66. Filmfestspiele Cannes 2013
Böse liebe Kinder |
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Reich, jung und gierig: The Bling Ring | ||
(Foto: Tobis Film GmbH) |
Diesmal prägt die ersten Festivaltage eine auffallend gute Programmierung. Als ob Thierry Fremaux dem unangefochteten Meister dieser Klasse, Ex-Venedig-Boss Marco Müller, Konkurrenz machen wollte, webt er ein dichtes Netz aus Bezügen und Korrespondenzen, in dem ein Film als Kommentar des anderen wirkt, gleiche Geschichten parallel erzählt werden, und Leitmotive – wichtige wie unwichtige – herauskristallisieren.
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»Karneval der Tiere« vom französischen Komponisten Saint-Saens das ist seit über zehn Jahren die Musik zum Vorspann der offiziellen Selektion des Cannes-Filmfestival. Durchaus programmatisch: Denn was sind diese Filmemacher und Stars und Filmmenschen hier an der Côte anderes, als ein bunter Zoo höchst merkwürdiger Tiere. Zu ihnen gehören natürlich irgendwie auch wir Filmkritiker. Wir haben unseren eigenen Ort, vielleicht das Exotarium. Eine sehr spezielle, sehr liebenswerte und geliebte ist das Spiel, das unser argentinischer Freund Diego Lerer veranstaltet. Seit einigen Jahren versammelt er Freunde und Bekannte während des Festival zu einem sozialen Netzwerk in dem wir alle Filme, die wir sehen, bewerten – nach dem sehr einfachen Schema 0-10 Punkte. Das ist natürlich zu primitiv für jeden von uns, aber wenn man darum weiß, und dazu steht, funktioniert es wiederum sehr gut. Der Ort für die nötige größere Differenzierung sind ja unsere Kritiken.
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In der Gesamtheit gibt diese Aufstellung übrigens dann doch ein ganz aussagekräftigen und für die Marketingfraktion vermutlich wichtigen Indikator dafür ab, wie die Cannes-Filme (und eben nicht nur der Wettbewerb) bei einigen der besten Kritiker der Welt ankommen. So sagen wir das jetzt mal, in alle gebotenen Unbescheidenheit.
Interessant ist natürlich auch, was die Bewertungen über Temperamentsunterschiede verraten. Manche bleiben fast immer unter dem Durchschnitt,
andere sind deutlich darüber – wie ich bisher auch am vierten Tag mit meinen Bewertungen.
Manche versuchen sehr objektiv zu sein, andere urteilen sehr subjektiv, setzen Filme, die sie mögen, also tendenziell hoch, Sachen, die man zwar qualitativ hochwertig, aber trotzdem doof findet, deutlich runter. Und sei es nur um den Durchschnittswert zu senken.
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»Young & Beautiful« sang Lana del Rey zur Eröffnung. Die Sängerin ist mit diesem Song der Star des Soundtracks von The Great Gatsby mit dem am Mittwoch die Filmfestspiele von Cannes eröffnet wurden. Wer nun der Ansicht war, dass Baz Luhrmanns Romanverfilmung auch als metaphorischer Kommentar auf unsere Gegenwart zu verstehen sei, der sollte sich einmal den neuen Film von Sofia Coppola angucken: »Dedicated to Harris Savides« steht auf der Leinwand, bevor es losgeht. Coppolas Kameramann in diesem Film und in Somewhere, der auch bei den wichtigsten Filmen von Gus Van Sant und in David Finchers The Game und Zodiac und auch für Jonathan Glazers großartigen Birth die Bilder gestaltete, war im Oktober 2012 kurz nach Ende der Dreharbeiten mit nur 55 Jahren an einem Hirntumor gestorben.
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Mit einem Einbruch geht es los, »Shit« hört man, dann sind die Jugendlichen drin: Girls, die Fun haben, in Schuhen und Klamotten baden. Ein Hauch von Spring Breakers. Wir sehen Luxus im Überfluß: Kleider! Schuhe!! Schmuck!!! Dazwischen der aus Steinen gelegte Schriftzug »Rich Bitch«. Dazu Musik. Marken, eine Feier der Oberflächen. Man denkt sofort an Marie Antoinette.
