17.12.2009
Cinema Moralia – Folge 23

Jauchzet, froh­lo­cket...

Avatar
„Visionär“ oder doch nur ein Hype?
(Foto: Twentieth Century Fox of Germany)

Die Kritiken zu Avatar, James Cameron und die Gesetze der Thermodynamik

Von Rüdiger Suchsland

Film­kri­tiker mag James Cameron sowieso nicht. Wir erinnern uns noch, wie er den einen bekannten US-Kritiker, der Titanic seiner­zeit verrissen hatte, Kenneth Turan von der LA Times öffent­lich verfolgte, beschimpfte und sogar seine Entlas­sung forderte. Jetzt hat dieser Regisseur mit dem gesund entwi­ckelten Ego in einem lesens­werten Interview im US-Playboy (den wir ja immer nur wegen der Inter­views lesen) unter anderem folgende schöne Sätze gesagt:

»Avatar is made very consciously for movie fans, if critics like it, fine. I can’t say I won’t read the reviews, because I may not be able to resist. I spent a couple of decades in the capri­cious world of being judged by those not know­led­geable about the depth and history of film and with whom I would not want to have a conver­sa­tion – with a few notable excep­tions. Why would I want to be judged by them? For me, this past decade has been about retrea­ting to the great funda­men­tals, things that aren’t passing fads or subject to the whims of some idiot critic. You can’t write a review of the laws of ther­mo­dy­na­mics.«

Ah so, aha. Leicht zu verstehen: Wer Avatar kriti­siert, der kriti­siert die Natur­ge­setze. Gegen die Erdum­dre­hung kann man nicht argu­men­tieren, also auch nicht gegen die Meis­ter­schaft von Cameron.

Umso inter­es­santer ist die Beob­ach­tung der nun erschie­nenen Film­kri­tiken zu Avatar. Sagen wir mal so: Man wundert sich dann doch, mit welch einhel­liger Begeis­te­rung Camerons Film von der Film­kritik aufge­nommen wird. Und wie wenig Diskus­sion der Marke­ting­ma­schine und Produk­ti­ons­be­din­gungen, der Umstände des Films oder auch nur der 3-D-Rezeption statt­findet. Natürlich gibt es Ausnahmen, erwartete und auffäl­lige, und natürlich Sonder­fälle. Ein Überblick, der für sich selber spricht.

+ + +

Die Ersten: Der frühe Vogel fällt im Sturm. Vor allem die, die ganz früh dran sein wollen, geben erst einmal die jubelnde Orches­trie­rung des Marke­ting­ge­brülls: Ausge­rechnet die ZEIT fängt an. Katja Nicodemus findet die schöne Formu­lie­rung »Genesis auf LSD« schon eine Woche vor Filmstart (und einen Tag vor Ende der offi­zi­ellen Sperr­frist, die der Verleih für Bericht­erstatter verhängt hatte). Dann geht’s weiter: Zunächst Arbeit am von James Cameron selbst sorg­fältig gestrickten Mythos vom »mega­lo­ma­ni­schen Autoren­filmer«, dann Vernied­li­chung zum netten Kumpel von Nebenan: »Mischung aus Hollywood-Haudegen und tech­nik­be­geis­tertem Spielkind, kreativem Dickkopf und Traum­fa­brik-Pionier«. Um dann zu erklären: »Ein wirklich visi­onärer Film«. Potzblitz! Aber warum? Eigent­lich ist die im Text dann völlig selbst­re­fe­ren­tiell. Sie lautet: Weil Cameron so ein toller Autoren­filmer ist. »In Avatar ist die Compu­ter­technik einmal nicht das unin­spi­rierte Mittel zur Fort­schrei­bung herkömm­li­cher Kino­phan­ta­sien. Sie ist das Medium, das die Phantasie erst zum Abheben bringt, kurz: ein Zauber­kasten für James Cameron«;. Und weil der ein Visionär ist, ist der Film visionär. Oder so. Das Wort »visionär« kommt dann übrigens im Text noch zweimal vor.
Der Stern mag den Film, bleibt Cameron gegenüber aber weitaus distan­zierter, wagt dezente Kalauer: »Der Mann fürs Große«. Oder zitiert in indi­rekter Majes­täts­be­lei­di­gung den Schau­spieler Bill Paxton: »Wenn Jim Sätze hört wie ›Das geht nicht‹ oder ›So was kann man nicht machen‹, bekommt er eine Erektion.«
»Ein Meilen­stein« sei der Film, meldet die Welt einen Tag später. »Das lange Warten hat sich gelohnt. ... Cameron gelingt die Verschmel­zung von digitaler Technik und mensch­li­cher Emotion.« Das könnte so auch im Pres­se­heft stehen.

