30.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Die Globa­li­sie­rung des Geschmacks

Claire Denis' LES SALAUDS
Frauenfeindlich? Na und! Claire Denis' Les salauds
(Foto: RFF Real Fiction Filmverleih eK)

Drei Gespräche zum Abschluss – Cannes-Tagebuch, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Neulich in Ober­hausen im »Trans­at­lantic« meinte Lena – schönen Gruß! – ich habe »wohl in jedem Festival Dein Stamm­lokal.« Nun, ganz so ist es nicht, aber in manchen halt schon. Anderes entwi­ckelt sich dann auch erst nach Jahren. Aber im Sturm des Festi­val­be­triebs sind verläss­liche Lokale ein Hafen, besser gesagt eine Oase, denn was zu trinken muss es ja auch geben. Vor allem aber Menschen. Lokale, Bars, »Kneipen« die ich mag, müssen so sein, dass andere vorbei­kommen. Menschen die man kennt, aber eben auch welche, mit denen man nicht rechnet, die aber den Ort, wo man sitzt noch mit Über­ra­schungs­ele­menten aufladen.
Wir schreiben, was wir in Cannes schreiben, fast immer im »Le Crillon«, unserer örtlichen Lieb­lings­bras­serie seit einigen Jahren. Die Besit­zerin kennt mich schon, und begrüßt mich immer sehr nett. Dies ist auch, was man nur sieht, wenn man sehr genau hinguckt, das älteste Lokal von Cannes. Eine Website gibt es nicht – um so wärmer unsere Empfeh­lung an jeden zukünf­tigen Cannes-Besucher, hier mal vorbei­zu­schauen. Seit 45 Jahren erzählt die Besit­zerin, sei das »Le Crillon« in Fami­li­en­be­sitz. Aber es ist noch viel älter. »Dies gab es schon zu Zeiten Napoleons. Napoleon selbst hat hier Rast gemacht, als er von Elba zurückkam.« Die »Route Napoleon« beginnt nämlich hier in Cannes, also gewis­ser­maßen dort, wo heute das Festival-Palais ins Meer hinein­ragt. Eigent­lich beginnt sie im »Le Crillon«.

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Heute saß ich schon mittags hier, und trank einen Kaffee. Die Sonne schien, natürlich brauchte ich auch das zuver­läs­sige Internet. Und dann kam Gilles Jacob, der ehemalige Festi­val­di­rektor und immer noch eine Art Pate des Festivals, mit seiner Frau vorbei, und aß zu Mittag. Dazu ein junger Mann, eher sein Enkel als sein Sohn.

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Jetzt schreibe ich hier ein bisschen, da taucht plötzlich Hans Hurch auf, der Viennale-Festi­val­di­rektor, den ich hier überhaupt erst einmal gesehen habe, ganz von fern. Recht mutig behauptet Hans, er sei regel­mäßig hier, heute aber nur für einen Durch­gangs­drink, weil er noch verab­redet ist. Er bleibt dann doch eine gute Stunde mit mir sitzen, was sehr nett ist. Wir gehen das Programm durch, es gibt wenige, die so druckreif analy­sieren und auf den Punkt bringen, wie Hans, was mich dann erstmal etwas perplex macht. Ich hör auch gern zu, denn meine eigenen Ansichten kenne ich ja schon, und streite mich nur, wenn’s lohnt. Es gibt auch leider gar nicht viele, mit denen man so unter­schied­li­cher Meinung sein kann, und sich trotzdem geborgen fühlt, anerkannt als Gesprächs­partner. Es wird nicht feind­selig, sondern man ist gegen­seitig anein­ander inter­es­siert, und respek­tiert sich. So ist ja auch die Viennale.
Wir gehen also die Filme durch, Ozon findet er besser als vieles, läßt sich aber wie es scheint, von meiner relativen Skepsis anstecken; Desplechin mögen wir beide mehr als die meisten Filme; Jia Zhang-ke finden wir auch gut, aber etwas kalku­liert und glatt, nicht so toll wie viele Kollegen; Farhadi verliert mit der Zeit, Giraudie gewinnt – und wir überlegen, ob es überhaupt etwas gibt was dessen Film vorzu­werfen ist.

