68. Filmfestspiele von Venedig 2011
Der Tsunami von Venedig |
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Nur eine halbe Überraschung: Sokurovs Faust | ||
(Foto: MFA+ FilmDistribution / Die FilmAgentinnen) |
Venedig, 10.9.2011, letzter Tag – »Wenn’s nen Tsunami gäbe, wären wir alle verloren auf dem Lido.« Ziemlich unvermittelt sagt Carlos am Maleti diesen Satz. Mag schon sein, aber wie soll’s denn hier einen Tsunami geben? »Wenn in Sizilien ein Vulkan explodiert...« Da liegt doch immerhin ganz Italien dazwischen. »Du hast keine Ahnung, was für Wege Tsunamis nehmen.« Das stimmt natürlich. Das Festival ist offenkundig am Ende.
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Am letzten Tag eine Pressekonferenz mit Lav Diaz. »Dogmatism is really destructive,« sagt er. »Wir brauchen eine Wiedergeburt der Welt.« Auch nichts Neues.
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Aber noch drei Filme, die nicht übersehen werden sollten: Der israelische Beitrag Hahithalfut (The Exchange) von Eran Kolirin blieb zwar am Ende eines ungewöhnlich starken Wettbewerbs ohne Preis, kam aber durchaus gut an. Der Film ist eine intellektuelle Komödie und wirkt am ehesten wie eine humorvolle Version von Antonionis Blow Up: Ein Physiker kommt eines Tages früher als sonst nach Hause, und erkennt nichts wieder. Eine stille Studie über die Ängste eines Menschen vor Veränderungen – ein rätselhafter Horrorfilm ohne Horror. In einem gewissen Sinn trifft diese Beschreibung auch auf Shlomi Elkabetz Edut (Testimony) zu, der in der Nebenreihe Venice Days gezeigt wurde. In statischen Einstellungen, in freier Natur gefilmt, sprechen israelische Schauspieler Aussagen von Palästinensern nach – eine Verschiebung der Perspektiven, zugleich ein repetitiver Film, der auf Dauer einfach langweilig war.
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Das Gegenteil galt für Yolande Zaubermans Dokumentarfilm Would you have Sex with an Arab? was natürlich auch am vergnüglichen Ansatz lag, mit jüdischen wie arabischen Israelis über ihr Liebesleben zu plaudern. Ist zumindest sexuell die Verschmelzung mit der anderen Seite möglich? Während dies einige für tabu erklärten, bejahte die Mehrheit, ohne die Belastungen und den sozialen Druck herunterzuspielen, der folgt, wenn aus einem »One Night Stand« Liebe wird. Wie ernst und traurig das Thema ist, zeigte sich gegen Ende des spannenden Films. Da zeigt Zauberman Passagen aus einem Gespräch mit dem Regisseur und Schauspieler Juliano Mer-Khamis. Es war das letzte Interview seines Lebens, nur Tage danach wurde er von einem Araber ermordet. »Man kann das palästinensische Problem nicht im Bett lösen.« sagt Mer-Khamis, Sohn einer Jüdin und eines christlichen Arabers, und bringt seine absurde Identität auf den Punkt: »Ich habe eine Familie, die in Auschwitz ermordet wurde und ich habe eine Familie, die von denen vertrieben wurde, die Auschwitz überlebt hatten.«
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Erik und Erika – das hört sich an, wie ein Schlagerduo aus den 70ern. Es sind aber die schwedischen Produzenten Erik Hemmendorff von Play, der im Mai in der Quinzaine von Cannes Premiere hatte, und die schwedische Produzentin Erika Wasserman – 2009 hatte sie Man tänker sitt im Forum der Berlinale. Erika hatte ich seinerzeit in Gijon kennengelernt – eine jener schönen Zufallsbegegnungen, wegen derer sich Filmfestivals immer lohnen. Und wir freuten uns, uns jetzt in Venedig wieder über den Weg zu laufen. Erikas ihre Firma Fasad hat in den letzten Jahren mit Ape auch einen zweiten interessanten Film des jungen schwedischen Kinos gemacht. Hier in Venedig läuft der von ihr produzierte Kurzfilm The Track of My Tears 2 von Axel Petersén, als Vorfilm zu Yolande Zaubermans Would you have Sex with an Arab?, der schon wegen seines Titels gut besucht ist.
Alle Schweden – ein paar mehr saßen noch in der Runde, darunter Play-Regisseur Ruben Östlund – waren im Gegensatz zu mir vom schwedischen Wettbewerbsbeitrag Tinker, Tailor, Soldier, Spy nicht begeistert. Obwohl sie alle selbst stylische Filme machen, konnten sie Thomas Alfredsons Style-Statement nichts abgewinnen. »Ich habe mich ganz schön gelangweilt, und wusste nie, was das alles soll«, meinte Erika.