»Based on real events« steht auf der Leinwand, der Hinweis auf einen »Vanity Fair«-Artikel, der alles inspirierte: »The Suspects wore Louboutins«. Dann ist der Vorspann zu Ende.
Emma Watson schwadroniert vor einer Fernsehkamera über die »huge learning lesson«, die sie gerade erlebe. Offenbar wird ihr der Prozeß gemacht. Ein Insert orientiert uns: »one year earlier«.
Ein
Mädchenschlafzimmer fast ganz in Weiß, ein großes Bett, ein Bowie-Poster an der Wand. Eine all american family beim »morning prayer«. Mutter und drei Töchter, die Töchter gelangweilt, die Mutter absurd engagiert. Ihr Wunsch: »to be the best person to the greater benefit of the planet.«
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The Bling Ring erzählt eine tatsächliche Geschichte nach, die vor ein paar Jahren die Promiwelt von Los Angeles erschütterte: Eine Gruppe von High-School-Schülern, die meisten von ihnen Mädchen und aus wohlhabenden Verhältnissen, war über Monate immer wieder in die Villen von Glitzerstars wie Paris Hilton und Lindsay Lohan eingedrungen, und hatte dort teuerste Markenklamotten, Schmuck und Geld mitgehen lassen. Von Einbruch möchte man hier trotz allem kaum sprechen, denn zu den vielen Merkwürdigkeiten dieses Falls gehört, dass nie ein Fenster eingeschlagen oder sonstwie Gewalt angewandt wurde, nie heulte irgendeine Alarmsirene. Denn die Promis gingen mit ihrem Hab und Gut offenbar überaus leichtsinnig um: Bei Paris Hilton lag der Schlüssel unter der Fußmatte, bei andern standen Fenster oder Türen einfach offen. Per googeln hatten die Kids, die viele ihrer Opfer verehrten, und vor allem deswegen stahlen, um durch ein Designerstück ihrer Lieblinge diesen noch näher zu kommen, die Adressen erfahren. Und wann ihre Bude sturmfrei war, posteten die Stars gleich selbst auf Facebook.
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Sofia Coppola erzählt all dies daher auch aus Sicht der Kids, die Ernst und Spaß nicht unterscheiden können, und das Einbrecherdasein als candy store erleben, mit mehr als einem Hauch von Bonnie & Clyde – und doch zugleich noch mehr als eine sarkastische Satire auf Konsumrausch, Medienkultur und Promiwahn. Gangleaderin Rebecca – eine Halbkoreanerin, womit am Rande erwähnt einmal mehr die Böse eine Asiatin ist. Oder sind die nur geborene Führungspersönlichkeiten? – ist ein echtes fashion addict: »I want some Chanel« stöhnt sie, und los gehts…
Da Coppola vor allem ein Genie der Schauwerte und der Oberflächen ist, stellt The Bling Ring auch die Obszönität des Luxus mancher Superreicher aus: Immer wieder sieht man wohnzimmergroße Kleiderschränke mit Haute-Couture, Kisten voller echtem Schmuck, champagnerflaschengroße Flacons mit Edelparfüm – Qualität in Quantität und zwar einem Ausmaß, das einen König Midas neidisch
machen muss. Wollte man einen Gatsby unserer Gegenwart zeigen, dann müsste dessen Villa genau so aussehen, und statt auf Long Island in den Hollywoodhills liegen – und die angebetete Daisy wäre ein drogensüchtiges Unterwäschemodel. Moralfragen bleiben in dem hochgradig unterhaltsamen The Bling Ring weitgehend außen vor. Die Jugendlichen werden zwar irgendwann erwischt und
verurteilt; Coppola selbst aber urteilt nicht, sondern zeigt uns einfach, wie die Kinder unserer Wohlstandsgesellschaft ihre Tage verbringen.
