16.02.2012
62. Berlinale 2012

»Ich liebe es, im Kino zu lügen«

Ziegen zeigen Wahrheit

Von Zebras, Ziegen und der schwie­rigen Suche nach Wahrheit: Doku­men­tar­filme auf der 62. Berlinale

Von Dunja Bialas

Das Hämmern hört überhaupt nicht mehr auf. Wumm, wumm, wumm, schlagen die Pranken an die verschlos­senen Eisen­türen. Rebellion der einge­sperrten Löwen im kana­di­schen Safari-Park. Vorher haben wir einen von ihnen gesehen. Seine asch­blonde Mähne hing ihm traurig ins Gesicht. Der König der Tiere, ohne Würde, seines Stolzes beraubt.

Jedes Bild im Film des Kanadiers Denis Côté birgt in sich den Skandal. Bestiaire, deutsch »Bestia­rium«, ist eine Bilder­samm­lung von exoti­schen Tieren in der Gefan­gen­schaft. Der Film beginnt im Winter, die Tiere sind in ihre Zellen gesperrt. Klare Anzeichen von Hospi­ta­lismus sind erkennbar: die Lamas, die den Zaun entlang streifen, hin und her. Der Kondor, der nur noch einen Flügel hat. Dazu die Zoowärter, die wie Gefäng­nis­wächter regungslos vor den Käfig­türen der Tiere verharren. Jedes Bild trans­por­tiert genügend Potential, um alle Brigitte Bardots der Welt gegen die Tier­hal­tung im Safari-Park aufzu­bringen. Wie aber hat Denis Côté dann überhaupt diesen Film machen können, so ganz ohne versteckte Kamera? Mit, im Gegenteil, sorg­fältig kadrierten Bildern, die der Schönheit des Schreck­li­chen eine Bühne ausge­feilter Ästhetik bereit­halten.

Denis Côté ist sichtlich erfreut, als ihm nach der Vorstel­lung seines Films die empörten Zuschau­er­re­ak­tionen entge­gen­fliegen. Es dauert eine ganze Weile, bis er vers­tänd­lich machen kann: Was hier wie eine Doku­men­ta­tion skan­dalöser Zustände in einem nord­ame­ri­ka­ni­schen Tierpark aussieht, ist in Wirk­lich­keit eine Fiktion über Tier­hal­tung, aufge­laden mit Inter­pre­ta­ti­ons­an­ge­boten an den Zuschauer. »Inter­pre­ta­ti­ons­an­ge­bote« ist im Fall von Denis Côté aller­dings etwas euphe­mis­tisch formu­liert. Er stellt dem Zuschauer Fallen, und dieser kann gar nicht anders, als in jene hinein­zu­tappen, vom Regisseur gefangen genommen zu werden wie die Tiere im Käfig.

Klar seien die Bilder nicht nur Fake. Klar habe er die Aufnahmen im Zoo gemacht, sie sich von der Zooauf­sicht auto­ri­sieren lassen. Sie entspre­chen also einer »Wahrheit«, einer Wirk­lich­keit, wie man sie vorfinden kann. Aber – der Ton zu den Bildern sei fast gänzlich im Studio entstanden, so Côté, es ist ein synthe­ti­scher Ton, der die Bilder mit der Konno­ta­tion »Gefan­gen­schaft« auflädt. Haben wir wirklich gesehen, dass die Pranken der Löwen gegen die verschlos­sene Eisentür schlagen? Woher nehmen wir die Formu­lie­rung, sie seien aufge­bracht oder traurig? Die Zoowärter habe er ange­wiesen, in eine bestimmte Richtung zu gucken, dazu nichts zu tun. Im Monta­ge­zu­sam­men­hang ergibt dies: sie sind teil­nahmslos, uner­bitt­lich, herzlos. »Ich liebe es, im Kino zu lügen«, sagt Côté augen­zwin­kernd. Mit seinen Lügen wolle er den Zuschauer dazu bringen, das Gesehene zu revi­dieren, die Aufnahmen als Trug­bilder zu erkennen und die eigene Wahr­neh­mung als Inter­pre­ta­tion zu hinter­fragen. Darum ging es ihm in diesem Film, und dies ist ihm gelungen. Die Schönheit des Schre­ckens, die seine Bilder in sich tragen, hätten ein Signal sein können für die Hinter­fot­zig­keit seines Vorhabens: Zu Beginn des Films sehen wir eine Zeichen­klasse, die ein ausge­stopftes Reh abzeichnet. Tiere im Gestal­tungs­willen des Menschen, die Bilder davon. Nichts anderes heißt schließ­lich »Bestia­rium«: das Bild gewordene Tier, mit einer Legende dazu, um das Bild zu verstehen.