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Nur bei Claire Denis sind wir zwischen­durch uneins, wobei ich ihm gar nicht wieder­spre­chen kann, dass dies der frau­en­feind­lichste Film des Festivals sei. Nur, wenn es denn stimmt: Wo ist das Problem? Wir kennen ja nun ein paar frau­en­feind­liche Männer, die trotzdem gute Filme machen.
Eine sehr hübsche Bemerkung fällt am Rand: »Beau Travail« sei »Pop-Riefen­stahl«. Auch das stimmt – soll ich sagen: »leider«? Viel­leicht ist aber Riefen­stahl sowieso Pop. Und dies das eigent­liche Problem. Aber klar möchte Denis gern ein Mann sein, und mit den großen Jungs spielen. Darum steht sie auf solche über­vi­rilen Typen wie Vincent Lindon – von dem ich nicht glaube, dass er Chiara Mastroi­anni im wahren Leben zu einer Affaire verführen könnte, wenn die mit so einem tollen Grand­sei­gneur-Gangster wie Michel Subor zusammen ist.
In diesem Film spielt Lindon einen Charak­tertyp, der einem zuletzt verstärkt im Kino begegnet: Dass ist der Mann, der von Außen kommt, der einen vertrackten Figu­ren­kosmos in Bewegung bringt, Dinge in Ordnung bringt, oft mit einer der Figuren ein Liebes­ver­hältnis beginnt. Vincent Lindon eben.
Davon abgesehen mag Hans halt Denis einfach nicht. Passt schon!

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Eine echte Differenz haben wir – für mich nicht uner­wartet – bei Sofia Coppola und ihrem Film The Bling Ring. Hier geht es lange hin und her, denn ich vertei­dige. Inter­es­sante Fragen werden ange­rissen, wie die, ob eigent­lich dumme Leute gute Filme machen können. »Geht nicht!« insis­tiert Hans, und da hat er ja recht. Ich finde Coppola ja auch nicht dumm. »Es gibt kein reines Ober­flächen­kino« sagt Hans, »Kino ist immer beides: Ober­fläche und Tiefe.« Stimmt auch, nur ist Coppola halt auch tief. Ihr Film ist einer derje­nigen, die von Cannes 2013 bleiben werden – und auch Hans wird wohl zustimmen, dass allein die Tatsache, dass wir fast eine halbe Stunde über sie reden konnten, ja sehr für diese Regis­seurin spricht.

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Ein Film, über den Hans noch mehr ins Schwärmen kommt, als ich, ist Polanskis »Weekend of a Champion« über Jackie Stewart und die Glanzzeit der Formel 1. »Das war ja auch ein bisschen meine Zeit« sagt er mit strah­lenden Augen. Und es geht ihm wie es mir in meinem Text dieses Tagebuchs ging: Man vergleicht unwill­kür­lich beide Geschichten, die der Formel 1 und die von Cannes. Auch Hans erzählt, dass früher, bei seinen ersten Cannes-Besuchen, alles besser war. »Die Leute haben anders gejubelt, nicht so gekreischt, wie heut'« Neben dem alten Palais seien die Urlauber in Bade­sa­chen vom Strand gekommen – und dann haben sie mal kurz rüber­ge­guckt.

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Dann musste Hans gehen. Vorher erzählt er noch eine schöne Anekdote, aus seinem ersten Besuchs­jahr: »Plötzlich haben die Leute gerufen ›Monsieur Hulot, Monsieur Hulot‹, und dann war da tatsäch­lich der Tati. Der ging die Treppen hoch, er war schon sehr alt und ist auch bald danach gestorben. Aber oben ange­kommen, drehte er sich nochmal um und lächelte das Publikum an. Dann griff er in die rechte Jacken­ta­sche – das hatte er bestimmt vorbe­reitet – und zog ein Taschen­tuch raus, das war viel zu lang, ganz über­di­men­sio­niert, und damit winkte er dann den Leuten zu. Da hat man das Gefühl gehabt: Es gab noch eine richtige Beziehung zwischen Filmen und Publikum.«

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A propos Stamm­kneipe. Zum ersten Mal war ich nicht im »Les Artisans«, das ich durch Michael Althen 2006 kennen­ge­lernt hatte. 2007 hatten wir dort am 26.5., dem Abend vor der Preis­ver­lei­hung gegessen, während Peter Körte Michael permanent per sms über den Stand der Dinge beim DFB-Pokal­fi­nale auf dem Laufenden gehalten hatte. Nürnberg gewann damals 3:2 gegen Stuttgart, aber erst nach Verlän­ge­rung.
Jetzt erzählt mir Hans, das »Les Artisans« sei geschlossen, und stünde zum Verkauf. Quelle domage!