Der Blick auf sie ist so neidisch wie fassungslos.
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Bei vielen Kollegen kommt der Film trotzdem vergleichsweise schlecht an. Warum? Mit Ernesto aus Chile und einem seiner Kollegen habe ich eine lange Unterhaltung darüber: Es wiederhole sich immer alles, nach einer halben Stunde bringe der Film nichts Neues, lautet ein Gegenargument, ihr Standpunkt sei unklar und unausgegoren, ein anderes. All das leuchtet mir kaum ein. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass sich der Film zwar sehr wohl weiterentwickelt. Aber er setzt auch, wie Coppola immer, auf Wiederholungen und den Effekt des Seriellen. Denn genau darum geht es ja auch inhaltlich: Um das Immergleiche; um die Leere des Überflusses. Coppola will vom System des Luxus erzählen. Und das kann man nur, wenn man ihn darstellt, nicht symbolisch, sondern in reiner Quantität. Wenn man Überfluss auch als solchen zeigt.
Der Standpunkt scheint mir auch klar zu sein: Er liegt neben der erwähnten Medien- und Konsumkritik, dem Spott über den Promiwahn und öffentliche Dummheit, sehr einfach darin, dass sie in diesem konkreten Fall Opfer und Täter gleichsetzt. Die Moral von der Geschicht' ist, dass es keine Moral gibt. Die Promis sind genauso dumm, und gierig und obszön, wie die Kids, die sie bestehlen. Und natürlich haben sie mitschuld, daran, beraubt zu werden. Die Kids sind die Geister, die sie gerufen haben, sie sind auch Vorboten jener Revolution, die diese Konsumkultur, für die sie symbolisch stehen, eines nicht so Tages hinwegfegen wird.
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Ich werfe dem Film eher umgekehrt vor, dass er in alldem nicht konsequent genug ist. Dass er sich mit der Mehrheitsgesellschaft darin gemein macht, dass er ihr am Ende den Triumph gönnt, die Kids im Gefängnis zu sehen. Sie haben zwar tausende von Facebookfreunden, Fanpages und ähnliches, und werden, wenn es gut läuft, bald Memoiren schreiben, die dann vielleicht auch noch verfilmt werden. Aber wir sehen sie am Ende in sehr unmodischen orangenen Klamotten hinter Gittern. Das hätte
nicht sein müssen.
Zu den vielen Fetischen der sympathischen Fetischistin Sofia Coppola gehört leider auch der unsympathische Fetisch namens Faktenwirklichkeit. Aber wer interessiert sich im Kino schon für »real events«?
Wie eine deutsche Historikerin fuchtelt Coppola mit den Quellen herum, um damit doch eigentlich gar nichts zu beweisen. Wer den erwähnten »Vanity-Fair«-Artikel liest, wird feststellen, wie genau sich Coppola an die Fakten hält, wie sie sogar ganze Szenen und Dialoge, zugegeben sehr gute, von der Realität schreiben ließ.
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Der beste Einwand gegen The Bling Ring scheint mir ein anderer, aber verwandter zu sein: Coppola zeigt eine Handvoll Menschen, die sich nehmen, was sie wollen. Und sie zeigt sie positiv. Damit feiert sie Menschen, die im Prinzip nichts anderes sind, als ein Gatsby: Ruchlose Kapitalisten. Also Figuren, die man, wenn wir hier schon über Moral und Politik reden, nicht feiern sollte.
