30.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Außer­ge­wöhn­liche Filme erfordern außer­ge­wöhn­liche Entschei­dungen

Blue is the Warmest Colour
Blau, blau, blau sind alle meine Kleider...
(Foto: Alamode/Wild Bunch / Central Film Verleih GmbH)

Ästhetik? Politik? Jury-Dynamik? – Drei Goldene Palmen für den französischen Film Blue is the Warmest Colour und was uns die Palmen lehren... – Cannes-Tagebuch, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Aus ganz sicherer Quelle wisse Sie, flüsterte mir meine Istan­buler Freundin Nil wenige Minuten vor der Preis­ver­lei­hung zu, dass die Goldene Palme an Asghar Farhadi ginge. Sorren­tino bekomme den »Grand Prix«. »Und Kechiche?« frage ich entsetzt. »Nothing for him!« Zuvor schon hatte die Gerüch­teküche gebrodelt, und in all dem Namens­wirbel tauchte der spätere Sieger nicht auf. Wir hätten es ja auch nicht wirklich gedacht...

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»We take an extra­or­di­nary decision« sagte Steven Spielberg, und man fürchtete schon Schlimmes, »we award three artists on stage…« Eine konser­va­tive Jury habe konser­va­tive Preise vergeben – so glaubte man bis zu diesem Augen­blick, bis zur Bekannt­gabe der Goldenen Palme. Schließ­lich hatten in Cannes die Ameri­kaner schon immer gute Karten.
 Und dann verkün­dete Spielberg: Der fran­zö­si­sche Regisseur Abdel­latif Kechiche gewinnt für seinen Film Blue Is the Warmest Colour (La vie d’Adèle 1+2) die Goldene Palme, und zwar gemeinsam mit seinen Haupt­dar­stel­le­rinnen Léa Sedoux und Adele Exar­cho­poulos. Mit dieser »außer­ge­wöhn­li­chen Entschei­dung« umging die Jury das Verbot, das ein Gewinner der Goldenen Palme noch weitere Preise erhält, etwa für Darsteller. Jetzt hat er sozusagen drei Goldene Palmen

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Mit dieser überaus verdienten, für viele Beob­achter gleich­wohl sehr über­ra­schenden Entschei­dung ging am Abend die 66. Ausgabe des wich­tigsten Film­fes­ti­vals der Welt zu Ende. Aber man hätte bereits durch den Regie­preis für den Mexikaner Amat Escalante gewarnt sein können.
Am Ende eines starken Wett­be­werbs ohne klare Favoriten lautet das generelle Urteil der profes­sio­nellen Besucher: Es war ein über­durch­schnitt­lich gutes Jahr, aber kein absolut heraus­ra­gendes. Es gab wenig richtig schlechte und viele gute Filme, aber Kechiches Film war der einzige, der auch hart­ge­sot­tene Film-Beob­achter verzau­berte.
 Die Silberne Palme für die »Beste Regie« bekam wie gesagt Amat Escalante für sein hartes, aber auch ästhe­tisch gewagtes, sperriges Rache­drama Heli. Weitere Preise bekamen die Coen-Brüder (»Großer Preis der Jury« (Grand Prix du Jury) für Inside Llewyn Davis), an Hirokazu Kore-eda (Jury-Preis für das Fami­li­en­melo Like Father, Like Son) sowie an den Chinesen Jia Zhang-ke für das »Beste Drehbuch« für sein abgrün­diges, poeti­sches China-Portrait A Touch of Sin. Berenice Bejo, die argen­ti­nischs­täm­mige Haupt­dar­stel­lerin von Asghar Farhadis Le passé bekam den Preis für die »Beste Darstel­lerin«. Oder die hübscheste? »Bester Darsteller« wurde Bruce Dern für Alexander Payne stink­lang­wei­ligen Nebraska und wohl vor allem für sein Lebens­werk.
Auch diese Preise gehen im Großen Ganzen in Ordnung und zeichnen damit – von Nebraska abgesehen – tatsäch­lich die stärksten Filme des Wett­be­werbs aus.