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Meine Freundin Nil aus Istanbul ist zum ersten Mal in Cannes. Vor zwei Wochen war alles aufregend, nach einer Woche ist sie bereits zum Routinier geworden. Nur manchmal merkt man, dass sie zum ersten Mal hier ist. Zum Beispiel ist sie noch über­rascht, dass bei der Preis­ver­lei­hung im Augen­blick wo die Veran­stal­tung beginnt, die Über­tra­gung in den Pres­se­raum plötzlich die Sprache wechselt. Nur noch Fran­zö­sisch, auch wenn Spielberg redet, auch für die inter­na­tio­nale Presse. Hm.
Auch Nil ist in den wenigen Tagen zum Cannes-Glauben konver­tiert. Klar, dass man hier immer herkommen muss, klar, dass hier ein Tag so gut ist, wie eine ganze Berlinale. »Es ist schon ein wahn­sinnig starkes Programm« resümiert sie, »Cannes lässt sich mit keinem anderen Festival auf der Welt verglei­chen. Die Qualität der Filme ist exzellent.«
»In Istanbul in der Redaktion haben sie schon Mitleid mit mir« erzählt Nil, »Sie fragen, ob es mir gut geht, und ob ich nicht zuviel arbeite.« Und lacht dazu. Denn wir hier wissen: In Cannes geht es nur denen gut, die zuviel arbeiten.

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Wir sprechen wie immer auch über die Situation in der Türkei, über die Kultur­de­batten in Istanbul: Dort wurde gerade dieser Tage das »Emek«-Kino abge­rissen, eines der ältesten Kinos der Stadt, für dessen Erhalt vor sechs Wochen noch über 1000 Leute demons­triert hatten, unter anderem inter­na­tional bekannte Regis­seure wie Costa-Gavras und Mario Bechis. Das Art Deco-Gebäude fiel dem Bau einer Shopping-Mall zum Opfer. »Its a shame«, eine Schande sei das, sagt Nil – die weltweite Allianz aus Dummheit, Ignoranz und einem Neoli­be­ra­lismus, der nur noch kurz­zei­tige Profite kennt, bedroht Europas Kultur.

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Nil war natürlich auch am Samstag beim Fußball (vgl. Folge 5). Ihre Fähig­keiten als Medium, die sie bereits bei anderer Gele­gen­heit unter Beweis gestellt hatte, reichten diesmal nicht aus. ein paar Stunden nach der Nieder­lage des BVB erzählte sie mir dann, auch in Istanbul sei man ganz traurig. Dort versteht man noch besser als in Deutsch­land, dass das Duell zwischen Dortmund und Bayern auch ein Klas­sen­kampf, ein Duell zwischen Gut und Böse ist. »In Istanbul they said« erzählt Nil, »Emek lost again!«

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Ich erzähle Nil auch von meinem Gespräch mit Semih Kapla­noglu beim türki­schen Empfang. Wie ihr ging es auch mir so, dass ich mit jedem seiner letzten Filme etwas skep­ti­scher bezüglich der Quali­täten dieses Regis­seurs geworden war. Das dürfte auch ihm nicht entgangen sein in Nils Fall sowieso, denn sie schreibt in der wich­tigsten Tages­zei­tung der Türkei. Aber auch in meinem, den ein paar meiner Texte übers türkische Kino wurden übersetzt. Nil, die hier auch ein über­ra­schend freund­li­ches Gespräch mit ihm hatte, bringt es wunder­schön treffend auf den Punkt: »He is rebuil­ding the bridges he burned...«

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Gestern hatte ich dann noch ein sehr inter­es­santes Gespräch mit Diego Lerer aus Argen­ti­nien – mit dem ich seit einigen Jahren befreundet bin. Obwohl er kaum älter ist, als ich, war dies bereits sein 17tes Cannes, und dies mit einigen Unter­bre­chungen. In den späten 80er Jahren kam er zum ersten Mal hierher. Diego war lange Redakteur von »Clarin«, jetzt ist er freier Film­kri­tiker, und orga­ni­siert auch die Cannes-Kritiker­um­frage, über die ich hier schon berichtet hatte.