So kann man argumentieren. Das Gegenargument lautet meines Erachtens: Sie zeigt nicht Kapitalisten, sondern Hedonisten. Sie zeigt Gesten und Posen, zu denen die der Coolness ebenso gehören, wie die des Genuß, der Lust, der Gegenwärtigkeit, des Ästhetizismus, der Moralkritik. Die Kids, die im Zentrum des Films stehen, sind Outsider und von Anfang an Verlorene. Das was sie ihrer Gegenwart, ihren Eltern, Moral und Recht ihrer Gesellschaft entgegenhalten, ist die schon von
vornherein »ohnmächtige Utopie des Schönen«, von der Adorno in der »Minima Moralia« (§ 58) schreibt: »So gerät das Schöne ins Unrecht gegen das Recht und hat doch Recht dagegen. Im Schönen bringt die hinfällige Zukunft dem Moloch des Gegenwärtigen ihr Opfer dar: weil in dessen Reich kein Gutes sein kann, macht es sich selber schlecht, um als Unterliegendes den Richter zu überführen. Der Einspruch des Schönen gegen das Gute ist die bürgerlich säkularisierte Gestalt der Verblendung
des Heros aus der Tragödie.«
Man muss in diesem Sinn auch eine Figur wie Gatsby – wie neulich erwähnt auch ein Romantiker – retten.
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Die Provokation von Coppolas Art des Filmemachens liegt aber noch woanders: Sie liegt darin, dass diese Regisseurin die Inhalts- und Themenlastigkeit, das Content- und Plotdogma des zeitgenössischen Kinos nicht akzeptiert. Kino heißt zeigen, nicht erzählen. Es heißt Bilder statt Worte. Ein guter Test ist es immer, einen Film einmal ohne Dialoge anzugucken. Erst wenn man ihn dann noch gern guckt, ist er wirklich gut. Ton bedeutet auch nicht immer Worte, es kann atmosphärischer
Ton sein, es kann sich um Musik handeln. Worte sind überbewertet.
Coppola stellt sich eine hochinteressante, zentrale Frage: Wie erzählt man von Inhalten ohne Plot? Ohne Psychologie? Ohne Moralisieren?
Coppola akzeptiert die Differenz von Sein und Schein, von Form und Oberfläche nicht, sondern ebnet sie ein. Das wirkt dann so, als seien ihre Filme reine Oberfläche, nur noch Form. Es wirkt wie Ästhetizismus. Tatsächlich aber setzt sie sich gleich, parallelisiert sie
entdeckt sie im Sein den Schein, und im Schein das Sein.
Jede Ideologie produziert ihre eigenen Antithesen. So wie der aufgeklärt-autoritäre Despotismus des 18.Jahrhunderts eine aufgeklärt-autoritäre Revolution erzeugte, so erzeugt der konsumistische Populismus unserer Tage auch konsumistische Revolten. Das, was die meisten an diesem Film, bzw. seinen Hauptfiguren stört, ist nicht, dass sie kriminelle Dinge tun, dass sie Dinge stehlen, sondern, dass sie keine tieferen Gründe dafür haben. Sie maskieren ihr Tun nicht durch irgendwelche Robin-Hood-Thesen, sondern wollen einfach haben. Damit repräsentieren sie nicht nur das haben-wollen von uns allen. Aber das Verhalten von Coppolas Kids ist damit nicht un-ideologisch, sondern genau die Reaktion, die den reinen Konsumismus der Gesellschaft spiegelt.
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Truffaut hat mal gefragt: Was wäre der Film, wenn er kein Film ist? In über 80 Prozent aller Fälle wäre er dann ein Roman, ein Theaterstück, ein Sachbuch, ein politisches Manifest. Aber Film sollte öfters ein Gemälde sein, oder ein Musikstück.
Und am meisten interessieren mich Filme, die nur als Filme vorstellbar sind, nicht als irgendetwas anderes.
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Was hat Sofia Coppola also falsch gemacht? Außer dass sie eine Frau ist und kein schwuler Mann? Sie ist jedenfalls nicht die einzige. In der Sektion »Un Certain Regard« ist fast die Hälfte aller Filme – 8 von 18 – von Frauen gedreht, im Wettbewerb nur einer. Machen Frauen also die schlechteren Filme, oder wo liegt ihr Fehler?