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»Es gibt viele Filme, die in den vergangenen Jahren mit einem Hauptpreis nach Hause gegangen wären, die diesmal leer ausgehen mussten.« meinte Jurypräsident Darren Aronofsky zu Beginn der Preisverleihung.
Wo er recht hat, hat er recht. Aronofsky bestätigte damit den unter den Besuchern allgemein verbreiteten Eindruck eines sehr starken Wettbewerbsprogramms, in dem eine ganze Reihe herausragender Filme gezeigt wurden. Zugleich fehlten die ganz klaren Höhepunkte ebenso, wie
der Variantenreichtum, der Venedig sonst auszeichnet. Die Filme waren einander sehr ähnlich. Es gab zwar ziemlich wenig Enttäuschungen, andererseits aber gar keine Entdeckungen – außer dem bisher nur Kennern bekannten Chinesen Cai Shangjun.
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Der Goldene Löwe für den Russen Alexander Sokurov und dessen Film Faust war somit am Samstagabend nur eine halbe Überraschung. Bei der Mehrheit der Kritiker war der Film gut angekommen, nicht alle sahen in dem Film zwar den besten Film, doch auch im Hinblick auf das Gesamtwerk Sokurovs gehörte er zum engeren Favoritenkreis.
Die Dramaturgie der Preisverleihung war dann interessant: Alle Favoriten wurden nacheinander herausgekegelt: Zuerst Andrea Arnold, dann der – sichtbar enttäuschte – Grieche Yorgos Lanthimos, dann Sono Sion – für viele wegen der politischen Aktualität des Erdbebens ein Geheimfavorit –, dann Steve McQueens Shame und Ann Huis A Still Life durch die Schauspielpreise, und als der Regiepreis an Cai Shangjun ging konnte man ahnen, wer übrigblieb.
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Für den 60jährigen russischen Autorenfilmer Alexander Sokurov ist dies nach rund 50 Filmen (unter anderem Russian Ark, Moloch) und ersten Würdigungen für sein Lebenswerk, wie dem »Master of Cinema«-Award des Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg im Jahr 2006, tatsächlich die erste große internationale Auszeichnung – und eine überfällige Anerkennung Sokurovs.
Dieser nutzte die Gelegenheit der Preisverleihung sofort zu einem Appell an die europäischen Kulturpolitiker: »Kultur ist kein Luxus, sie ist eine Notwendigkeit. Aber ohne Hilfe des Staates und öffentlicher Institutionen lässt sich unsere Kultur nicht bewahren.« Und schob auf Nachfrage gleich eine scharfe Kritik der deutschen Förderung nach, die »Faust« nicht fördern wollte: »Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland das Interesse für die klassische Kultur nicht sehr stark ist, noch nicht einmal für die eigene.« Zur Erinnerung: Faust ist eine sehr freie Adaption vom ersten Teil von Goethes Drama, gedreht im Stil alter Stummfilme, mit starken Anleihen an das große Vorbild F.W.Murnau und dessen Faust-Film von 1926.
In der Pressekonferenz betonte Sokurov außerdem, dass ihn visuelle Fragen weitaus mehr interessierten, als inhaltliche – was jedenfalls einige Merkwürdigkeiten seines Films erklärt: »Das Bildformart, die Farben, die ganzen visuellen Aspekte sind meine Hauptarbeit. In welcher Farbe drücken sich die Deutschen aus? Ich habe die Ideen für das visuelle Konzept meines Films auf deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts basiert.«
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Kurz nach der Preisverleihung kursierten dann die ersten Verschwörungstheorien: »Aronofsky ist ja ein halber Russe« meinte Carlos, wie ich auch eher ein Faust-Agnostiker. »Der ist in Little Odessa aufgewachsen. Du hättest mal sehen sollen, wie sich Sokurov und Aronofsky geküsst haben nach der Preisverleihung« – was alles stimmt. Aber natürlich noch nichts beweist, nur Sympathien erklärt.
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Im Nachhinein ist man immer klüger, und daher könnte man nun auch etwas anderes sagen: Es überrascht überhaupt nicht, dass einer, der Filme wie The Fountain und The Wrestler gemacht hat, einen Film wie Faust gut findet. Denn Faust ist genauso prätentiös wie die Filme von Aronofsky; was hier dominiert, ist eine genauso altmodische Vorstellung von Kunst, wie in The Wrestler – dass Kunst mit Blut Schweiß und Tränen zu haben muss, dass sie hässlich sein muss, um groß zu sein –, und genau so eine schlichte, esoterisch angehauchte Vorstellung von Metaphysik und Transzendenz, wie in The Fountain. Um an dieser Stelle den erklärten Sokurov-Fan Guiseppe Rapido zu zitieren: »Man glaubt ja nur, dass die Leute,. die in so einer Jury sitzen, viele Filme kennen würden. Aber Regisseure kennen gar nichts. Die sehen ganz wenig Filme.« Ja ja, man kann sich das schon vorstellen, wie die Jury da saß: Ich versteh’s nicht, also muss es wohl tief sein. »Oh... that must be art«.