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Auch wir sprachen über das Programm. Tenden­ziell sind wir uns öfter im Einzelnen uneinig, obwohl wir schon in zwei Fipresci-Jurys verlorene Kämpfe ausge­fochten hatten.
Diego ist ein entschie­dener Anwalt des Kunst­kinos, viel konse­quenter als ich. Er liebt diesen Typus der alten Meister, die ich staub­tro­cken finde. Unter vielen »seiner« Kritiker fühle ich mich endlich einmal als Vertreter des Massen­ge­schmacks. Ich finde halt auch Filme gut, wie Killing Them Softly, die er verachtet. Und ande­rer­seits konsta­tiere ich bei ihm ein gewisses in-die-Knie-gehen vor großen Namen, Aber man muss auch zugeben, dass Diego ander­seits ameri­ka­ni­sche Filme plötzlich mag, die ich für seichte Indus­trie­pro­dukte halte. So hatten wir eine inter­es­sante Diskus­sion über den Vergleich zwischen den Filmen Kore-edas und der Coen-Brüder. Deren neuen Film liebt er, während ich ihn stink­lang­weilig finde, er wirft Kore-eda hingegen Fern­sehäs­thetik vor, und sagt, der Film falle hinter Nobody Knows oder Still Walking zurück. Das stimmt. Aber mein Gegen­ar­gu­ment ist, dass ihn bei den Coens ja auch nicht stört, dass sie schon viel bessere Filme gemacht haben. Und dass es Kore-eda doch um ganz andere Dinge geht. Er will nicht einen besseren Film machen, sondern von etwas erzählen.
»Jeder zweit­klas­sige ameri­ka­ni­sche Regisseur hätte den Film besser gemacht als Kore-eda« sagt Diego. Aber in welcher Hinsicht? Kore-eda will berühren. »Genau das gelingt ihm bei mir nicht«, sagt Diego

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Seit vier Jahren macht Diego seine Kritiker­um­fragen in Cannes. Er erzählt von inter­es­santen Tendenzen: »Die Leute gucken mehr ›Un Certain Regard‹, und weniger Quinzaine« sagt er. Das zeigt, dass »Un Certain Regard« besser wird. Die »Semaine« ist immer ungefähr gleich gering besucht. Die liegt halt einfach weit weg.

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Am inter­es­san­testen unter Diegos vielen Beob­ach­tungen finde ich seinen Gesamt­be­fund: Es hätte dieses Jahr zu viele Filme gegeben, die »easy to digest gewesen sind. Man kann sie gut durch­gu­cken, gut konsu­mieren, man wird nicht ermüdet, weil man nicht provo­ziert wird. Guter Punkt!
Tatsäch­lich erinnere ich mich an meine zwei ersten Cannes-Erfah­rungen. Da liefen im Wettbwerb Filme wie Elefant, 5 Days in the Afternoon, Wolfzeit, Dogville, Uzak, Brown Bunny, Tropical Malady, 2046, La niña santa...
Nichts von diesem Jahr ist damit zu verglei­chen.«

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»Es gibt eine Globa­li­sie­rung des Geschmacks« sagt Diego. »Die erlebten wir gerade«. Alle Filme sähen sich ungemein ähnlich. »Kennst Du Hou Hsiao-hsiens The Puppet­master? Das ist ein stink­lang­wei­liger Film. Bei dem kämpft man mit dem Schlaf. er ist anstren­gend, aber er ist auch wunderbar.« Wenn man sich vorstellt, dass der vor 20 Jahren in Venedig im Wett­be­werb lief! Das wäre heute unmöglich. Die Leute, auch unsere Kollegen, würden einen solchen Film heute gar nicht mehr aushalten. »Das finde ich depri­mie­rend. Ich finde auch viele Filme heute depri­mie­rend, weil sie nichts Neues zu bieten haben.« Wo sind diese seltsamen, sperrigen Avant­garde-Filme hin?
Diego erklärt weiter: »Ich empfinde einen Überdruß am classical way of story­tel­ling. Alle Filme hier sind auf unin­ter­es­sante Weise gleich. Mit zwei drei Ausnahmen. Zum Beispiel fand ich Michael Kohlhaas nicht so gut. Aber ich war müde, und muss ihn mir nochmal angucken. Viel­leicht gefällt er mir dann besser. Denn ich habe die Ahnung, dass dies einer der wenigen Filme ist, der nicht so klassisch erzählt ist.«

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Das wich­tigste Argument: Festivals sind immer auch ein Mittel der Geschmacks­bil­dung. Wenn schon Cannes das profes­sio­nelle Publikum kaum noch zu Anderem, Neuem, zu cine­philen Wagnissen erzieht – wer soll es dann tun?