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Von der uneingestandenen Angst der Erwachsenwelt vor ihren Kindern, vor deren Sünden namens Drogen, Sex, Ungehorsam und Freiheit, vor deren Ungreifbarkeit in den sozialen Netzwerken, in denen sie verschwinden mit deren merkwürdigen Stammesritualen erzählt auch der Franzose François Ozon (8 Frauen). Sein neuer Film Jeune et Jolie (Jung und hübsch) handelt von Isabelle, einem Mädchen aus gutbürgerlichen Verhältnissen, die mit 17 beginnt, als Edel-Prostituierte zu arbeiten – ohne ersichtlichen Grund. Die vielen Eurohunderter, die sie verdient, hortet sie im Kleiderschrank. Vielleicht will sie einfach experimentieren, vielleicht gefällt ihr die Macht über die Männer. Erst als ein Freier stirbt, bekommt die Fassade kalter Jugend kleine Risse. Für Ozon ist das auch Gelegenheit, Maskeraden und Heucheleien der Bourgoisie zu entlarven, zudem ist dies eine weitere von Ozons Hommagen an starke Frauenfiguren des Autorenkinos, die von Fassbinder bis Bunuel immer schmutzige Heilige und edle Huren zugleich waren – diesmal steht eindeutig Bunuel Pate: Isabelle ist eine zeitgemäße Variante von Catherine Deneuves »Belle de Jour« – ungerührt, klug und fast jederzeit Herrin der Situation. Bis zum Ende bleibt es aber eine Frage unserer eigenen Haltung, auf welche Seite der Moral – Hedonismus oder Anstand – wir uns bei dieser Geschichte schlagen. Auf eine Weise verkörpert diesen Doppelsinn Charlotte Rampling in einem tollen Auftritt als Witwe des toten Freiers.
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Was tut aber der Film selbst? Ozon will auch von Jugend erzählen, von der Einsamkeit und Verlassenheit junger Menschen. In der Pressekonferenz erwähnt er die eigene unglückliche Jugend. Am ehesten scheint er sich mit Isabelles jüngerem Bruder zu identifizieren. Das erste Bild ist sein Blick auf die Schwester, im Sommer am Strand, durchs Fernglas. Es ist ein Voyeursblick. Aber der Bruder ist die einzige männliche Figur, der nicht als Voyeur auf die schöne Schwester schaut. Der hat eine intime Vertrautheit mit der Schwester, deckt ihre kleinen Vergehen gegen die elterliche Ordnung. Er ist Bruder, deren beste Freundin. Er berät sie beim Schminken, und er ist nach einer Viertelstunde begreift man, dass deren Verhältnis nicht das Thema des Films ist. »You look like a whore« hatte er gesagt, als sie sich für den Jungen, der sie entjungfern wird, schön gemacht hat.
Ozon erzählt von Blicken, von den Blicken aller anderen auf die Prostituierte. Die Männer kommen in Versuchung. Aber sie sind auch arme Trottel. Dumm, harmlos, gutmütig. Isabelle spielt mit ihnen mit äußerstem Geschick. Gerade dies, die Macht, die sie über die Männer hat, macht sie ihnen suspekt. Es liegt sehr viel Neid und sehr viel Aggression im Verhalten aller anderen Frauen – Ramplings Witwe ausgenommen – gegenüber Isabelle. Es ist die Angst, der Verdacht und die Ahnung,
dass Isabelle etwas über ihre Männern, über alle Männer wissen könnte, das sie nie wissen werden.
Zugleich sind diese Frauen sämtlich durchtrieben. Sie haben alle etwas zu verbergen.
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Ungeachtet all dessen verfällt Jeune et Jolie gegen Ende der Moral, die er doch kritisieren will, und gönnt gerade dem bürgerlichen Publikum den bequemen Ausweg: Indem er Isabelle beim Tod des Freiers erschüttert sein lässt, beim Therapeuten verletzlich, oktroyiert Ozon der Figur Gefühle auf, und schwächt sie. Sie wird wieder vom Netz der Moral eingefangen, das sie zuvor schon zerrissen hatte.