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Inof­fi­zi­elle, völlig will­kür­liche Umfragen unter Bekannten ergaben vor der Preis­ver­lei­hung ein selten erlebtes eindeu­tiges Bild: Kechiche, Kechiche, Keschiche. Fast einstimmig. Ein kurzes Gespräch mit »Sight & Sound«-Chef­re­dak­teur Nick James zwei Tage vor der Preis­ver­lei­hung über das gemeinsam Gesehene. Sein Favorit ist Blue is the Warmest Colour – »by far the best film in a very strong compe­ti­tion« fand er am Donnerstag Nach­mittag, als noch vier Wett­be­werbs­filme ausstanden. Ansonsten sind mir noch folgende Gesprächs­fetzen in Erin­ne­rung: »I am very pleased you hate the Refn too«; »I loved Sorren­tino«; »Jodo­rowsky looks shit.«
Nachdem in den Umfragen während des Festivals lange Zeit der neue Film der Coen-Brüder führte, hatte auch bei den inter­na­tio­nalen Film­kri­ti­kern Kechiches Film am Ende die Nase vorn. Etwa in der Screen-Umfrage unter acht reprä­sen­ta­tiven Autoren, bei denen auch Nick dabei ist.
 An den aller­ersten Tagen wirkte Farhadis Le passé tatsäch­lich wie ein enorm starker Film. Dann löste sich dieser Eindruck Stück für Stück auf. Inter­es­sant, wie ein Film verlieren kann, wie ein Eindruck über nur eine Woche total nachlässt.

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Länger unter­halte ich mich mit Olivier Père, dem Ex-Leiter der Quinzaine (bis 2009) und Ex-Direkter von Locarno (2010-2012), der mitt­ler­weile fran­zö­si­scher arte-Chef ist, und meint: Kechiche sollte gewinnen, aber Jia Zhang-ke werde gewinnen. Nach allem, was ich gehört habe, glaube ich, dass Olivier recht hat. Es sei denn, dass der wohl auch politisch brisante Stoff auch China einem wie Ang Lee dann doch einfach zu heiß ist.
Zu meiner Über­ra­schung erzählt mir Olivier auch, dass er auf dem Blog von arte Film­kri­tiken schreibt. Das mache viel Spaß, eine Rückkehr zu den Ursprüngen, man habe hier in Cannes ja auch sehr viel eigene Filme. »Kannst Du das denn?« frage ich. Als fran­zö­si­scher arte-Chef könne er doch kaum einen arte-produ­zierten Film verreißen. »Ich muss ja nicht über alles schreiben« antwortet er und lächelt viel­sa­gend. Schon in Locarno hatte der gelernte Film­kri­tiker, der für »Les Inrock­tu­ri­bles« schrieb, regel­mäßig Inter­views geführt und Texte verfasst. Wir wissen also ein bisschen, wie wir den arte-Blog zu lesen haben: Wenn er schreibt, mag er es, wenn nicht, mag er es vermut­lich nicht.

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Auch bei der Gruppe jener jüngeren inter­na­tio­nalen Kritiker, wo Olivier vor zwei Jahren noch mitmachte, und auch ich auch mitstimme, führt Kechiches Film am Ende deutlich mit einem Schnitt von 8.39 von 10 möglichen Punkten. An zweiter Stelle folgt Jia Zhang-ke (7.38), an dritter Jarmusch (7.27). Gegen Ende lassen die Kritiker an Strenge spürbar nach, wie die hohen Wertungen für »The Immigrant« zeigen.

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Unsere Freundin Violeta Kovacics aus Barcelona hat auf Ihrem Blog eine inter­es­sante Umfrage veran­staltet, wo ich unter lauter Spaniern und Latinos der einzige Deutsche bin. Sie fragt nach der persön­li­chen Palme und nach der, von der man glaubt, dass sie die Jury wahr­schein­lich vergibt. In der ersten Gruppe führte Kechiche sehr klar, in der zweiten knapp vor Kore-eda.