+ + +

Haupt­strom: Aspekte jubelt, Cameron sei »der perfekte Hollywood-Film gelungen« und feiert »den Kinohit des Jahres.« Größ­ten­teils am Computer entstanden, wirkt der Film dennoch so authen­tisch, dass selbst hart­ge­sot­tene Film­kri­tiker angerührt staunen. Wirklich? Na dann.
Die Frank­furter Rundschau dagegen lässt uns verwirrt zurück: Zuerst schreibt der Kritiker als Eupho­riker: »Camerons ökolo­gi­scher Science-Fiction-Film über die Zwangs­ko­lo­nia­li­sie­rung des Planeten Pandora ist ein Trip, eine Einladung zum Ausbruch aus den Fesseln von Körper und Geist.« Und weiter: »Dieser Film ist, was es schon lange nicht mehr im Kino gegeben hat: Ein richtiges Weih­nachts­ge­schenk. Eine Phan­ta­sie­orgie in 3D, ein schweres coffee-table-book von einem Film, der nicht aufhört, seine Einfälle über uns auszu­schütten, für manchen viel­leicht bis zum beschei­denen Abwinken.« Aber, aber, Herr Cameron, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Am Ende heißt es, Camerons »Fabel steht mit einem Bein im 19., mit dem zweiten im 21. Jahr­hun­dert.« Aber Moment mal: War nicht das Jahr­hun­dert dazwi­schen, das 20., das Jahr­hun­dert des Kinos?

+ + +

Ausnahmen: Zu ihnen gehört natürlich mal wieder der verläss­liche Georg Seeßlen, der in der taz einen der inter­es­san­testen Texte geschrieben hat: Auch er kommt schon in der Über­schrift zum Drogen­ver­gleich – »Drogen­trip mit Pixel­ro­mantik« – zu dem dieser Film offenbar verführt. Dann, gleich im ersten Absatz, eine inter­es­sante These, die distan­zieter gemeint ist, als sie klingt: »Avatar ist eine viel­leicht noch kühnere Mischung: Fantasy und Western, Science Fiction und Kriegs­film, mora­li­sches Statement und visueller Trip (eine Paral­lel­schöp­fung auf Magic Mushrooms), History Lesson und Kinder­kram, technisch-ästhe­ti­sches Wunder­werk und das teuerste B-Movie aller Zeiten. Wenn man Avatar gesehen hat, hat man alles gesehen, was das populäre Kino derzeit können will und wollen kann.« Und weiter: »All in One, wie gesagt. In Avatar ist immer was los, und wenn gerade nichts los ist, gibt es was zu staunen. Wenn weder was los ist noch etwas zu staunen geboten wird, dann wird der Film nach­denk­lich und erlaubt sich mythische Tiefen und heftige Kritik«. Man lernt noch einiges bei Seeßlen, aber die ganz klare These findet man in diesem film­kri­ti­schen Selbst­be­die­nungs­laden nicht. Ich glaube zu spüren, dass er den Film nicht mag, aber mir scheint, er erstarrt ein wenig zu sehr im Respekt vor dem Feind.

Nur zwei echte klare Verrisse des Films gibt es. Der eine im »epd« von Jan Distel­meyer ist gewohnt niveau­voll und gewohnt akade­misch gestelzt: Ein bisschen zu sehr Möch­te­gern-Seeßlen, wenn das hier erlaubt ist, in Sätzen wie diesem: »Zwölf Jahre nach Titanic kehrt James Cameron zurück, um ... die ziemlich abge­drehte Variante eines durch­ö­ko­no­mi­sierten Weltkinos zu präsen­tieren«
Sein Fazit aber ist deutlich: »Jesus hat unter dem Baum der Erkenntnis Sex mit Poca­hontas und konver­tiert zum Buddhismus, bevor er das Jenseits zum Diesseits erklärt und als Drachen­reiter für das totale Gleich­ge­wicht auf einem Mond sorgt, der eigent­lich ein großer Daten­spei­cher ist. Sie finden das gaga? Das kommt dabei heraus, wenn ein Block­buster von James Cameron das Gleich­ge­wicht sucht und zum Glück nicht den kleinsten gemein­samen Nenner will.«
Auch hier eine inter­es­sante These, in der zugleich der Text sich selbst erklärt, der quer zu allen anderen Texten operiert: »Es macht keinen Sinn, hier den Versuch zu unter­nehmen, den vielen Anspie­lungen dieses Films zu folgen, oder die Abenteuer Jakes auf seinem Weg aufzu­zählen, Teil der Na'vi zu werden. Von den Kontro­versen mit seinen Konzern-Dienst­herren, die ihn immer wieder ins humane Jammertal zurück­holen, ganz zu schweigen. Was diesen Film ausmacht, ist auch gar nicht die eine oder andere Sensation, sondern deren syste­mi­sche Ordnung.«

