63. Berlinale 2013
In der Bärenfalle |
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Ehrlich und wahr – dadurch tief: Before Midnight |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Tief im unwirtlichen Dickicht des Bärenjagd-Gebiets. Auf dem Jägersitz (Reihe M, Platz 11+12). Die Gedanken mäandern durch den Bilderwald. Da, plötzlich! Schnapp! Hineingetappt! Eiserne Zähne graben sich einem ins Schienbein der Aufmerksamkeit. Und lassen nicht mehr los.
So sehr SIE sich inzwischen bestimmt wünschen, dass wir von dieser Metapher ablassen, sehnen wir uns nach gut der Hälfte des Festivals nach solchen Momenten der Ergriffenheit.
Freilich: Köder pflastern
unseren Weg. Aber je offensichtlicher sie ausgelegt wurden, je unwahrscheinlicher ist es, dass man auch in die Falle geht. Je mehr Angst ein Film an den Tag legt, dass man ihm entwischen könnte, desto mehr Fluchtinstinkt entwickelt man.
Es ist schon ein enormes Pech, wenn man irgendwo im Nichts in so einem großen Land wie Amerika genau in eine Bärenfalle tritt: Das bemerkt in Thomas Arslans drögem Berliner Schule-Western Gold sogar einer der von der beschwerlichen Reise desillusionierten deutschstämmigen Schürfer (Lars Rudolph) selbst. Anders gesagt: Wenn dramaturgisch nichts anderes mehr hilft, packt der Plot das
Fangeisen aus.
Das ist nicht nur in Gold so: Denis Coté verliert ebenfalls das Vertrauen darauf, dass in der Ruhe die (Überzeugungs-) Kraft liegt. Auch er setzt auf Schockwirkung mittels tatsächlicher Bärenfallen gegen Ende von Vic + Flo ont vu un ours. (»Vic + Flo haben einen Bären gesehen«
– im unwahrscheinlichen Falle einer Berlinale-Auszeichnung haben sämtliche Redaktionen schon vorgefertigte Kalauer parat.) Was bis dahin eher eine Charakterstudie ist über ein lesbisches Paar, das sich nach einer längeren Gefängnisstrafe und einem Umzug in die Provinz wieder zusammenfinden muss, wird schlagartig zum Genrekino. Wogegen wir ja an sich nichts haben – nur wirkt es hier so forciert, dass es genau den gegenteiligen als den gewünschten Effekt hat. Die
Aggressivität der Wendung packt einen nicht, sondern sie zerreißt das Gespinst der feinen psychologischen Figurenzeichnung zugunsten eines rein äußerlichen, körperlichen (Mit-)Leidens.
Bruno Dumonts Camille Claudel 1915 hält sich mit emotionalem Vorspiel erst gar nicht auf. Und auch nicht mit Camille Claudel als Künstlerin oder Person. Er wirft einen sofort und total in die kalte, isolierte Welt einer klösterlichen Irrenanstalt. Und entlässt einen über anderthalb Stunden nicht mehr aus dem permanenten Wahn von Schreien, Weinen, Greinen, Sabbern, Heulen, Zähneklappern und Ritual. Das ist filmisch freilich sehr gut gemacht: Juliette Binoche
leidet mit wahrer Inbrunst, und es ist wohl der Wettbewerbsfilm mit der bewusstest gesetzten Bildkomposition.
Dennoch: Die Vehemenz, mit der der Film vom Publikum Emotionen einfordert, steht in keinem Verhältnis zum gebotenen Erkenntnisgewinn. Außer, dass anhand von Claudels Bruder Religion als institutionalisierte Form von Wahnvorstellung vorgeführt wird, reduziert sich dieser auf: »Kranken Menschen geht es schlecht. Medizinische Diagnose und Versorgung 1915 nicht
ausgereift. Schade um die große Künstlerin.«
Aber obwohl sich der Film auf Tagebucheinträge, Briefwechsel, medizinische Dokumente stützt, öffnen sich keine wirklich intimen, individuellen Einblicke. Die Hauptfigur wirkt austauschbar. Es ist, als würde der Film sich durch den Namen Claudel lediglich Bedeutung, Gewicht aneignen.
