Willmann ist sich einig: The Past Makes a Lovely Present |
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Das Video-Tape als Sehnsuchtsmedium: The Shining, in Room 237 |
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(Foto: Rodney Ascher) |
Von Thomas Willmann
Werte Frau Edelmann,
so sitze ich nun also im kaltgrauen, windigen Wien und erkunde die Auswirkungen einer Käsekrainer/Trzesniewski-Brötchen/Dragee Keksi/Bier-Diät auf die menschliche Physiognomie, alldieweil Sie im verschneiten, so heimischen wie heimeligen München an Lebkuchen knuspern und knäusern.
Ja, welch ein Jammer, dass die Viennale sich vor Ihnen zuerst so unverschämt verführerisch geräkelt hat, Ihnen kokett Blicke zu blößen schien auf Michael Caine in Person, die Kubrick-Doku Room 237 und allerlei Feines in schönsten Lichtspielhäusern. Nur um dann plötzlich die Eiskönigin rauszukehren und zu meinen: »Nein heißt nein. SIE schreiben uns nicht über unser Festival!« Und Ihnen, werter Frau Edelmann, das bittere Los der Akkreditierungslosigkeit beschied.
Nun muss ich also mit mir selbst einig sein. Was – Sie wissen es – nicht immer einfach ist. Und es bleibt ewig offen die Frage, ob sich, wie einst hier, in Wien dieses Jahr
wieder einer jener seltenen Filme gefunden hätte, über den wir nicht d’accord gehen.
(»Dragee Keksi« übrigens, falls Sie sich wundern, ist die diesjährige Gratis-Süßigkeit, die in handlich-rascheligen Tütchen-Portionen in den Kinos verteilt wird. Eine durchaus leckere Rettung vor dem Unterzucker, wenn man es zwischen zwei Filmen nicht ins Prückel schafft. Und ja, das heißt wirklich offiziell so. »Dragee Keksi«. Hihi.)
Was Sie sicher am meisten interessiert ist: Wie war Michael Caine?
Und ich traue mich kaum, es ausführlich zu berichten. Möchte ich doch nicht noch mehren Ihren Schmerz. (Weswegen ich im Bisherigen wie im Folgenden auch auf jegliche Kalauer auf Ihre Kosten mit »zurückgeblieben« verzichte. Wogen der Dankbarkeit bin ich mir gewiss...!)
Weil: Ja, freilich, er war toll! Es war großartig! Ein Erlebnis fürs Leben, usw. – und Sie sehen: Sie wollen das jetzt eigentlich gar nicht
hören.
Und selbst mir wird es flau, wenn ich bedenke, wie knapp das auch bei mir war! Weil das Mantra »Wir sind ein Publikumsfestival« gilt – wir sind in Wien – ja nun bitt'schön auch nur, bis der Herr Professor Magister Caine kommt, und man den Saal zum einzigen öffentlichen Auftritt zum Großteil füllt mit geladenen Gästen, weil, man kennt sich ja, und Habe die Ehre, und da muss der Herr Geheimrat doch, usw., und so fort. Und ich glaube, es waren weniger meine Drohungen,
mich an die Filmrollen von Sleuth zu ketten, als die Strategie, mich mit hungerndem Hundeblick vor dem Protokoll-Büro zusammenzurollen und ganz erbärmlich zu wimmern, wann immer jemand mit einer Einladung zur Gala herauskam, die die Hüter über den Zutritt letztlich, nun ja, wohl weniger im eigentlichen Sinne überzeugt, als schlicht mehr ermüdet und zermürbt hat. Kurz: Ich war
drin!
Und »Mister Sir Michael Caine« (Hans Hurch) war genauso eindrucksvoll, charmant, selbstironisch, hinreißend usw., wie unsereins sich das schon erhofft hatte. Vielleicht reißt er ja in Wirklichkeit in seiner Freizeit heimlich kleinen Kätzchen die Gliedmaßen aus, genüsslich langsam, wer weiß – aber was er da auf der Bühne an Persona projiziert hat, das war so, um es auf Wienerisch zu sagen, ursympathisch, dass es keinen schweren Lidschlag lang an der Überzeugung
gekratzt hat, dass er wirklich einfach einer der good guys ist, Punkt. (Und somit so oder so dann: Großartiger Schauspieler!)