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In der Neben-Sektion »Un Certain Regard« gewann der Film L’image manquante von Rithy Panh den Haupt­preis. Der Spezi­al­preis der Jury ging an Omar von Hany Abu-Assad, der Regie­preis an Alain Guiraudie für L’inconnu du lac. Der »Prix François Chalais« ging an Rebecca Zlotowski für Grand Central.
 In der »Ciné­fon­da­tion and Short Films Jury« unter Jane Campion gab gestern ihren Haupt­preis an Needle von Anahita Ghaz­vi­niz­adeh (Chicago); weitere Preise an Waiting for the Thaw von Sarah Hirtt (Belgien), In the Fishbowl von Tudor Cristian (Rumänien) und Pandas von Matúš Vizár (Tsche­chien)

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Auch der Preis der inter­na­tio­nalen Film­kri­tiker­or­ga­ni­sa­tion FIPRESCI ging an Blue is the Warmest Colour (La vie d’Adèle 1+2).
 In der Sektion »Un Certain Regard« gewann Manu­scripts Don’t Burn (Dast-Nevesh­tehaa Nemis­vo­sand) über den was man so hört der Titel schon das meiste sagt, vom Iraner Mohammad Rasoulof. Der Preis in den Parallel Sektionen ging an Blue Ruin vom Ameri­kaner Jeremy Saulnier, der in der Quinzaine gezeigt wurde.
Der zum zweiten Mal vergebene Preis der unab­hän­gigen Film­kritik »Les Artisans« gewann Crus­táceos vom Spanier Vicente Pérez Herrero.

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Screen-Führende gewinnen nie. Das war jahrelang die Regel in Cannes. Denn dort findet man auf der letzten Seite des soge­nannten »Dailys«, also der Festi­val­zeit­schrift von »Screen Inter­na­tional« die Wertungen einer Kriti­ker­jury. Über deren Besetzung kann man wie immer streiten. Sie waren aber seit 1998 ein zuver­läs­siger Maßstab insofern, dass der dort führende Film nie die Goldene Palme und oft gar keinen Preis gewann: Kauris­mäki, Almodovar, Mike Leigh und auch Wong Kar-wai können davon ein Lied singen. Letztes Jahr brach die Regel, wenn auch nicht komplett, weil da zwei Filme gleichauf lagen: Beyond the Hill von Cristi Mungiu und Michael Hanekes Amour, der schließ­lich gewann. Aber oh Wunder: 2013 wurde mit dem ewigen Gesetz gleich zum zweiten Mal gebrochen. Abdel­latif Kechiches Blue is the Warmest Colour (La vie d’Adèle 1+2) führte, und gewann tatsäch­lich gestern die Goldene Palme.

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Wie sollen wir diesen und die anderen Preise aber nun verstehen? Ästhe­tisch? Politisch? Aus der Jury-Dynamik? Dies ist – dies mal vorweg – einer der verdien­testen Cannes-Sieger seit Jahren. Der Film des in Tunesien geborenen Franzosen Kechiche – bisher vor allem in Frank­reich bekannt, inter­na­tional eher ein Geheim­tipp – ist schlichtweg großartig und beein­dru­ckend.
Mit Kechiche gewann zudem ein Filme­ma­cher den Haupt-Preis, der in seiner Biografie wie in seinen Kino-Geschichten das neue, kulturell viel­fäl­tige Europa reprä­sen­tiert. Ironi­scher­weise (?) ist aber gerade Kechiches Film nichts anderes, als ein Hohelied auf die klas­si­sche Bildung: Offen zitiert er Mozart, Marivaux, Voltaire, Sartre – Reprä­sen­tanten des Europas der Aufklärung.

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Das müsste für Steven Spielberg alles sympa­thisch sein, und in Ordnung gehen. Erlaubt ist auch die Frage, ob es für ihn als jüdischen Ameri­kaner womöglich besonders attraktiv ist, einem in Tunis geborenen mosle­misch erzogenen (wenn auch bestimmt nicht sehr reli­giösen) Franzosen den Haupt­preis zu geben. Als Spielberg Anfang des Jahres zum Jury­prä­si­dent nominiert wurde, hatte man das allgemein als Signal des Festivals gewertet, dass sich damit noch einmal vom Lars-von-Trier-Skandal absetzen wollte. Und dann geht es natürlich in Blue is the Warmest Colour auch noch um eine lesbische Liebe. Das hat sowieso poli­ti­sche Brisanz, ist aber deshalb noch zusätz­lich aktuell, weil in Frank­reich derzeit ja eine heftige poli­ti­sche Debatte um die Homo­se­xu­el­lenehe tobt, weil sich auf der Straße der »Kommu­ni­ta­rismus der Homo­phoben« (so die Libe­ra­tion von heute) als neue Resis­tance gegen die regierung gebärdet.
Kann man also als Fazit formu­lieren: einmal mehr entpuppe Steven Spielberg sich als der huma­nis­ti­sche Sozi­al­li­be­rale, der er er auch als Filme­ma­cher ist?
So einfach ist es keines­wegs. Diese Jury war äußerst schwer zu berechnen: Spielberg ist es gewohnt, Boss zu sein, klar. Aber Ang Lee und Cristi Mungiu sind eigen­s­tän­dige Persön­lich­keiten. Auteuil, Kidman, Waltz und Kawase sollte man nicht unter­schätzen. Mungiu hate immerhin als einziger in der Runde schon eine Goldene Palme gewonnen. Kawase dachte man vorher, dürfte gegen eine Palme für Kore-eda votieren, der womöglich aber bei Lee und Spielberg gute Chancen hätte. Mungiu und Lee könnten Kechiche mögen, das schien klar: Beide sind offen für homo­se­xu­elle Untertöne, beide sind das, was man so als »Frau­en­re­gis­seure« bezeichnet. Gerade Mungiu hat in seinen zwei letzten Filmen anhand zweier Frauen von Frau­en­freund­schaft/liebe erzählt.