Die ausgedehnten Großaufnahmen leidender oder kranker Gesichter lassen keine Nähe entstehen, sondern nur körperliche Distanzlosigkeit. Der Film
lässt weder Wahl noch Raum, Reflektion in den eigenen Blick zu legen; minutenlang gafft man auf die Zahnruinen einer Insassin, teilnahmslos, weil Dumont nie den Menschen zeigt, sondern ihn nur dessen Äußerlichkeit als Sinnbild interessiert.
Das ist nah an der Leidenspornographie, Freakshow. Ein Vorwurf, den man Ulrich Seidl oft macht. Der aber auch bei Paradies: Hoffnung einmal mehr nicht zutrifft. Für Seidl sind alle radikal gleich, und auch gleich (un-)mündig, sich vor der Kamera bloßzustellen. Es gibt bei ihm keine Unterscheidung zwischen Normalität und Anormalität. (Anders eben als bei Camille Claudel
1915, der eine Heldin hat, die man aus unwürdiger Gesellschaft errettet wünscht.) Die Betreuer des Diätcamps für übergewichtige Kinder sind nicht »erwachsener«, nicht weniger hilfsbedürftig als ihre Schützlinge. Seidl ist schonungslos – aber zu jedem und allen. Und er führt niemanden vor – weil es niemanden gibt, der sich auf sicherer Zuschauerseite wähnen dürfte.
Hoffnung ist nicht der stärkste Teil der Paradies:-Trilogie. Manches an ihm wirkt einen Tick zu offensichtlich, zu konstruiert. Aber auch er hat diesen für Seidl ungewohnten Hauch an Zuneigung zu den Menschen. Vor allem in den starken Momenten, in denen die pubertierenden Mädchen unter sich sind. Für Seidl-Verhältnisse fast eine Feel-Good-Movie: Er lässt das Publikum so
hoffnungsvoll zurück, dass bei der Nachtvorstellung im Haus der Berliner Festspiele das Publikum sich sogar dazu hinreißen lässt, beim »If you're happy and you know it, clap your fat«-Song im Abspann (nur halb ironisch) mitzuklatschen.
Eigentlich aber ist man ja nicht zum Spaß hier. Der typische Festivalfilm handelt nun einmal vom Gewicht der Welt und der Gramgebeugtheit der Menschen. Hätte das Festival einen Namen, er wäre: Ernst. Wenigstens ein Film aber huldigt – freilich außer Konkurrenz – dem Eskapismus. Ein großes, buntes Hollywood-Spektakel. Ein Musical sogar!
Eine echte Alternative zu all den Elenden: Les Misérables.
Ein glamouröses Staraufgebot singt weltbekannte Ohrwürmer, über Zwangsarbeit, Selbstmord, Kinderausbeutung und Prostitution. Der Film, basierend auf dem Musicalwelterfolg, basierend auf dem Roman von Victor Hugo, basierend auf einer französischen Revolution (nein, nicht der), kreist um ähnliche Themen wie die Werke im Wettbewerb; man blickt auch mehr als genug in weinende, leidverzerrte Gesichter in extremer
Nahaufnahme. Hier jedoch nimmt die Kritik die Manipulation übel, denn der Film stellt seine Künstlichkeit offen aus.
Dabei ist diese Ehrlichkeit mehr zu schätzen als die Behauptung von Authentizität bei nicht weniger inszenierten Sozialdramen. Oft dienen die ästhetischen Zeichen für vorgeblich kunstlosen »Realismus« nur dazu, dem Publikum die Verpflichtung aufzuerlegen, ergriffen zu sein. Und das Nachgemachte gilt als wertlos. Dabei belehrt uns Geoffrey Rush als
brillanter Kunstauktionator in Guiseppe Tornatores raffiniertem The Best Offer so schön: »Ich habe nur gesagt, es ist eine Fälschung, ich habe nicht gesagt, es ist nicht schön«.
