nämlich, wo es darum gehe, einen starken Typ zu präsen­tieren, der den anderen sagt, wo es langgeht, und insofern auch ein verkapptes Selbst­por­trait von Soder­bergh. Man darf viel­leicht mal darauf achten, ob es nicht wirklich die Men’s Men der Film­kritik sein werden, die all dem noch etwas abge­winnen können. Aber bestimmt können auch ein paar Benicio-del-Toro-Fans nicht über ihren Schatten springen.
Gerade kommt das neue »Variety«-Daily heraus: Unter der schönen Headline »The Morning after« werden die kleinen Care-Pakete erwähnt, nur um bissig hinzu­zu­fügen: »But hunger wasn’t the problem.« Diesen Film werde man so nie wieder sehen, schreibt Todd McCarthy: »If anything, Che seems dimi­nished by the way he’s portrayed here. ... the pic in its current form is a commer­cial impos­si­bi­lity, except on tele­vi­sion or DVD ... CHE is too big a roll of the dice to pass off as an expe­ri­ment, as it’s got to meet high standards both commer­ci­ally and artis­ti­cally.«

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»If he hadn’t been a foot­baller, he would be a revo­lu­tio­nary.« – der Satz stammt nicht aus Soder­berghs Film sondern aus Emir Kustu­ricas Portrait eines Lands­manns von Che: Maradona By Kusturica ist das Portrait des größten Fußbal­lers aller Zeiten, und die Suche nach dem Mythos Maradona und nach dem Mensch hinter ihm.

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Erst einen, dann den zweiten, den dritten, vierten, fünften Vertei­diger umspielt er, dann noch den Torwart – das 1:0 durch Diego Armando Maradona im Spiel gegen England 1986 bei der Welt­meis­ter­schaft in Mexiko wurde nicht später nur zum »Tor des Jahr­hun­derts« gewählt, es war der Grund­stein zum Sieg gegen England, gegen Premier­mi­nis­terin Margret Thatcher und damit eine poli­ti­sche Tat und Genug­tuung für die – wohl eher niederen – Instinkte des argen­ti­ni­schen Volkes, nur vier Jahre nach der Nieder­lage im Falk­land­krieg. »Es war, als hätten wir einen Fußball­krieg gewonnen«, resümiert Maradona im Film.

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Maradona By Kusturica hat alle Schwächen eines typischen Kusturica-Films: Er ist fort­wäh­rend mit viel zu lauter, gele­gent­lich einfach nerv­tö­tender Musik unterlegt, ist überdreht, eitel, dick aufge­tragen, alles wird ein paar mal zu oft wieder­holt, dem Publikum regel­recht einge­bläut. Kino für Anal­pha­beten. Aber er hat Maradona. Und wie sich heraus­stellt, ist das genug für einen guten Film.

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Kustu­ricas Maradona ist ein Instinkt­mensch. Fußbal­le­risch nicht von dieser Welt, glaubt er auch, eine soziale Mission zu erfüllen, und besitzt den Instinkt des guten Popu­listen, einfache Wahr­heiten in noch einfa­cheren Worten zu verkünden. Und das dann verbunden mit der Begeis­te­rung für die sozi­al­re­bel­li­sche Tradition Latein­ame­rikas, poli­ti­sche Paranoia und Part­ei­nahme für die Armen. Heraus kommen dann Sätze wie: »Fidel is great«, »Fidel, I die for you«, »Bush ist ein Mörder«, »Blair ist ein Teufel«.
Kusturica beschreibt Maradonas Charisma überhaus treffend: »He looked more like a character from a film about Mexican revo­lu­tion, than the best foot­baller of all time. It was if he had stepped out of a film from Sergio Leone or Sam Peckinpah. When he stepped into a room, he was bringing the smell of revo­lu­tio­nary gunpowder with him.«
»If he hadn’t been a foot­baller, he would be a revo­lu­tio­nary.« Kusturica ist sich nicht zu blöd, das allen Ernstes in seinem Film zu behaupten. »If he hadn’t been a foot­baller, ...« wäre Maradona viel­leicht auch Koka­in­dealer geworden, oder Priester, oder man hätte ihn einfach mit 17 erschossen in irgend­einer Straßenecke gefunden. Aber egal. Was Kusturica gelingt, ist, den Geist seines Gegen­standes in Bilder zu fassen, eine Haltung zu ihm einzu­nehmen. Das hebt Maradona By Kusturica meilen­weit über Steven Soder­bergh hinaus. Kusturica leistet genau das, was CHE fehlt: Er vermit­telt ein Gespür für das Geheimnis seines Gegen­standes, für die Mytho­logie der Ikone, die er sich zu portrai­tieren entschlossen hat, und er enthüllt doch immerhin ein paar Aspekte seines Gegen­standes. Man hat nach dem Film verstanden, warum er mehr ist als ein sehr guter Fußballer.
Kusturica liebt Maradona, und das spürt man, und darum gelingt es ihm auch etwas von den Gefühlen begreif­lich zu machen, die die Öffent­lich­keit Argen­ti­niens und Latein­ame­rikas Maradona immer noch entge­gen­bringen. Er ist ein Mensch mit allen Schwächen und vielen Stärken – aber die Schwächen und Stärken sind ihre.