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Das Hinter­fragen von Bildern zog sich durch viele der Doku­men­tar­filme, die auf der dies­jäh­rigen Berlinale zu sehen waren. Das Hinter­fragen von Bildern, oder ganz allgemein: das Hinter­fragen.

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No Man’s Zone des Japaners Fujiwara Toshi durch­misst die Sperrzone um Fukushima. Der Film beginnt am Meer, zeigt die Zers­törung des Ortes durch den Tsunami. Hier wurde nicht aufgeräumt, es wird auch nicht mehr aufgeräumt werden. Unzählige Leichen vermutet der Filme­ma­cher unter den Trümmern, die Tragödie ist offen­sicht­lich. Toshi hat einen Off-Kommentar geschrieben, spricht mit ruhiger, manchmal vereb­bender Stimme seine Refle­xionen aus. Er reist weiter, ins Landes­in­nere. Wir kommen in Orte, die noch zur Hälfte stehen, die außerhalb der Reich­weite des Tsunamis lagen, die nur das Erdbeben abbe­kommen haben. Toshi unterhält sich mit Menschen, die gekommen sind, um ein paar Sachen aus den noch zur Hälfte stehenden Häusern zu holen. Sie sprechen darüber, wieviel es kosten würde, die Häuser zu reno­vieren. Die Entschä­di­gung durch die Regierung wird nicht langen. Dennoch: ihr Haus versehen sie mit einem Schild: »Ich bin der Eigen­tümer dieses Hauses. Nicht abreißen.« Eine Anweisung für den Abriss­trupp, der in wenigen Tagen in den Ort kommen wird, und zerstören wird, was bereits zerstört ist. An anderen Häusern ist zu lesen: »Ich bin der Eigen­tümer dieses Hauses. Abreißen.«

Toshi nimmt sich viel Zeit für die Menschen, die er antrifft. Es sind nur wenige Begeg­nungen, die stell­ver­tre­tend stehen für all die anderen Menschen, die abwesend sind aus den Orten. Toshi schält aus dem Gespro­chenen nicht das drama­ti­sche Einzel­schicksal der Betrof­fenen; durch die Ruhe und die Art der Frage­stel­lung erhalten die Aussagen der Menschen eine Allge­mein­gül­tig­keit, die über das Gesagte hinaus­geht. Weiter geht es, weiter weg von Fukushima, an den Rand der evaku­ierten Zone, in die Region, die erst ganz spät in die Sperrzone kam. Es ist eine ländliche Gegend, es ist Frühling, die Natur steht in voller Blüte. Das Trüge­ri­sche der Bilder: die Kata­strophe ist nun unsichtbar geworden, dabei ist die Radio­ak­ti­vität um ein Viel­fa­ches höher als in der Region rund um Fukushima. Nur das Wissen darüber kann die Bilder umkehren, kann ihnen das Idyl­li­sche nehmen.

No Man’s Zone war einer der drei »Fukushima«-Filme, die auf der Berlinale zu sehen waren. Anders als Nuclear Nation sucht er nicht die Menschen auf und ihre Schick­sale, sondern befragt das Verlas­sene, das von dem vergan­genen Leben der Menschen dort zeugt, macht anders als durch die Worte der in Nuclear Nation Befragten den Verlust durch Bilder sichtbar. Durch die Leere der Städte. Durch die Stille der Land­schaft. Durch das grelle Zwit­schern der Vögel, das überlaute Summen der Insekten in der nicht mehr kulti­vierten Natur. No Man’s Zone ist ein filmi­scher Film, einer der auf die Bilder setzt und auf den Ton, Nuclear Nation dazu ist der doku­men­ta­ri­sche Film, einer, der Bestands­auf­nahmen macht und die Berichte der Menschen sammelt, eine uner­mess­liche Vielzahl an Schick­salen. Auch in No Man’s Zone geht es um das Lügen. In diesem Fall log einem die Natur ins Gesicht. Das Bild auch hier ein trüge­ri­sches. Die Kata­strophe ist unsichtbar.