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Nach allem was man hören konnte, ging es in der Jury durchaus kontro­vers her: Ein Streit zwischen Spielberg und dem Rumänen Cristi Mungiu wurde schon vor Tagen kolpor­tiert. Und nicht immer sind es die Präsi­denten und Alpha­tiere, die in Jurys am Ende den Ausschlag geben: Viel wichtiger als Macht­worte ist diplo­ma­ti­sches Geschick. Bei aller Vorsicht vor vorschnellen Urteilen scheint es diesmal so, als wären Ang Lee und der Schau­spieler Daniel Auteuil die Schlüs­sel­fi­guren in der Entschei­dungs­fin­dung der Jury gewesen. Spielberg, sagen die üblichen »gut unter­rich­teten Kreise«, habe Farhadi den Vorzug gegeben. Für eine schwere Geburt spricht auch, dass diesmal erst sonntags, statt wie sonst bereits Sams­tag­abend, die endgül­tige Entschei­dung gefallen war.

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Insgesamt gab die Jury nicht nur genau den Filmen je einen Preis, die in den letzten 12 Tagen insgesamt am besten ange­kommen waren. Sie zeichnete auch betont poli­ti­sche Werke aus: Jia Zhang-ke’s A Touch of Sin ist eine einzige abgrün­dige Anklage an Korrup­tion und mora­li­schen Verfall im China der Gegenwart. Viermal begegnet man Menschen, die ihr Glück nicht finden, und sich – aus Verzweif­lung oder aus mora­li­scher Indif­fe­renz – zu einer Gewalttat hinreißen lassen. Die mora­li­sche Selbst­zer­störung einer Gesell­schaft hat auch der Japaner Kore-eda im Blick: Sein Film konfron­tiert zwei Familien aus unter­schied­li­chen Milieus mitein­ander: Im Aufein­an­der­treffen von Reich und Arm, haben letztere moralisch klar die Nase vorn.
 Schließ­lich der Mexikaner Amat Escalante, der die Silberne Palme für die »Beste Regie« bekam: Heli ist ein hartes, auch ästhe­tisch gewagtes, sperriges Rache­drama. Es überzeugt durch Konse­quenz, aber auch als Sinnbild der gesell­schaft­li­chen Kata­strophe, die sich im vom Drogen­krieg geplagten Mexiko gerade ereignet. Und es bekräf­tigt, wie stark das mexi­ka­ni­sche Kino gerade ist: Erst vor einem Jahr gewann Escalantes Landsmann Carlos Reygadas die Regie­palme. Mit diesem Gesamt­bild wird gewiss auch der huma­nis­ti­sche Liberale Steven Spielberg gut leben können.

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Da Cannes immer auch ein Schau­fenster des Weltkinos und eine Schule des Film­ge­schmacks ist, muss man noch eine weitere Frage stellen: Welche Tendenzen zeigt das dies­jäh­rige Festi­val­pro­gramm? Zum einen gibt es ein paar offen­kun­digen Fakten: Es gab diesmal in allen Sektionen über­ra­schend wenige osteu­ropäi­sche Filme. Dafür war Asien nicht nur bei den Preisen wieder stärker vertreten; Latein­ame­rika bleibt konstant inter­es­sant. 2013 ist auch jenseits der Goldenen Palme wieder ein Triumph für das fran­zö­si­sche Kino. Fünf Filme im Wett­be­werb, acht in der wich­tigsten Nebensek­tion war keiner zuviel. Was diesmal wie schon 2011 und 2012 auffal­lend fehlte, waren die üblichen Block­buster und »Star­ve­hikel« aus Hollywood. Es gab weniger US-Filme, und sie waren nicht immer gut.

