01.08.2013
Cinema Moralia – Folge 68

Zwischen­sta­tion Sehnsucht

Nibelungen
Fritz Langs Die Nibelungen:
Auch schon hier sind die Mongolen am Werk
(Foto: Universum-Film Verleih GmbH (Ufa))

Die Nibelungen mal wieder, Bayreuth, Mongolen-Ansturm, der Kulturstaatsminister, künstlerischer Terrorismus und Listen, Listen, Listen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 68. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Dissent can be dicy.«
Susan Sarandon in der Rolle der Ex-Revo­luz­zerin Susan Solarz in Robert Redfords The Company You Keep

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»Diese Entschei­dungs­lo­sig­keit«, sagte der Redakteur, »es ist wie vor dem Joghurt-Regal. Welche Sorte soll man nehmen? Und von welchem Anbieter?« Tja, ein Alltags­schicksal in der Multi­op­ti­ons­ge­sell­schaft. Der Redakteur, der – das ist nicht selbst­ver­s­tänd­lich – auch ein Freund ist, sprach eigent­lich nicht vom Super­markt, sondern von seinem Bücher­vorrat. »Der Stapel ist unendlich – alles Bücher, die man in den Sommer­fe­rien unbedingt lesen sollte.« Mir fällt dazu erstmal nichts ein, aber ich spüre einen Stich im Herzen. Stimmt: Redak­teure haben ja Sommer­fe­rien. Bezahlt! Dann frage ich, ihn, welches Buch denn bei ihm ganz oben auf dem Stapel läge? »Naja«, sagt er, »eigent­lich sollte ich den Kittler lesen.« – »Der ist doch tot?« – »Eben drum«, meint er, »man muss jetzt halt schauen, was an ihm wirklich dran ist. Aber...«, meint er weiter, »ganz oben liegt bei mir ein Buch von Johannes Fried übers Mittel­alter. Kennst Du den Fried?« – Kenne ich, hab ja schließ­lich Geschichte studiert, und mir fällt bei Fried als erstes ein, dass er wie alle deutschen Histo­riker besonders gern englische Tweed-Jackets trägt, grünliche, glaube ich. »Das Mittel­alter«, meint der Redakteur, und klingt jetzt aufgeregt »... in seinem Buch schreibt der Fried über den Mongo­len­ein­fall.« Ich warte. Und glaube, jetzt kommt irgendwas über den Dünger, der das Abendland zum Blühen brachte. »Der Mongo­len­ein­fall ist ein erster großer Anlass geworden, sich mit fremden Kulturen zu befassen. Die Mongolen haben die Hälfte der unga­ri­schen Bevöl­ke­rung massa­kriert und sind wieder abgezogen. Zurück blieb großes Staunen über die Mongolen. Und dann ist der Papst gekommen, und hat gesagt: ›Dem müssen wir nachgehen.‹ Das ist ja die Frage, die man auch heute hat: ›Wer sind die Aliens?‹ Das Abendland, das hat da aufgrund des Fragen­ka­ta­logs der Hoch­scho­lastik zur Neuent­de­ckung Asiens beigetragen.«

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Im Fernsehen redete am Sonntag dann Frank Castorf bei »ttt« über seinen Ring bei den Wagner-Fest­spielen. Klingt alles gut, und sieht super aus, wenn auch ein bisschen wie Castorfs größter Erfolg »Endsta­tion Sehnsucht«. Aber warum auch nicht? Erstmals seit Jahren habe ich jeden­falls Lust, eine »Ring«-Insze­nie­rung zu sehen, erstmals seit Jahren redet irgendwer über Wagner. Eine Ölplatt­form als Nibe­lungen-Gold – das ist eine Deutung, so platt wie der heutige Kapi­ta­lismus eben ist. Castorf sagt im Beitrag sympa­thi­sche und kluge Sachen. Etwa: »Es geht um Ausnah­me­zu­stände sowieso bei Wagner. Wie laut ist es, wann ist das Orchester und die Zuschauer zu Tode erschreckt, es sind Terror­akte, wie Wagner sagte, künst­le­ri­scher Terro­rismus tut manchmal not.« Oder: »Götter­däm­me­rung ist gut, weil alles, was ist, wird anders werden.«

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Man wünschte sich nur mal so etwas Ähnliches im Kino. Ein Film, der derart wichtig genommen wird, ohne bieder natu­ra­lis­tisch zu sein – wie Das Leben der Anderen. Sondern so gekün­s­telt, wie eine Castorf-Insze­nie­rung. Und den das Feuil­leton auch wichtig nimmt, und so toleriert, wie Herrn Castorf, der Dinge tun und sagen darf, von denen Film­re­gis­seure leider nur träumen können. Die deutsche Film­kritik will aber nämlich eigent­lich keine Politik, sowenig wie die Film­branche. Man will nur so tun, als ob, und schon gern sagen können, wie wahn­sinnig politisch etwas ist, aber bei echten Mani­festen oder Polemiken zitiert man hier­zu­lande dann pikiert am liebsten den dummen Satz, Botschaften solle man »mit der Post schicken«.