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Wenn man, wie das bei so einem Festival vorkommen kann, hinter­ein­ander ein paar Filme sieht, die aus dem gleichen Land kommen, oder mit ihm zusam­men­hängen, fängt man schon mal an, sich Gedanken zu machen. In diesem Fall über den argen­ti­ni­schen Geist. Denn von dem Erzählen außer dem Biopic über den argen­ti­ni­schen Doktor Guevara und dem Film über den argen­ti­ni­schen fleisch(!)gewor­denen Gott Maradona auch noch Lucretia Martels neuer Film mit dem schönen Titel La Mujer Sin Cabeza und Liverpool, der in der Quinzaine lief, von dem in Buenos Aires nur LA genannten Lisandro Alonso, für die einen ein Genie, für die anderen eine pain in the ass.

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Aber der Reihe nach: Der für mich taug­lichste Schlüssel zum Vers­tändnis zu den beiden letzt­ge­nannten Filmen und womöglich sogar zu den beiden anderen ist ein kurzer Dialog auf der Film-Party der kolum­bia­ni­schen Film­or­ga­ni­sa­tion. Man muss sich das so vorstellen: In der voll­ge­stopften Location direkt am Strand gibt es außer Wasser alles, tobt der Bär. Da die Kolum­bianer hier keinen Film haben, hält sie nichts davon ab, eine der besten Partys des Festivals zu feiern: Erst mal werden alle Gäste schnell abgefüllt, es gibt nur Wein und Drinks vom Gin Tonic aufwärts, ein gar nicht unkluger DJ legt endlich einmal mit Konzept auf, von einem absurden, nie gehörten »A hard days night« im Latino-Sound bis »La camisa nera« das Angebot ständig vari­ie­rend, aller­dings auch mit genug Billigstpop – wie man sich eine kolum­bia­ni­sche Party eben so vorstellt, die Kolum­bianer, die sowieso nicht still­sitzen können, sind sämtlich auf der Tanz­fläche und der Rest der Latinos amüsiert sich auch prächtig – nein, nicht alle Latinos. Die Argen­ti­nier nämlich stehen mitein­ander ein wenig irritiert herum, schauen zu Boden, unter­halten sich lieber, rauchen. Diego Lerer, mit dem ich schon mal in einer Jury gesessen habe, einer der besten argen­ti­ni­schen Kritiker, schüttelt den Kopf, erzählt erst kurz von seiner kolum­bia­ni­schen Ex-Freundin, die ihm immer sagte »Have fun!« und sagt dann, ganz ernst gemeint und sichtlich verdrossen: »Oh those happy Colum­bians. I can’t stand them. I need depres­sion!«

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Wenn man den Ernst hinter diesen Worten begriffen hat, könnte man sich Liverpool und La Mujer Sin Cabeza mit einigem Gewinn ansehen. Ebenso wie den netten urugu­ay­ischen Film ACNE, der von eben­sol­cher handelt, und ein Puber­täts­drama in einer jüdischen Familie am Rio de la Plata erzählt – der frühe Woody Allen lässt grüßen.