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Bilder revi­dieren, Gehörtes hinter­fragen, recher­chieren, nachhaken. Dem Gehörten miss­trauen, das Gesehene anzwei­feln: Romuald Karmakar und Philipp Scheffner, so unter­schied­lich ihre Filme sind, inter­es­sieren sich für ähnliche Zusam­men­hänge.

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Scheffner hat in Revision, so heißt sein Film, einen Mordfall rekon­stru­iert, der sich vor 20 Jahren an der deutsch-polni­schen Grenze abspielte. Zwei Rumänen, die mit einem Flücht­lings­tross über die grüne Grenze kamen, wurden von Jägern im Morgen­grauen erschossen. War es ein Jagd­un­fall? War es ein Angriff auf die Uner­wünschten, auf dieje­nigen, deren Haus später abge­fa­ckelt werden wird? Scheffner trifft die Familie, den Anwalt des einen Ange­klagten. Aber ihm geht es nicht wirklich darum, einen Fall wieder aufzu­rollen. Scheff­ners Filme haben immer etwas Speku­la­tives, etwas, das von dem Vorge­fun­denen ausgehend hinter die Tatsachen blickt. Seine Filme reflek­tieren die verbor­genen Zusam­men­hänge, revi­dieren die angeb­liche Wirk­lich­keit, um andere Wirk­lich­keiten anzu­treffen. Die dem Alther­ge­brachten etwas entge­gen­halten. Wirk­lich­keit, so erkennen wir bei Scheffner, ist Ansichts­sache. Manche sehen nur das, was sie sehen wollen. Andere Blicke aber bringen andere Wirk­lich­keiten hervor.

Das Hinter­fragen ist zentral in dem Film, den Romuald Karmakar im Panorama vorstellte. Angriff auf die Demo­kratie – Eine Inter­ven­tion heisst sein Film ganz akade­misch. Zehn Frauen und Männer treten in alpha­be­ti­scher Reihen­folge vor ein Mikrophon und lassen das Stakkato ihrer Gedanken ertönen. Sie sind Teil­nehmer eines Sympo­siums, das im Dezember 2011 in Berlin stattfand über den Zustand unserer Demo­kratie. Karmakar, der selbst Teil­nehmer an diesem Symposium war, hat die Aufnahmen, die die Veran­stalter zu Doku­men­ta­ti­ons­zwe­cken machten, zu einem Film montiert. Ähnlich wie seine Sprech­filme Hamburger Lektionen und Das Himmler-Projekt, steht hier allein das gespro­chene Wort, die Sprache und seine Sprecher im Raum. In der Montage hat Karmakar alles Ablen­kende heraus­ge­schnitten, das Klatschen, die Zuschauer, das Auf und Ab auf der Bühne durch die Teil­nehmer, das Warten zwischen den Beiträgen: volle Konzen­tra­tion auf den Inhalt. Manche »Inter­ven­tionen« sind sehr elabo­riert und abstrakt, andere sind anschau­lich-konkret, immer geht es darum: Was können wir wissen über die Zusam­men­hänge von Wirt­schaft und Gesell­schaft? Welchen Aussagen können wir vertrauen? Sind wir nicht schon längst zur Paradoxie des unmün­digen Bürgers degra­diert worden? Nach­fragen, nach­fragen, nach­fragen!, heißt einer der Appelle der Vortra­genden. Karmakar spricht mit dem, was seine Sprache ist: er zeigt den Sympo­si­ums­teil­neh­mern einen Film. Zu sehen ist eine Alpen­wiese, Ziegen, die in unter­schied­li­chen Konstel­la­tionen grasen. Ganz vorne hat sich eine auf einem Stückchen Erde nieder­ge­lassen. Die Ziegen grasen, die eine liegt. So geht das eine Weile. Dann kommt Bewegung in das Bild: Eine Ziege bewegt sich nach vorne, zuerst zögerlich, dann folgen die anderen Ziegen ihr. Die Bewegung geht zum unteren Bildrand, bis sie verschwindet. Auch die Ziege, die lag, ist ihnen gefolgt, das Bild ist leer. Der Film heißt: »Ralph N. Elliott entdeckte, dass die Bewegung der Märkte allein durch das psychi­sche Verhalten der Markt­teil­nehmer wieder­ge­geben wird.« Schöner als Karmaker kann man nicht visua­li­sieren, was sich im Verbor­genen abspielt.