13.01.2011
Cinema Moralia – Folge 34

Empört Euch!

Jud Süss - Film ohne Gewissen
Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen
(Foto: Concorde Filmverleih GmbH)

Roehler, Tykwer und eine erste Bilanz des deutschen Kinojahres

Von Rüdiger Suchsland

Roehler, Tykwer und eine erste Bilanz des deutschen Kino­jahres

Faschismus als – beißende, sarkas­ti­sche, todernste – Komödie, das darf, im Moral- und Geschmacks­wächter-Deutsch­land, natürlich nicht sein, wo man vom »Dritten Reich« nur in Form des andäch­tigen histo­ri­schen Heimat­films erzählt: Völker­mord als Daily-Soap. Dabei war Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen dieser Film der erste deutsche Spiel-Film seit vielen Jahren, der einmal die Abgründe des Faschismus aufriss, ohne sie schon voraus­ei­lend gleich wieder zuzu­kle­is­tern. Wie bei Litells »Wohl­ge­sinnten«, wie bei Taran­tinos Inglou­rious Basterds wusste es in Deutsch­land die Anstands­po­lizei besser, man empörte sich, und Roehler kam schon bei der Berlinale im Februar 2010 unter Syberberg-Verdacht – als wäre man nicht schon mit diesem einst borniert und unter Niveau umge­sprungen. Der Schaum vom Mund spritzte vielen auch gleich in die Augen, darum sahen sie nicht mehr, wie intel­li­gent und subtil Roehler den Komplex des »fasci­na­ting fashism« (Susan Sontag) bear­bei­tete, mit dem Verfüh­rungs­po­ten­tial des Natio­nal­so­zia­lismus spielte. Was man Roehler vorwerfen muss, ist nur, dass ihn irgend­wann doch der Mut verließ, seinen Ansatz konse­quent zuende zu führen – so blieb dann bei allem Spaß doch der Nach­ge­schmack einer verspielten Chance an diesem besten Film in einem deutschen Kino-Jahr, das sonst höchstens noch Die kommenden Tage zu bieten hatte und das bekannte Autoren­kino-reloaded, also ohne Risiko und daher unin­ter­es­sant.

Am kommenden Wochen­ende (14.01. – 16.01.2011) nun gibt es eine Tagung an der Evan­ge­li­schen Akademie Arnolds­hain. Sie trägt den Titel »Geschichts­fäl­schung oder künst­le­ri­sche Freiheit?« und beschäf­tigt sich mit den Filmen von Roehler und Tarantino, bietet aber, wie der Einla­dungs­text, den man nicht völlig ohne bitteres Schmun­zeln lesen kann, gut protes­tan­tisch formu­liert: »die seltene Gele­gen­heit, den ausschließ­lich für Forschungs- und Bildungs­zwecke zugäng­li­chen NS-Spielfilm ›Jud Süß‹ zu sehen, um die vers­tö­rend wirkungs­volle Dramatik dieses anti­se­mi­ti­schen Melodrams und die Wirkungs­macht seiner Bilder kritisch zu reflek­tieren.« Hechel, hechel. Wir werden berichten.

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Letzte Woche hatte ich den deutschen Film­kri­ti­ker­ver­band noch gelobt für seinen Protest gegen die Verur­tei­lung Jafar Panahis. Heute muss ich mein ganz persön­li­ches Entsetzen äußern: Denn folgende Pres­se­mit­tei­lung erreichte auch mich: Der Film­kri­ti­ker­ver­band VDFK nominiert folgende Filme für den Preis »Bester Spielfilm« für das Jahr 2010:

Boxha­gener Platz (Regie: Matti Geschon­neck)
Das letzte Schweigen (Regie: Baran bo Odar)
Goethe! (Regie: Philipp Stölzl)
Habermann (Regie: Juraj Herz)
Die Fremde (Regie: Feo Aladag!)
Drei (Regie: Tom Tykwer)
Vincent will meer (Regie: Ralf Huettner)
Wir sind die Nacht (Regie: Dennis Gansel)

Diese Nomi­nie­rungen finde ich tatsäch­lich eine Schande für den VDFK, und Grund genug für den Verband, sein Nomi­nie­rungs­ver­fahren oder auch die Zusam­men­set­zung seiner Mitglieder zu ändern. Da ich selbst dem Beirat zum Vorstand angehöre, muss ich wohl hinzu­fügen, dass es für solche Verän­de­rungen derzeit keine Mehr­heiten gibt. Was tun? Ratschläge erbeten.