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Mit dem persischen Scheidungsdrama Nader und Simin gewann Asghar Farhadi vor zwei Jahren bei der Berlinale den Goldenen Bären – und in Frankreich über eine Million Zuschauer. In Deutschland wollten nur ein paar Tausend den faszinierenden Film sehen, der ein privates Drama zugleich zum Abbild einer Gesellschaft macht. Kein Wunder, dass Farhadi mit seinem neuen Film dann lieber auch gleich in seiner Wahlheimat Premiere feiert. Hier lebt er die meiste Zeit des Jahres, den im Iran werden freigeistige Künstler bekanntlich bedroht und verfolgt. In Paris hat er auch seinen neuen Film gedreht: Le passé – Das Vergangene spielt unter Immigranten, und wieder geht es, wenn auch ganz anders, um eine Trennung: Zu Beginn fliegt Ahmad aus Teheran ein, um sich nach vier Jahren Trennung von seiner Frau Marie scheiden zu lassen. Die lebt mit zwei Töchtern aus erster Ehe in einem Haus am Rand von Paris. Man spürt, das noch viel Nähe zwischen dem Paar besteht, und schnell wird Ahmad wieder in die alten Verhältnisse und einen Strudel aus Gefühlen hineingesogen. In dessen Mittelpunkt steht Maries 16jährige Tochter Lucie. Die hat heftige Konflikte mit ihrer Mutter, deren Ursachen zunächst völlig unklar sind. Der ausgleichende Ahmad soll schlichten – und sein gutes Verhältnis zu Lucie, die sich ihren Stiefvater zurücksehnt, einsetzen. Bald ist klar, dass auch Maries neuer Freund Samir, und der missglückte Selbstmord seiner Frau, die nun im Koma liegt, hier eine Rolle spielen…
Wieder bietet Farhadi Innenansichten zweier Familien, deren Schicksal miteinander verstrickt ist. Wieder erzählt er von Schuld und Vergebung, Trost und Sühne, Entschuldigung und Ausreden. Ein Rädchen der Erzählung greift ins andere, das mag man etwas konstruiert finden, aber es ist eben zumindest sehr gut konstruiert, und glänzendes Regiehandwerk im Hinblick auf Szenenaufbau, Schauspielführung und Erzählökonomie. Jeder schiebt in dieser Story die Schuld auf den Anderen, und jeder muss seinen eigenen Anteil erkennen; jeder hat etwas Schuld, aber Schuld hat keiner Alleine, Farhadi unternimmt also auch eine Absage an den Narzissmus der Schuld, den es ja auch gibt. Diese moralische Geschichte ist so unaufdringlich wie universal. Sie ist ein bisschen kitschig, aber es bleibt aus guten Gründen alles offen, alles Entscheidende unklar. Sie wird von einer Jury mit Steven Spielberg und Ang Lee in zehn Tagen ganz gewiss gewürdigt werden.
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Die Themen und Objekte überlappen sich von Anfang an: Die Prada-Tasche bei Ozon und Coppola, Paris als Ort der Hoffnung in Le passé und The Bling Ring, wobei der Satz, der in Sofia Coppolas Film gleich ein paar Mal fällt, vor allem ein guter Gag ist: »Let’s go to Paris«, das meint in diesem Film über die Promi-Einbrecher den soundsovielten Besuch bei Paris Hilton, deren Hausschlüssel unter der Fußmatte liegt. Ein weiteres Leitmotiv ist zum Beispiel das Parfüm. Das spielt auch in der zentralen Schlussszene von Asghar Farhadis Le passé eine wichtige Rolle.
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Wie gesagt: Der Film handelt von einer Frau, Marie, ihrem persischen Ex-Mann Ahmad zu Besuch und ihrem neuen Freund Samir. Dieser Freund ist noch verheiratet, doch seine Frau liegt nach einem Selbstmordversuch im Koma. Den ganzen Film über ist sie abwesend; anwesend nur in zahlreichen Gesprächen. Zum Beispiel, weil Maries Tochter Lucie sich vorwirft, den Selbstmord verursacht zu haben – halb zu Unrecht, wie sich herausstellt.