Der bemer­kens­wer­teste, weil deut­lichste Verriß steht aber in einer guten Regio­nal­zei­tung, im Darm­städter Echo: Als einer der wenigen schreibt Stefan Benz detail­liert über die 3-D-Erfahrung: »Der erhoffte Türöffner für die 3-D-Technik aber ist dieser Film wohl nicht. Die drei­di­men­sio­nalen Effekte verlieren sich und sind auch oft nicht über­zeu­gend. Mal schiebt sich eine Pfeil­spitze vor die Nase des Betrach­ters, mal wackelt da ein Palmwedel, und immer wieder hüpfen Glühwürm­chen vor den Augen, als wäre man zu schnell aufge­standen. Impres­sio­nis­tisch bunt, wie es in diesem Dschungel zugeht, löst sich die Tiefen­il­lu­sion oft in Tupfern auf. Und dort, wo die Bilder Tiefen­schärfe besitzen, stehen die verschie­denen Bild­ebenen flächig hinter­ein­ander wie im Papier­theater. Unschärfen im Vorder­grund wirken dann besonders störend. Doch oft ist es einfach so, dass man verwun­dert die Pola­ri­sa­ti­ons­fil­ter­brille anhebt, um zu prüfen, ob noch immer das stereo­sko­pi­sche Doppel­bild auf der Leinwand erscheint oder der Film jetzt in 2D läuft. Der größte Eindruck, den die 3D-Brille nach 160 Minuten hinter­lässt, ist eine Druck­stelle auf der Nasen­wurzel.«
Und zuvor bringt er den Film auf den Punkt: »James Cameron führt eine Expe­di­tion ins bunt schil­lernde Reich der Zitate, wo sich Öko-Spiri­tua­lität und Disney-Zauber mit jubelnden New-Age-Chören in psyche­de­li­scher Leucht­kraft mischen. Alles Leben ist dort in einem Ökoner­ven­system mitein­ander vernetzt, was den grie­chi­schen Namen Pandora, die Allbe­schenkte, erklärt: Du bist die Schöpfung, wir sind die Welt – das ist ein Paradies für Pant­he­isten und die Hölle der Esoterik. … Als Antwort auf Fantasy-Rollen­spiele aus der Inter­net­welt Second Life ist das fast schon überholt, als Reflex auf das barocke Spiel vom Leben als Traum, ist es zeitlos.«

+ + +

Sonder­fälle: Die FAZ. Dort will der Autor zum Film offenbar nicht noch einmal das sagen, was schon geschrieben wurde, und schreibt lieber über Erwar­tungen und 3-D-Zukunft: »Und auch wenn sich der Satz auf tausen­derlei Arten wider­legen ließe, möchte man ihm zustimmen: Ja, Avatar könnte der Citizen Kane des 3D-Kinos sein. ... Es geht, wenn man schon über die Zukunft des Kinos speku­liert, auch gar nicht darum, den Film in gewohnter Weise zu reflek­tieren, sondern allein darum, dass man sich zum ersten Mal vorstellen kann, wie ein Sech­zehn­jäh­riger aus dem Kino kommt und das Erlebnis in 3D fortan für den Maßstab dessen hält, was Film kann. So wie Menschen eben irgend­wann im Kino nicht mehr ohne Ton und ohne Farbe auskommen wollten. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das technisch Machbare so finan­zierbar wird, dass 3D auch jenen Filme­ma­chern offen­steht, die mit ihrer Kamera nur auf die Straße hinaus­gehen und das Leben einfangen wollen. Viel­leicht aber werden wir, ehe es so weit kommt, schon wie die Menschen in Avatar über unsere neuro­nalen Systeme an Avatare ange­schlossen und wie der gelähmte Soldat auf ganz anderen Wegen durch die Filme unterwegs sein. Ob wir dann noch von Filmen sprechen oder überhaupt noch Kinos brauchen werden, ist eine andere Frage.«

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.