Und jetzt könnte ich mich ja schon hinreichend und ausführlich über die Freude auslassen, im selben Raum, nur ein paar Meter von Michael Caine entfernt gewesen zu sein. Und zu erleben, wie er just jene Imitation seiner unzähligen Imitatoren live vorführte, von der Sie mir unlängst als YouTube-Clip berichteten. (»Oi don’t tahlk loike 'at«, findet
er...) Und ihn dann zu hören, wie er John Wayne imitiert, wie der einst – lange Geschichte – den Hamlet-Monolog vorlas. ('To be. Or not. To be. That is. The Question. Whether it is...' Who wrote that shit?)
Aber wissen Sie, was an dem Abend noch schöner und hinreißender und beglückender war als all das?
Zu erleben, dass Michael Caine selbst ein Fan war und ist. Genauso starstruck wie unsereins. Und mit einer kindischen, wangenglühenden, diebischen Begeisterung
für die Begegnung mit SEINEN Idolen.
Viele der Anekdoten, die er in großer Erzähllaune über fast eine Stunde zum Besten gab – und ja, gut, die meisten stehen schon so in einer seiner beiden Autobiographien, sind für ihn als Nummern abrufbar, aber bitteschön, der Mann ist bald 80, und dafür noch erstaunlich wenig zur Erinnerungsrepertoire-Jukebox verkommen –, viele dieser Anekdoten also drehten sich darum, wie er selbst versucht hat, diesem oder jenem Star näher zu
kommen. Wie er in seiner Anfangszeit in Hollywood mit großen Augen durch die Hotellobbys in Beverly Hills gestrichen ist, auf Ausschau nach seinen Leinwandhelden. (John Wayne war einer der ersten, die er tatsächlich kennenlernte.) Wie er sich auf die Sets von Some Like It Hot und The Prince and the
Showgirl schlich, um einmal Marilyn Monroe in Person zu sehen – leider erfolglos.
Und über die Bestätigung der Erkenntnis hinaus, dass da keine wahrhafte, tiefere Trennung ist zwischen jenen Menschen, die ihre Träume auf die Leinwand bringen, und jenen, die sie von der Leinwand empfangen, sondern eben alles schlicht normale Menschen sind, und es nur drauf ankommt, was man macht... – nun, darüber hinaus war das Schöne am Erlebnis »Michael Caine, Filmfan«: Dieses
Gefühl der Staffelübergabe zwischen den Generationen. Wayne inspiriert Caine, Caine inspiriert Jude Law, der inspiriert... usw. Menschen werden eben nicht als Filmstars geboren – das Kino zeugt diese selbst, pflanzt ihnen die Träume, Wünsche, Leidenschaften ein. Es ist wie ein gutartiger Virus, der die Empfänglichen, die sich zu oft der Leinwand aussetzen, befällt, und sie transformiert, bis sie ihn einst selbst weiterverbreiten.
Und vielleicht kann man das Besondere
an Michael Caine auch so formulieren: Selbst nach vier Jahrzehnten als Star ist er noch immer höchst ansteckend.
Das war auch insofern ein idealer Auftakt, weil sich inzwischen herausgestellt hat, dass durch diese Viennale – jedenfalls für meinereiner – ein unterschwelliges Motiv- und Themengespinst (respektive: Knäuel) wuchert, in dem immer wieder Fragen der Vergänglichkeit, der Zeitenwenden, der Rückkehr von Vergangenem, der Beharrlichkeit und der Ablösung sich zeigen, ziehen, ballen, knoten, blub und blah, usw. Ich hoffe, dass ich das noch ein wenig aufgedröselt, auseinandergezupft bekomme. Aber, werte Frau Edelmann, erlauben Sie mir zunächst einfach, nach dem ein oder anderen losen Ende zu picken und ein wenig daran zu zerren, in der Hoffnung, dass es mich vielleicht irgendwohin führt.
Und Sie ahnen eh, was jetzt kommt. Weil Sie ja, s.o., schmerzlich gut über das auf der Viennale Gebotene informiert waren und sind. Und wenn ich jetzt schon so um das Wort »Ariadnefaden« herumscharwenzele, dann freilich weil: The Shining.