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Wer La Libertad oder Los Muertos kennt, der weiß schon, dass Lisandro Alonso immer überaus wortkarg erzählt, dass hier das Entschei­dende ganz nebenbei, in kleinsten Gesten enthüllt wird, und dass seine der klas­si­schen Kino­mo­derne verpflich­teten Filme Geschichten erzählen, die um einsame Männern kreisen, die weite Reisen unter­nehmen, in die Provinz, ins argen­ti­ni­sche »Heart of Darkness«. Liverpool zeigt einen etwa 45jährigen Mann. Er ist Seemann, am Anfang sieht man ihn bei der Arbeit auf einem Contai­ner­schiff. Als der Hafen erreicht ist, geht er an Land, sein offenbar sämt­li­cher Besitz passt in eine große Reise­ta­sche. Wie ein entlas­sener Sträfling – die Haupt­figur von Los Muertos – reist er durchs Land, das immer bergiger und kälter wird, schließ­lich verschneit: nach Pata­go­nien. Man glaubt zu spüren, dass ihn etwas belastet, dass die Spannung wächst, die Abwe­sen­heit von Glück oder Erleich­te­rung ist offen­kundig. Die Reise führt in Kneipen und Hotels. Ein Hauch von Kauris­mäki liegt in vielen Szenen, sowohl durch ihre Lakonie, aber noch mehr in ihrer Insze­nie­rung: Licht und Farben erinnern an Sirk und Fass­binder. Im Gegensatz zu Kauris­mäki ist Alonso aber ganz unwitzig, sind die Tragödien nicht hinter etwas versteckt, was man als absurden Humor begreifen und abtun könnte.
Denn was sich enthüllt, als der Mann ankommt, eine Familie – alter Vater, eine demente Mutter, eine psychisch oder geistig behin­derte Tochter – besucht, kurz dableibt und dann wieder abreist, ist eine Fami­li­en­tra­gödie. Es sind nur kleinste Andeu­tungen, aber für den genauen Blick unüber­sehbar: Ein Inzest hat sich hier vor Jahren ereignet; der Seemann ist der Vater seiner Schwester.
Alonsos Kamera ist stabil und ihm gelingen eindrück­liche Bilder, beklem­mende Atmo­sphären. Aller­dings denkt man am Ende des Films auch, dass es für ihn jetzt Zeit wäre, einen Schritt voran zu tun, das von ihm karto­gra­phierte Kino­ter­ri­to­rium zu erweitern.

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Von einer Tragödie völlig anderer Art erzählt in einem bislang schönen Wett­be­werb mit vielen starken Filmen, aber ohne klare Favoriten, Lucrecia Martel, die mit La Ciénaga bekant wurde, und 2004 mit La Ninja Santa 2004 in Cannes im Wett­be­werb vertreten war. La Mujer Sin Cabeza (also: »Die Frau ohne Kopf«) wirkt zuerst wie eine absurde Komödie, dann zunehmend wie eine Alptraum­ge­schichte. Veronica, eine etwa 50jährige Frau aus wohl­ha­benden Verhält­nissen überfährt beim Auto­fahren einen großen Hund. Weil das Tier offen­sicht­lich tot ist, fährt sie weiter. In den nächsten Tagen ist Veronica immer wieder merk­würdig abwesend und abgelenkt. Sie vergißt alles Mögliche, selbst Dinge wie die Studi­en­fächer ihrer Kinder. Sie lässt sich treiben, verliert die Bindung an Menschen und Dinge. Sie bildet eine handfeste Depres­sion aus. Die Ursache ihrer exis­ten­ti­ellen Irri­ta­tion teilt sie ihrem Mann mit: Halb unbewusst hat sie bei dem Unfall wahr­ge­nommen, dass sie auch einen Mensch über­fahren hat. Aber die Gewiss­heit lässt auf sich warten. Erst nach Wochen wird eine Leiche gefunden. Dann aber setzt erst recht die Verdrän­gung ein, auch die Gewiss­heit unschul­diger Schuld ändert nicht die Lage löst nichts aus. An Moravia »Gleich­gül­tige«, noch mehr an Casmus' »Der Fremde« muss man denken. Auch hier war »nur die Sonne schuld« an einer Tat, die im Unklaren bleibt. La Mujer Sin Cabeza ist auch ein Portrait bürger­li­cher Dekadenz, der Ober­klasse, ihrer Verdrän­gungs­me­cha­nismen und Amoral. Darüber hinaus ein fein insze­nierter Film, in dem die Wasser­me­ta­phorik eine besondere Rolle spielt – Regen, ein Pool, was beides auch an Rein­wa­schung und das christ­liche Tauf­be­cken erinnert. Vielen macht der Film Schwie­rig­keiten oder bewirkt einfach Ablehnung, weil er zu herme­tisch ist. Es ist kaum Martels bestes Werk. Und man muss Spiegel-Kritiker Wolfgang Höbel natürlich unbedingt recht­geben, wenn er direkt nach der Vorstel­lung etwas seufzend resümiert: »Das Unver­s­tänd­liche steht natürlich per se erst einmal unter Kunst­ver­dacht.«

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Aber viel­leicht ist der Schlüssel zu diesem Film einfach ganz simpel: Argen­ti­nien oder die Liebe zur Depres­sion.

Rüdiger Suchsland