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So ähnlich fand es auch Viennale-Direktor Hans Hurch am Abend: Es wirke, als hätten die Amerikaner in der Jury beweisen wollen, dass sie viel von Kunst verstehen.
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Andererseits geht der Goldene Löwe auch völlig in Ordnung. Sokurovs Film ist zusammen mit Alpeis der originellste Film im Wettbewerb, ein Werk mit singulärer Handschrift, das große Menschheitsfragen berührt, und eine sehr eigene Vision der Welt bietet. Das kann man nun fast alles zwar auch über People Mountain People Sea sagen, und vielleicht noch über zwei, drei andere Filme, aber am Ende musste sich die Jury halt entscheiden. Und da Cai Shangjun mit dem Regiepreis die zweitwichtigste Auszeichnung bekommen hat, ist offenkundig, dass es sich am Ende zwischen diesen beiden Filmen entschied.
Beide Filme haben zumindest inhaltlich mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint: Es sind Höllenfahrten, es geht um Suche und Versuchung, das Bild der Welt ist eines von Chaos, Zweifel und Verzweiflung.
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Ästhetisch musste hier zwischen zwei Auffassungen von Kino entschieden werden, zwischen denen kein Kompromiss möglich ist. Zugespitzt gesagt: Behaupten oder zeigen, fragen oder antworten, magischer Realismus oder Magie der Realität. Was lässt sich aus dieser Preisverleihung noch herauslesen? Eine klare Absage an Hollywood.
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Keineswegs muss man daher nun so weit gehen, wie Guiseppe Rapido, dem vor lauter Freude – wes Herz voll ist... – aus meiner Sicht die Gäule durchgehen, wenn er nicht nur von einem »glücklichen Abschluss des Festivals« spricht, von einem »großen positiven Knall, den diese grandiose Preisentscheidung hinterließ«, sondern gleich den ganzen Wettbewerb in die Tonne tritt: »äußerst durchwachsen« sei die diesjährige Auswahl des Festivals gewesen. Ja – entwertet das denn nicht Sokurovs Sieg?
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Die Venedig-Sendung von »ttt« am Sonntag im ersten Programm, beginnt mit der Ankündigung einer Warnung vor den Filmen, »die sie auf keinen Fall sehen sollten«. Da liegt »ttt« doch ein ziemlich spießiger Begriff der eigenen Tätigkeit zugrunde. Kritik nicht als Nachdenken und Entdeckung, sondern als Gastrokritik, als Institution, die säuberlich zwischen Gut und Schlecht scheidet.
Polanskis Film wird als »polnische Verfilmung« beschrieben. Naja. Macht Fatih Akin
türkische Filme?
Auffällig ist, das »ttt« vor allem Filme bespricht, die aus Hollywood kommen, und offenbar eine deutsche Synchronisation liefern konnten. Daneben werden kostbare Minuten mit einem Pacino-Portrait aus der Konserve verschwendet, mit billigem Madonna-Bashing, dann immerhin etwas über italienische Künstlerproteste gegen Kulturpolitik. Aber vor der Aufgabe, dem Kulturereignis der Mostra aber auch nur ansatzweise gerecht zu werden, kapituliert die ARD, denn sie berichtet nicht wirklich. Nur ein einziger Preisträgerfilm kommt vor, und der nur, weil es um Michael Fassbender geht. Ansonsten: Venedig ist Soderbergh und Polanski und Pacino. Muss das eigentlich sein?
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Einmal mehr bestätigte die Mostra von Venedig in diesem Jahr ihren Platz als klare Nummer zwei unter den Filmfestivals der Welt. Im Vergleich mit diesem Programm kann die Berlinale nicht mithalten. Aber auch die Mostra blickt wieder einer unsicheren Zukunft entgegen: »Es ist etwas zuende« sagte Festivalleiter Marco Müller am letzten Abend in viele Mikrophone. »Sie lieben mich nicht.« War das ein Abschied des am längsten amtierenden Leiters der Festivalgeschichte, der es sich auf dem Schleudersitz gut eingerichtet und die Mostra verändert hat, wie keiner vor ihm? Oder nur der neueste Zug einer Diva im unendlichen italienischen Pokerspiel?
Mehrere österreichische Zeitungen melden: »Filmfestival muss neue Leitung suchen, … Direktor Marco Müller lässt freiwillig mit Jahresende seinen Vertrag auslaufen.« Das war voreilig. Variety meldet: »Though Mueller says he plans to go back to producing, he is expected to instead make a bid to be reupped.«
Ohnehin wird die instabile Situation der italienischen »Politik« die Entscheidung hinauszögern.