Keine Angst, ich habe nicht vor, mich zu tief in dieses Labyrinth der Zeichen zu begeben. Dieses Epistel will ja a noch dieses Jahrzehnt und b in
maximal zweistelligem Seitenzahlenbereich absendefertig sein. Und was soll ich auch einer, gleich mir, praktizierenden Gläubigen der »Church of Stanley« – heilig, heilig! – predigen. (Aber wissen Sie, werte Frau Edelmann, was einmal lustig – für noch zu definierende Werte des Begriffs »lustig« – wäre? Ein »Edelmann und Willmann sind sich einig«-Text über einen Film von Kubrick. Hätten Sie die nächsten paar Jahre Zeit?)
Nein, nun, also aber kurz (haha!) zu
The Shining.
Bzw. Room 237. Jener »Doku« (der Film war eher ein, äh... Essay) über The Shining, die ich, gleich nach Michael Caine im mitternächtlichen Double Feature vor The Shining im Gartenbaukino gesehen habe.
Um mit Magnum zu sprechen: »Ich weiß, was Sie jetzt denken«. Hatte ich zunächst insgeheim auch gedacht. Nämlich: »Ja schön – aber was will uns ein Film über The Shining bitte noch groß beibringen?« Man kennt ja doch diese gewöhnlichen Dokumentationen über
Meisterwerke, die schön staatstragend wohlvertraute Anekdoten sammeln und dann vielleicht noch einen Filmwissenschaftler kurz andeuten lassen, dass man womöglich über den ein oder anderen Aspekt noch ein bisserl länger nachsinnen könnte. Und der beflissene Bildungsbürger sagt »Ah!«, und unserseins sagt »Gähn!«.
Nicht so Room 237. Der nimmt es als gegeben hin, dass The Shining ein großer, komplexer, phänomenal rätselhafter Text ist. Und führt in sehr clever bebilderten (Bava/Argentos Demoni, hurrah!) Monologen diverser Shining-Exegeten vor, wie man versuchen kann, ihn zu lesen.
Da ist freilich auch viel Bekanntes und Bestätigtes dabei –
wie durchdrungen der Film etwa ist von Anspielungen auf den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern, oder von Labyrinthen in unzähligen Gestalten. Aber auch für uns, die bei den »Calumet«-Dosen nicht mehr »Ach was!« rufen, finden sich etliche neue Details. Hatten Sie, werte Frau Edelmann, schon bemerkt, dass in Stuart Ullmans Büro mit seinem großen, hellen Fenster, von der Topologie des Hotels her unmöglich ein Fenster sein kann? Ich nicht, obwohl es so offensichtlich
ist, wenn man’s mal weiß, und ich eigentlich kaum einen Filmort so genau glaubte zu kennen wie das Shining-Hotel. Haben Sie schonmal drüber nachgedacht, was für eine völlig seltsame Figur Bill Watson ist? Hatten Sie den Gag mit dem zerquetschten roten VW-Käfer verstanden? Ist Ihnen schon das mal ganz kurz zu sehende Bild an der Wand von dem Indianerhäuptling mit der Büffelkopf-Mütze
aufgefallen – der natürlich zugleich der Minotaurus ist?
Ich weiß, ich weiß, Sie sagen jetzt wie üblich: Ja, gewiss. Ihnen nicht?
Ist in Ordnung.
Aber so oder so behaupte ich: Auch für Sie wäre Neues geboten.
Doch das ist noch nicht der Punkt. Das allein würde Room 237 schon sehenswert machen. Aber richtig toll wird er, weil es ihm nicht um einzelne Lesarten geht, und wie gut sich das, was sie behaupten, am Film selbst belegen lässt. Es ist erst die Häufung der Interpretationen, die ohne Kommentar und in schöner Ausführlichkeit dargeboten werden, die The Shining wirklich nahekommt, seiner Größe gerecht wird.
Room 237 demonstriert im Extrem, was wir aus eigener Erfahrung schon wussten: Wie sehr man sich in The Shining verlieren kann. Wie sehr der Film dem Hotel
gleicht, einen schluckt, wahnsinnig macht. Inmitten all der Mikro-Beobachtungen, komplexen Deutungen, zu denen wir Kubrick-Getauften mal wissend, mal anerkennend nicken, gibt es hier etwa auch eine verstiegene Theorie, die The Shining komplett als geständnishafte, autobiographische Aufarbeitung von St. Stanleys Fälschung der Mondlandung liest. Und das wirklich Verrückte: Ihre
Argumente klingen, für sich genommen, nicht unplausibler als jene der anderen Deutungen.
Die Grenzen sind fließend zwischen close reading und purer Paranoia, bei The Shining.