Am Ende des Films geht Samir dann ins
Krankenhaus, und parfümiert sich stark, weil er gehört hat, der Geruchssinn sei im Koma noch am präsentesten, und insgeheim hofft, die Frau könne aufwachen, oder werde irgendwie reagieren. Er spricht mit ihr, hält ihre Hand, fordert sie auf, diese zu drücken. Das einzige, was aber passiert, ist das wir – für Samir kaum sichtbar – eine Träne aus ihrem linken Auge rinnen sehen.
Ein in seiner Ambivalenz sehr starkes, aber aus dem gleichen Grund auch unbefriedigendes Schlußbild. Die Ehefrau im Koma, das ist nichts als unsere Projektion, und die der Filmfiguren. Wie sie sterben? Will sie im Koma weiterleben? Wir werden es nie erfahren.
Die Frau im Koma ist aber auch der Filmtitel. Sie ist die Vergangenheit, die nicht sterben kann.
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»I dont want to look back anymore. Forget it«, hatte Marie vorher ihren Ex-Mann angeschrien. Auch alle anderen im Film haben ein gespaltenes Verhältnis zur Vergangenheit. Sie wollen vergessen, nicht wiederholen, sie blicken ungern in sie zurück.
Wenn Marie in der Eröffnungsszene Ahmad am Pariser Flughafen abholt, liest man auf ihrem Gesicht reine Vorfreude und Erwartung. Auch die Blumen, die sie in der Hand hält, sprechen eigentlich dafür, dass sie einen Liebhaber abholt. Dass sie
tatsächlich sich scheiden lassen wollen, begreift man erst nach 20 Minuten des Films. Und bis zum Ende fragt man sich, ob sie nicht eigentlich Ahmad zurückhaben möchte. »Dont get sucked into this« warnt diesen ein Freund, »Cut!« Lacher im Kino.
Die Hauptfigur des Films ist nicht, wie man ursprünglich denken kann, zumal Farhadi ein besonders guter Frauenregisseur ist, Marie, sondern Ahmad. Das zentrale Verhältnis ist nicht das zwischen ihm und Marie, sondern zwischen ihm und der 16-jährigen Lucie. Er ist ihr tatsächlicher, wenn auch nicht leiblicher Vater; darum vermisst sie ihn auch mehr als Marie.
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Bernardo Bertolucci ist Jurypräsident. Allerdings nicht der von Cannes, sondern von Venedig. Es gehört zum inzwischen gewohnten Unsinn der Festivalwelt, dass pünktlich vor jedem Festival die Jurypräsidenten des nächsten bekannt gegeben werden, um der Konkurrenz wenigstens für einen kurzen Moment die Schlagzeilen streitig zu machen – so erfuhr man wenige Tage vor der Berlinale, dass hier in Cannes Steven Spielberg in der Jury präsidieren werde.
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Viele Filme in Cannes in diesem Jahr erzählen Verlustgeschichten, oder machen Verlustrechungen auf. Das gilt auch unbedingt für Like Father, Like Son (Soshite chichi ni naru), den neuen Film von Hirokazu Kore-eda (Nobody Knows). Zu Beginn lernt man eine Familie kennen: Vater, Mutter, Kind. Offensichtlich gehören sie zu gutverdienenden Oberschicht, und in der ersten Szene sieht man ein Aufnahmegespräch bei der privaten Grundschule, die bereits der Vater besuchte. Der ca. sechsjährige Junge namens Keita ist aufgeweckt und charmant, und erzählt lebendig, von einem Campingausflug mit dem Vater Ryota, bei dem er einen Drachen steigen ließ. Direkt danach wird klar, dass die Episode erfunden ist: »Wir waren nie campen« sagt der Vater, »Mein Lehrer hat mir geraten, das zu erzählen«, erwidert der Keita.
