27.06.2008
25. Filmfest München 2008

Scheiternde Träume, nostalgische Erinnerungen

SALAMANDRA
Zeichen der Verwahrlosung:
Es juckt am Kopf

Weltfremde Naivität in Patagonien, ansteckende Lebensfreude in Uruguay: Zwei »Visiones latinas«, die unterschiedlicher nicht sein könnten

Von Carola Heinrich

Der erste Eindruck auf dem dies­jäh­rigen Filmfest in München war beklem­mend und vers­tö­rend. Schuld daran war Sala­mandra, der erste abend­fül­lende Spielfilm des 1977 geborenen Argen­ti­niers Pablo Agüero. Er beschreibt das Leben in »El Bolsón«, einem entle­genen Land­strich in der Gegend Pata­go­niens. Es ist die Zeit unmit­telbar nach dem Ende der Diktatur in den 80er Jahren, und das argen­ti­sche Volk versuchte zu vergessen oder sich eine neue Selbst­be­stim­mung zu geben. Zuflucht­su­chende aus aller Welt treffen in einem hoch­ge­le­genen Hippie-Dorf zusammen, Über­zeu­gungen und Welt­an­schau­ungen ergeben eine schwüle Mixtur. In einer Kommune leben die Sinn­su­chenden auf engstem Raum, den sie sich mit daher­ge­lau­fenen Tieren und sich stetig mehrenden Insekten teilen. Auch die junge Mutter Alba (Dolores Fonzi), die während der Diktatur inhaf­tiert war und gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, findet hier Unter­schlupf. In ihrem Schlepptau hat sie ihren sechs­jäh­rigen Sohn Inti (Joaquin Aguila), den sie aufgrund ihrer Verhaf­tung noch nie gesehen hatte. Sie haben sich eben erst kennen­ge­lernt, jetzt versuchen sie sich hier ein neues Leben als Mutter und Sohn aufzu­bauen.

Die Perspek­tive hät ganz auf die Sicht des Jungen: Durch die wackelnden Hand­ka­mera-Bilder wird die verängs­tigte und verwirrte Sicht des Jungen vermit­telt, der Nähe und Halt sucht, sich aber in einer Umgebung völliger Verwahr­lo­sung wieder­findet. Sie ist geprägt von Dreck und Armut, von ständig verfüg­barem Sex und nie endenden Feiern. Mit bestür­zenden, drauf­hal­tenden Detail­auf­nahmen von Schmutz und Insekten und der Foka­li­sie­rung auf die unheim­li­chen Geräusche, die von ihnen ausgehen, tauchen wir ganz ein in das Erleben des Jungen und seinem persön­li­chen Ekel, der sich in ihm breit macht.

Die Mutter zeichnet sich indes durch Orien­tie­rungs­lo­sig­keit aus. Sie sucht ihre Rolle in der Welt und möchte ein stabiles Umfeld aufbauen, in dem die Beiden sich wohl fühlen, dazu ist sie aller­dings nicht fähig. Sie lebt in ihren Träumen und Illu­sionen einer besseren Welt, scheitert jedoch und schafft es nicht, in dem neuen Leben in Freiheit – einem allzu freien Leben – Fuß zu fassen.

Selbst als sie die Hippie­kom­mune verlassen und in ein Haus in einem kleinen Dorf in den Bergen ziehen, wird nur die nächste Etappe des Schei­terns ihrer Suche einge­leitet: Sie treffen auf einen rohen Alltag zwischen randa­lie­renden Kindern und sie atta­ckie­renden Nachbarn. Das Leben ist von Gewalt geprägt und der Eindruck von Hilf- und Aussichts­lo­sig­keit findet seinen Höhepunkt, als ihr Haus ange­zündet wird und abbrennt. Doch selbst hier wird Alba nicht in die Realität zurück­ge­holt, sie träumt weiter von einem besseren Leben, irgendwo.

Regisseur Pablo Agüero ist selbst in »El Bolsón« aufge­wachsen und hat all seine bishe­rigen Filme dort gedreht. Zwei­fels­ohne eine prägende Erfahrung, die ihn nicht loslässt, und es bleibt zu vermuten, wieviel Pablo wohl im kleinen Inti stecken mag.

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Erscheint hier noch die Kamera ganz doku­men­ta­risch, und ist mit dem Hinter­grund der Herkunft des Regis­seurs ein wie auch immer gearteter »doku­men­ta­ri­scher« Aspekt seiner Spiel­film­vi­sion enthalten, zeigte La Matinée ebenfalls in der tradi­ti­ons­rei­chen Reihe »Visiones Latinas« des Münchner Filmfest zu sehen, als »echter« Doku­men­tar­film die Viel­sei­tig­keit dieser Reihe. Der in Monte­video geborene Sebastian Bednarik verfolgt die Gründung einer Murga durch Musiker, die nach vierzig Jahren und mehr auf der Bühne ihre Karriere schon beendet sahen.

Was aber ist eine Murga?, fragt ein Kind seine Mutter im Film. Bei einem Treffen von mehr als Hundert »Murgistas« derselben Gene­ra­tion wird die Antwort in einem Lied gegeben. »Murga«, was so viel wie »Krach« bedeutet, ist die einzig­ar­tige Karnevals musik Monte­vi­deos. Sie zeichnet sich wie keine andere Musik aus durch Farbe, Lebens­freude und Tanz. Lebens­froh und farbig – genau so kann man auch die Stimmung, die uns der Film vermit­telt, charak­te­ri­sieren. So finden im Jahr 2004 dreizehn legendäre Musiker des urugu­ay­ischen Karnevals noch einmal zusammen, um als Gruppe ein letztes Mal beim Karneval aufzu­treten. Die Liebe und Begeis­te­rung zu dieser Musik, die Schlag­in­stru­mente und Chor­ge­sang verbindet, lässt sie nicht los und führt sie wieder zusammen. Auf der Bühne werden Rollen gespielt und Geschichten erzählt, mit dem Ziel das Publikum zum Lachen zu bringen.

Aber es gibt noch das andere Leben der »murgistas«, jenes, wenn sie nicht auf der Bühne standen, und so blicken die »Murgistas« auch nost­al­gisch auf ihr Leben zurück. Sie beschreiben, wie sie sich durch­ge­schlagen haben und es immer noch tun, die einen besser, die anderen schlechter. Sie leben in Slums, arbeiten als Taxi­fahrer oder halten sich durch kleine Repa­ra­turen über Wasser. Offen erzählen sie aus ihrer Vergan­gen­heit, von Krimi­na­lität und Alko­ho­lismus. Diese Schil­de­rungen verwebt Sebastian Bednarik mit Szenen aus der Vorbe­rei­tungs­phase, vom Einüben des Textes, den Proben von Tanz­ein­lagen und der Auswahl­ent­schei­dung, ob sie beim Karneval dabei sein dürfen. Einge­fügte Versatz­stücke zeigen das Schminken, die Anprobe der Kostüme, vor dem ersten großen Auftritt bis zum Letzten. Er begleitet sie bei der Verwirk­li­chung ihres Traums, noch einmal auf der Bühne zu stehen, den sie mit viel Leiden­schaft und Einsatz verfolgen. Musik ist ihr Leben, und die Freude daran geht in diesem Film direkt auf den Zuschauer über.

Carola Heinrich