Cinema Moralia – Folge 34
Empört Euch! |
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Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen | ||
(Foto: Concorde Filmverleih GmbH) |
Faschismus als – beißende, sarkastische, todernste – Komödie, das darf, im Moral- und Geschmackswächter-Deutschland, natürlich nicht sein, wo man vom »Dritten Reich« nur in Form des andächtigen historischen Heimatfilms erzählt: Völkermord als Daily-Soap. Dabei war Oskar Roehlers Jud Süss – Film ohne Gewissen dieser Film der erste deutsche Spiel-Film seit vielen Jahren, der einmal die Abgründe des Faschismus aufriss, ohne sie schon vorauseilend gleich wieder zuzukleistern. Wie bei Litells »Wohlgesinnten«, wie bei Tarantinos Inglourious Basterds wusste es in Deutschland die Anstandspolizei besser, man empörte sich, und Roehler kam schon bei der Berlinale im Februar 2010 unter Syberberg-Verdacht – als wäre man nicht schon mit diesem einst borniert und unter Niveau umgesprungen. Der Schaum vom Mund spritzte vielen auch gleich in die Augen, darum sahen sie nicht mehr, wie intelligent und subtil Roehler den Komplex des »fascinating fashism« (Susan Sontag) bearbeitete, mit dem Verführungspotential des Nationalsozialismus spielte. Was man Roehler vorwerfen muss, ist nur, dass ihn irgendwann doch der Mut verließ, seinen Ansatz konsequent zuende zu führen – so blieb dann bei allem Spaß doch der Nachgeschmack einer verspielten Chance an diesem besten Film in einem deutschen Kino-Jahr, das sonst höchstens noch Die kommenden Tage zu bieten hatte und das bekannte Autorenkino-reloaded, also ohne Risiko und daher uninteressant.
Am kommenden Wochenende (14.01. – 16.01.2011) nun gibt es eine Tagung an der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Sie trägt den Titel »Geschichtsfälschung oder künstlerische Freiheit?« und beschäftigt sich mit den Filmen von Roehler und Tarantino, bietet aber, wie der Einladungstext, den man nicht völlig ohne bitteres Schmunzeln lesen kann, gut protestantisch formuliert: »die seltene Gelegenheit, den ausschließlich für Forschungs- und Bildungszwecke zugänglichen NS-Spielfilm ›Jud Süß‹ zu sehen, um die verstörend wirkungsvolle Dramatik dieses antisemitischen Melodrams und die Wirkungsmacht seiner Bilder kritisch zu reflektieren.« Hechel, hechel. Wir werden berichten.
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Letzte Woche hatte ich den deutschen Filmkritikerverband noch gelobt für seinen Protest gegen die Verurteilung Jafar Panahis. Heute muss ich mein ganz persönliches Entsetzen äußern: Denn folgende Pressemitteilung erreichte auch mich: Der Filmkritikerverband VDFK nominiert folgende Filme für den Preis »Bester Spielfilm« für das Jahr 2010:
Boxhagener Platz (Regie: Matti Geschonneck)
Das letzte Schweigen (Regie: Baran bo Odar)
Goethe! (Regie: Philipp Stölzl)
Habermann (Regie: Juraj Herz)
Die Fremde (Regie: Feo Aladag!)
Drei (Regie: Tom Tykwer)
Vincent will meer (Regie: Ralf Huettner)
Wir sind die Nacht (Regie: Dennis Gansel)
Diese Nominierungen finde ich tatsächlich eine Schande für den VDFK, und Grund genug für den Verband, sein Nominierungsverfahren oder auch die Zusammensetzung seiner Mitglieder zu ändern. Da ich selbst dem Beirat zum Vorstand angehöre, muss ich wohl hinzufügen, dass es für solche Veränderungen derzeit keine Mehrheiten gibt. Was tun? Ratschläge erbeten.
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Aus der E-Mail eines Regisseurs zu dieser Nominierung: »ich glaube, damit wollen wohl die versammelten deutschen filmkritiker beweisen, dass sie noch bekloppter als die filmakademie sind«. Leider wahr, außer dem schwachen Trost, dass der Verband kaum »die versammelten deutschen Filmkritiker« repräsentiert.
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Ein Gespräch, in dem man Tom Tykwer mit Oskar Roehler verglich: Mir scheint Roehler ungleich interessanter, weil er sich preisgibt, weil er den Mut hat, dass zu machen, was er wirklich machen will, ohne Angst. Während man bei Tykwer, gerade in seinem letzten Film, das Gefühl hat: Der Mann ist voller Angst. Will es allen recht machen. Will irgendwie schicke Filme drehen. Will vor allem die Anerkennung der Kunstwelt, und kleistert seinen Film dann schon fast naiv mit Referenzen zu anderen Künsten zu. Eigentlich war für Tykwer Heaven ein Schlüsselfilm, schon da trat diese fatale Tendenz zum Bedeutungskino zutage und verdarb den Film. Fatal ist sie, weil Tykwer das einfach nicht kann. Und was er kann, will er nicht. Er hätte der Johnnie To Deutschlands werden können, der in 100 Varianten immer den gleichen Film dreht: Lola rennt. Stattdessen will er der Antonioni oder Kieslowski Deutschlands werden. Und das kann er nicht. Vielmehr realisiert man auch in Drei, dass Tykwer noch keinen Langfilm richtig gut zuende geführt hat. Auch nicht Lola rennt, denn das waren genau genommen drei Kurzfilme. So bleibt der Kurzfilm True Tykwers bester Film seit mindestens 12 Jahren.
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Anders herum ist es natürlich auch nicht besser: »Was in Deutschland so blöd ist: dass Regisseure, die glauben einen Film ganz gut gemacht zu haben, sich auf dem dann ihr Leben lang ausruhen.« (Eine deutsche Produzentin im Gespräch).
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Eine erste vorläufige Bilanz des Kinojahrs 2010 ist für Deutschland desaströs: Die Zahl der Besucher in den deutschen Kinos ging um fast ein Fünftel zurück, ganz genau um 17,4 Prozent! Der Umsatzrückgang beträgt immerhin 8.9 Prozent! Nicht für deutsche Filme, versteht sich, sondern insgesamt. Die Schere zwischen diesen beiden Zahlen dürfte auf insgesamt gestiegene Eintrittspreise, auf höhere Ticketpreise bei 3D-Vorstellungen und vielleicht ja auch auf höhere Getränke&Speise-Umsätze zurückzuführen sein. Die Kinobesucher, die noch gekommen sind, sind offenbar die Zahlungskräftigen.
Avatar hat das Kino also keineswegs gerettet. Die Fußball-WM kann an alldem nicht allein schuld sein, und auch die hohen Zahlen vom fast-Rekordjahr 2009, die eine hohe Hürde darstellen. Knapp 119 Millionen Kinokarten lösten die 80 Millionen Deutschen im letzten Jahr, 2009 waren es noch über 144 Mio gewesen. Der Rückgang hat vor allem etwas mit dem zu tun, was im Wörterbuch der Geldmenschen
»Schwäche der deutschen Filme« heißt.
Sprich: Kein Til Schweiger, kein Bully, und Wickie ist gefloppt. So verbucht man für deutsche Filme 52,4 Prozent Zuschauerminus.
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Gründe genug, also, an »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand« (Rolf Dieter Brinkmann) zu arbeiten. Oder, mit der lebenden Jules et Jim-Referenz Stéphane Hessel gesagt: »Indignez vous!« Wo bleibt eigentlich das deutsche »Kino 21«?
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.