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Aus der E-Mail eines Regis­seurs zu dieser Nomi­nie­rung: »ich glaube, damit wollen wohl die versam­melten deutschen film­kri­tiker beweisen, dass sie noch bekloppter als die film­aka­demie sind«. Leider wahr, außer dem schwachen Trost, dass der Verband kaum »die versam­melten deutschen Film­kri­tiker« reprä­sen­tiert.

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Ein Gespräch, in dem man Tom Tykwer mit Oskar Roehler verglich: Mir scheint Roehler ungleich inter­es­santer, weil er sich preisgibt, weil er den Mut hat, dass zu machen, was er wirklich machen will, ohne Angst. Während man bei Tykwer, gerade in seinem letzten Film, das Gefühl hat: Der Mann ist voller Angst. Will es allen recht machen. Will irgendwie schicke Filme drehen. Will vor allem die Aner­ken­nung der Kunstwelt, und kleistert seinen Film dann schon fast naiv mit Refe­renzen zu anderen Künsten zu. Eigent­lich war für Tykwer Heaven ein Schlüs­sel­film, schon da trat diese fatale Tendenz zum Bedeu­tungs­kino zutage und verdarb den Film. Fatal ist sie, weil Tykwer das einfach nicht kann. Und was er kann, will er nicht. Er hätte der Johnnie To Deutsch­lands werden können, der in 100 Varianten immer den gleichen Film dreht: Lola rennt. Statt­dessen will er der Antonioni oder Kies­lowski Deutsch­lands werden. Und das kann er nicht. Vielmehr reali­siert man auch in Drei, dass Tykwer noch keinen Langfilm richtig gut zuende geführt hat. Auch nicht Lola rennt, denn das waren genau genommen drei Kurzfilme. So bleibt der Kurzfilm True Tykwers bester Film seit mindes­tens 12 Jahren.

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Anders herum ist es natürlich auch nicht besser: »Was in Deutsch­land so blöd ist: dass Regis­seure, die glauben einen Film ganz gut gemacht zu haben, sich auf dem dann ihr Leben lang ausruhen.« (Eine deutsche Produ­zentin im Gespräch).

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Eine erste vorläu­fige Bilanz des Kinojahrs 2010 ist für Deutsch­land desaströs: Die Zahl der Besucher in den deutschen Kinos ging um fast ein Fünftel zurück, ganz genau um 17,4 Prozent! Der Umsatz­rück­gang beträgt immerhin 8.9 Prozent! Nicht für deutsche Filme, versteht sich, sondern insgesamt. Die Schere zwischen diesen beiden Zahlen dürfte auf insgesamt gestie­gene Eintritts­preise, auf höhere Ticket­preise bei 3D-Vorstel­lungen und viel­leicht ja auch auf höhere Getränke&Speise-Umsätze zurück­zu­führen sein. Die Kino­be­su­cher, die noch gekommen sind, sind offenbar die Zahlungs­kräf­tigen.

Avatar hat das Kino also keines­wegs gerettet. Die Fußball-WM kann an alldem nicht allein schuld sein, und auch die hohen Zahlen vom fast-Rekord­jahr 2009, die eine hohe Hürde darstellen. Knapp 119 Millionen Kino­karten lösten die 80 Millionen Deutschen im letzten Jahr, 2009 waren es noch über 144 Mio gewesen. Der Rückgang hat vor allem etwas mit dem zu tun, was im Wörter­buch der Geld­men­schen »Schwäche der deutschen Filme« heißt.
Sprich: Kein Til Schweiger, kein Bully, und Wickie ist gefloppt. So verbucht man für deutsche Filme 52,4 Prozent Zuschau­er­minus.

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Gründe genug, also, an »Erkun­dungen für die Präzi­sie­rung des Gefühls für einen Aufstand« (Rolf Dieter Brinkmann) zu arbeiten. Oder, mit der lebenden Jules et Jim-Referenz Stéphane Hessel gesagt: »Indignez vous!« Wo bleibt eigent­lich das deutsche »Kino 21«?

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.