Der tolle Einstieg erzählt schon fast alles, über Leistungsdruck, Lügen, Schein, Sein, Anpassung und Auslese in modernen Gesellschaften. Es geht dann zunächst aber um ganz anderes: in Anruf aus dem Krankenhaus mit Bitte um ein Treffen enthüllt schnell die wohl größte Tragödie die Eltern widerfahren kann, von Krankheit und schweren Behinderungen einmal abgesehen: Ihr Sohn wurde nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht. Die andere betroffene Familie wird ebenfalls geladen, und man berät, was zu tun ist. Diese anderen namens sind vergleichsweise einfache, arme Leute, ihr Leben am Stadtrand ist traditioneller, aber auch lockerer: Ohne Leistungsdruck, liebevoller, verspielter, naturnäher.
Nun müssen sich diese Ungleichen arrangieren. Was tun? Fast immer, heißt es im Film, werden vertauschte Kinder zurückgetauscht – obwohl meine instinktive Reaktion war. Die sechs gemeinsamen Jahre sind wichtiger, als die Wiederherstellung der biologischen Ordnung. So argumentiert auch Ryotas Frau Midori. Doch der Mann entscheidet auch hier und setzt sich durch. Alles geht besser, als gedacht, obwohl Ryota zunächst versteckte Pläne hat: Er will seinen leiblichen Sohn Ryusei zu sich holen, ohne Keita herzugeben. Als das scheitert, werden die Kinder getauscht. Das funktioniert nicht wirklich, obwohl Ryota bald lernt sich an das ungewohnte neue Kind anzupassen. Dann will Ryota die Kinder zurücktauschen...
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Kore-eda nimmt sich viel Zeit die Komplexität dieses Szenarios in allen seinen Stadien zu zu entfalten, und jeder seiner Figuren ihr Recht zu geben, ihre emotionale Situation nachvollziehbar zu machen. Das ist trotz gelegentlicher Längen, spannend, einfühlsam erzählt und sensibel inszeniert. Vor allem in der Regie von Kindern ist Kore-eda ein Meister.
Es geht bei diesem ganzen, an ein Laborexperiment erinnerndes Szenario aber noch um etwas anderes. Denn vor allem rechnet Kore-eda hier ab mit einem ganzen Lebensmodell, dem des modernen Japan, das extrem auf Wirtschaftswachstum und Leistung um jeden Preis ausgerichtet ist. Es geht um den modernen Kapitalismus.
Die eigentliche Hauptfigur ist denn auch Ryota und seine reiche Familie. Es geht darum, ihm eine Lektion zu erteilen, und wenn irgendetwas gegen Like Father, Like Son zu sagen ist, dann genau dies: Dass es nicht wirklich sympathisch ist, wenn Filmfiguren oder dem Publikum Lektionen erteilt werden. Die Familie lebt denn auch etwas plakativ entfremdet in einer funktional eingerichteten Hochhauswohnung mit Fenstern von der Decke bis zum Boden, von denen aus ihre Bewohner wie Fische eines Aquariums vom zwölften Stock aus auf das Leben und die
Menschen herabblicken.
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Abgesehen von einem Übermaß an, wenn auch schöner, Klaviermusik, ist Like Father, Like Son insgesamt einer der objektiv besten und für mich persönlich der anrührendste Film im bisherigen Wettbewerb. In all seiner Unscheinbarkeit beeindruckendes Filmemachen; eine kluge Geschichte mit vielen Facetten, und eine sehr humanistische obendrein. In der Beziehung der beiden Mütter zueinander, im Eigensinn der Kinder scheint die Möglichkeit eines anderen, besseren Lebens und eines Ausgleich auch sozialer Gegensätze auf, das sich in der Schlußszene zu einer Art Utopie verdichtet. Da kommt Ryota mit Frau und Kind raus aufs Land gefahren, um seinen aufgewachsenen Sohn Keita zurückzuholen. Die zwei Familien stehen gemeinsam vor dem Haus. Und in diesem Moment ist es für jeden sichtbar, dass die angemessene Antwort auf die Laune des Schicksal die ihre Kinder vertauschte nur die eine sein kann: Aus zwei Familien muss über alle Gegensätze hinweg eine einzige werden.