Aber genau damit ist man tatsächlich bei dem, was der Film ist, ihn ausmacht: The Shining ist nicht darauf aus,
eine bestimmte Lesart zu provozieren. Er will nicht, es gibt nicht die eine »richtige« Interpretation. (Und auch nicht die zwei, drei konkret hineincodierten.) The Shining ist vielmehr eine Art Maschine zur Produktion von Lesarten. (Ich fürchte, die Formulierung könnte ich, aus anderem Zusammenhang, von Eco haben – das wissen Sie jetzt wieder besser. Aber eh:
Darum geht es, diese endlosen Echos!) Alles ist überdeterminiert, ist zigfach und kreuz und quer aufgeladen mit Bedeutung, mit Verweisen, mit Resonanz. Dannys Apollo 11-Pullover zeigt auf die »New Frontier« (und damit zu Ullmans Kennedy-Frisur), und somit zur alten Frontier, und den Indianern, und die Rakete gleicht einem Pfeil, und dabei genau jenem Dekor an der Wand im Foyer, und Pfeil heißt aber auch »Richtung«, und damit sind wir bei der für den Film so enorm wichtigen Topografie, und
dem Labyrinth – und aber halt, gottverdammt, auch sehr direkt bei der blöden Mondlandung! Und man kann Tage damit zubringen, das Red-White-and-Blue durch den Film zu verfolgen, und dann klinkt sich aber immer wieder gern eine Farbe aus (vor allem das Rot), und schon ist man in anderen als nur US-amerikanischen Kontexten drin. Jede Schrift, jedes Wort, jedes Dekor – alles ist lesbar, deutbar, alles passt und verwirrt einen zugleich.
Room 237 erfasst das, demonstriert das – und begreift damit besser als fast alles andere, was ich an Sekundär-Texten kenne, das Prinzip nicht nur von The Shining sondern des späten Kubrick: Die Konstruktion von enorm kulturell aufgeladenen Resonanzgebilden. Keineswegs beliebigen – welche Themen,
Kontexte angestoßen werden ist durchaus begrenzt, bewusst, ausgewählt. Aber halt überhaupt nicht auf so etwas wie eine »Aussage« beschränkt. Diese Filme – The Shining allen voran, auch wenn ich das selbst erst sehr spät kapiert, ihn lang unterschätzt habe – sind Speicher. Sie sind selbst durchspukt. Es geistert in ihnen. Sie sind angefüllt mit einer nicht ruhen wollenden
Vergangenheit, einer Präsenz – sie sind bewegte, quasi begehbare, zu erlebende Erinnerung.
Und natürlich musste ich sowohl Room 237 als auch The Shining in Wien (wieder)sehen. Wo auf den Tüten des Stadtmuseums-Shops der Spruch prangt: »The Past Makes a Lovely Present«.
Weil: The Shining just
is that way. Er spukt über die bloßen Ränder des Zelluloids hinaus. (Anmerkung für spätere Generationen: »Zelluloid« war mal ein Trägermaterial für Film. Fragt Eure Großeltern.) So, wie nach einem Film von Tati plötzlich in der Welt alles lustig ist, jeder Gang eines Passanten plötzlich Komik hat, so programmiert einem auch der späte Kubrick, und zumal The Shining, die Wahrnehmung um. Es
wuchert – mit Dopplungen, Spiegelungen, Verbindungen, Zufällen, überraschenden Bedeutungen.
So, jetzt habe ich vor diesem Film auf einmal Angst!
Und wahrscheinlich berechtigte.
(Was ich beim Wiedersehen auch gemerkt habe: Obwohl ich anfangs The Shining nicht allzusehr mochte, hat er sich vom ersten Trailer an, damals in meiner Jugend, angefühlt nicht, als würde er mir neue Bilder bieten, sondern irgendwo in mir verschüttete freilegen. Das verdammte Ding geht, sitzt sowas von
– in mehrfacher Bedeutung: – ungeheuer tief. Man schaut diesen Film nicht an. Man wohnt in ihm.)
Wahrscheinlich hat er es erst gemacht, dass das Thema Vergangenheit, Wiederkehr mich seither auf diesem Festival verfolgt. Hätte ich ihn nicht angeschaut, ginge es vermutlich dauernd um, weiß nicht... Gemüse. Oder Sex. Usw.
Nun ja, mehr zu alldem hoffentlich ein andermal.
Gehaben Sie sich wohl,
à la prochaine & au revoir,
Ihr
Herr Willmann