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Macht am Ende Festi­val­di­rektor Thierry Fremaux Cannes kaputt? Warum sollte er? Immerhin: es gabt weniger US-Filme, weniger gute erst recht. Aber der Cannes-Eröff­nungs­film The Great Gatsby hat doch bisher 100 Millionen einge­spielt.Aber er läuft seit zwei Wochen, und müsste eigent­lich bei 200 Millionen liegen, um sich zu refi­nan­zieren.

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Die zweite Beob­ach­tung zeigt aber etwas anderes: Die zuneh­mende Anglei­chung der Stile eine Art »Globa­li­sie­rung des Geschmacks« (Diego Lerer). Wer das dies­jäh­rige Festival mit der Ausgabe vor zehn Jahren vergleicht, oder noch mit dem Jahrgang 2008, der muss zugeben: Wirklich radikale Kino-Avant­garde, Werke, die auch Profis provo­zierten, verun­si­cherten oder erschüt­terten, in denen man die Filmkunst von morgen erahnen konnte, sah man in diesem Jahr in Cannes nicht.

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Viel­leicht aber diese Kate­go­rien auch überholt. Oder sie haben noch nie gestimmt. Provo­ka­tion, Verun­si­che­rung, Erschüt­te­rung – kann man das noch so sagen? Die Filmkunst von morgen... wen inter­es­siert das?
Kann und will Kino uns noch den Sinn des Lebens lehren?

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Mit der FAS landen wir wieder auf dem Boden der Tatsachen, kommen gewis­ser­maßen von Wolke 7 wieder auf Wolke 1 an, in der deutschen Wirk­lich­keit, obwohl wir da doch eigent­lich erst morgen landen. In Cannes hat Verena Lueken mit Jury­mit­glied Christoph Waltz gespro­chen. Und weil der über die Jury­ar­beit nicht sprechen darf, zitieren er und Verena dann lieber ein bisschen aus meinen Cinema-Moralia-Texten, die man bei der FAZ offenbar auch aufmerksam liest liest: »Wer ist schuld am Zustand des deutschen Films, der hier immerhin mit einem Debüt, wenn auch nicht im Wett­be­werb, vertreten ist? Die Film­för­de­rung, sage ich, die sich mit inter­na­tio­nalen Kopro­duk­tionen brüstet, ohne dass diese fürs deutsche Kino von Bedeutung wären. 'Das sind doch Steu­er­gelder', meint Waltz, ›das müsste man viel­leicht mal deut­li­cher hervor­heben.‹ ... Waltz sagt: ›Und die Film­aka­demie.‹ Das kommt uner­wartet. ›Wissen Sie, wenn die Film­aka­demie die Geld­preise nicht abschafft, trete ich aus. Die muss sich schon entscheiden, ob sie eine Akademie sein will oder ein Verein.‹
Das einzige, das dabei völlig unter den Tisch fällt: Waltz ist immer noch Öster­rei­cher. Auch wenn ihn gern alle einge­meinden würden – er spricht gewis­ser­maßen von Außen.«

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Einen hoch­in­ter­es­santen Text, der sich mit unserer Debatte neulich mit Diego Lerer aus Buenos Aires über den grund­sätz­li­chen Kurs des Festivals weit­ge­hend deckt, schrieb Dominik Kamalz­adeh im Wiener Standard. Vom »Anschein der Konso­li­die­rung« und »Eindruck eines abge­si­cherten Quali­täts­kinos« ist darin die Rede. Tatsäch­lich wünscht man Cannes wieder etwas mehr Mut beim Program­mieren, den Mut, mehr Filme aus Un Certain Regard in den Wett­be­werb zu heben. Erst wenn wir allen Ernstes erwarten können, aus einem Cannes-Film anders heraus­zu­kommen, als wir hinein­gingen, hätte das Festival seinen Zweck wirklich erfüllt. Die Quelle Cannes muss unsicher sein, ein wenig bittter schmecken und vergiftet...