Welch absurde Ausmaße dieses Streben nach vermeintlich größtmöglicher Authentizität angenommen hat, zeigt sich in dem konzeptionellen, unzugänglichen Filmprojekt Matar extraños (»Killing Strangers«). Zu Beginn informiert uns eine Texttafel darüber, dass die drei männlichen Hauptrollen ursprünglich von Laiendarstellern gespielt werden sollten, letztendlich aber doch professionelle Schauspieler besetzt wurden. Das Bedürfnis des Regisseurs, sich für diese Entscheidung zu rechtfertigen, lässt seine Überzeugung vermuten, es hätte ein paar Zuschauer vom Verlassen des Saals abhalten können, wären die bedeutungsschwangeren Sofamonologe über die mexikanische Revolution nur holpriger vorgetragen worden.
Hand in Hand damit geht oft der Irrglaube, dass ein Film um so wertvoller und wahrer ist, je ostinater er einen zermürbenden Tonfall durchhält, je ausnahmsloser das Erleben der Figuren aus Freudlosigkeit besteht. Dabei sind es gerade jene Filme, die nicht so permanent und penetrant darauf pochen, wie schlimm alles ist, die wirklich überzeugen, die einen erreichen.
Die Charaktere in Yoji Yamadas Tôkyô kazoku (»Tokyo Family«) etwa – einem so gewitzt wie zart modernisierten Remake von Ozus Tokyo monogatari – durchleben das gesamte Spektrum an Erfahrungen. Und zwar ohne aufgesetztes Drama. Ausgerechnet den tragischsten Moment erzählt Yamada gleichsam über Bande, über die einzige
gänzlich komische Figur des Films. Und genau das verleiht dem Film eine solche Menschlichkeit, Größe – ja: Würde.
Und der chilenische Wettbewerbsbeitrag Gloria (Regie: Sebastián Lelio) ist nicht zuletzt deswegen zum eindeutigen Favorit bei Publikum wie Kritik geworden, weil er seiner rund 60-jährigen, geschiedenen, lebensbejahenden Protagonistin eben nicht mehr aufbürdet
als die Komplikationen ihres Alltags. Und dabei beweist, dass es nicht zwangsweise extremer Situationen oder Schicksalsschläge bedarf, um etwas Wesentliches zu berühren.
Es gibt wenige Filme, mit denen so viele Menschen eine so lebenslange Verbundenheit spüren, wie mit Richard Linklaters Before Sunrise. Und zwar gerade, weil da scheinbar nicht mehr als geredet wird über einen nicht außergewöhnlichen Lebensmoment – der einen aber auch selber essentiell beschäftigt, oder beschäftigt hat.
Wenn wir nun in Before Midnight Celine und Jesse zum dritten Mal begegnen, hat sich am Grundprinzip nichts geändert. Nur sie, wir und das Leben haben sich weiterbewegt. Es ist wie ein Treffen mit alten Bekannten, die einem immer noch etwas zu erzählen haben – und mit denen man sich nun über andere Themen unterhält. Ihr Leben ist eingerastet, viele Optionen sind durchs Raster gefallen.
Und so unspektakulär
der Film nach außen daherkommt, so ehrlich und wahr, und dadurch tief ist er.
Edelmann, Willmann & Greta Gerwig sind sich einig: Letztere – Hauptdarstellerin und Co-Autorin des beglückenden Frances Ha – sagt auf der Pressekonferenz, die Filme, die sie am meisten packen, sind nicht jene, die zu einseitig dramatisch sind. »Es sind Filme über Trauriges, die lustig sind. Oder lustige Filme, die etwas Trauriges haben.«