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Der Mongo­len­sturm, genauer Mongo­len­könig Etzel, gegen den die »teutschen Recken« einen Angriffs­krieg führen, die die schon durch Verrat Entzweiten vereinen soll, spielt ja zwar nicht bei Wagner, aber im Nibe­lun­gen­lied eine zentrale Rolle. Und das hat immer wieder besonders Filmleute angezogen, nicht nur Fritz Lang und seine Epigonen, die in den Sech­zi­gern zwei »Nibe­lungen«-Filme drehten, nicht nur Sat1 vor ein paar Jahren. Auch Helmut Dietl und Bernd Eichinger hatten konkrete Pläne. Jetzt will sie Teamworx-Chef Nico Hofmann reali­sieren – aber vorerst nicht im Film, sondern auf der Bühne der Nibe­lungen-Fest­spiele, wo er ziemlich über­ra­schend ab 2015 die Intendanz übernimmt – mit dem Film­re­gis­seur Thomas Schadt (auch Geschäfts­führer der Ludwigs­burger Film­aka­demie) als künst­le­ri­schem Leiter. Eine weitere Synergie von Film und Theater.
Das neue Stück zur Insze­nie­rung wird von Albert Oster­maier geschrieben, auch ein sehr film­af­finer Thea­ter­autor, der in der »SZ« vom 30.7. Lesens­wertes zum Nibe­lun­gen­stoff sagt: »Das ist eine der gewal­tigsten und gewalt­tä­tigsten Erzäh­lungen der Welt­li­te­ratur und verar­beitet alles, was uns Deutschen an Lieb und Leid innewohnt. ... Darin ist wie in einem Shake­speare-Drama alles vorhanden: Wie aus Privatem Politik und aus Politik das Private entsteht. Gleich­zeitig stecken im Text aber auch Komik, Ironie und Leich­tig­keit, was bislang immer wegge­drängt wurde.«

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Wider­stand kann riskant und unan­ge­nehm sein, keine Frage. Aber manchmal muss es eben sein. Das hat viel­leicht auch Bernd Neumann gedacht, unser Kultur­staats­mi­nister, und ohne Frage einer der ange­nehmsten Menschen in seiner Partei. Vor ein paar Wochen hatte er sehr sehr unan­ge­nehme Tage. Das war, als im Kultur­aus­schuss des Bundes­tags und auch außerhalb des Parla­ments, in den halb­schat­tigen kühlen Hallen, in den die Schwarz-Gelb-Entschei­dungen wirklich fallen, und nicht nur fürs Publikum exeku­tiert werden, über die Künst­ler­so­zi­al­kasse (KSK) gestritten wurde. Bekannt­lich setzten sich Neumann und Arbeits­mi­nis­terin Ursula von der Leyen vehement dafür ein, noch vor der Wahl schärfere Kontrollen der abga­be­pflich­tigen Unter­nehmen durch­zu­setzen, ob die denn ihre Abgaben auch zahlen. Denn seit 2010 werden diese Unter­nehmen immer nach­läs­siger geprüft und bringen die KSK daher in finan­zi­elle Schief­lage.
Bekannt­lich konnten sich beide Minister nicht durch­setzen – geschei­tert sind sie an Wirt­schafts­lob­by­isten, an der FDP und an der Kanzlerin. Die brüs­kierte ihren Minister kürzlich halböf­fent­lich. Denn als Neumann eine Rede hielt, in der er sich für die KSK in der alten Form einsetzte, wird ihre Antwort wie folgt kolpor­tiert: »Das mag Ihre Meinung sein, Herr Neumann, aber die Regierung denkt anders.«

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Weil wir nicht anders denken, erlauben wir uns hier nochmals den Hinweis auf die Petition gegen die Abschaf­fung der Künst­ler­so­zi­al­kasse. Hier steht alles, was man dazu wissen muss – die Petition läuft nur noch bis zum 06.08.2013

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Für Neumann könnten diese Sommer­tage die letzten im Amt sein. Denn zumindest für den Bundestag kandi­diert er nicht mehr, und so speku­lieren manche schon über Nach­folger. Bereits eine Art vorge­zo­genen Abschieds­text veröf­fent­lichte Ende Juli Chris­tiane Peitz, die zwar im Haupt­beruf Feuil­le­ton­chefin und Film­ex­pertin des Berliner »Tages­spiegel« ist, da aber offenbar genug Zeit hat, um nebenbei noch für Radio­sender zu arbeiten. Sowohl im WDR wie im NDR blickte sie auf Neumanns Arbeit zurück – Nachhören oder -lesen lohnt.

Es ist nicht nur ein schmei­chel­haftes Portrait, sie würdigt zwar, der west­preußi­sche Flücht­lings­sohn und ausge­bil­dete Pädagoge habe »die Bundes­kul­tur­po­litik profes­sio­na­li­siert und konso­li­diert«, nennt Tief­sta­peln, und »die geräusch­arme, skan­dal­freie Hinter­zim­mer­po­litik, das Schmieden von Koali­tionen und Kompro­missen« zu seinen Stärken. Doch »das beherzte Angehen offener Fragen ist nicht seine Sache. Neumann sitzt Debatten lieber aus und pflegt den Konsens«, ein »Macher, ... cleverer Lobbyist, ein Bauern­schlauer«. »Acht Jahre Bernd Neumann, acht Jahre korrekte Bieder­keit bei öffent­li­chen Auftritten, ... Eleganz, gar Esprit, das kann er nicht. ... er wird nicht müde, das öffent­lich-recht­liche Fernsehen an seinen Kultur­auf­trag zu erinnern, wenn ARD und ZDF die Doku­men­tar­film­pro­duk­tion abschaffen oder anspruchs­volle Filme ins Nacht­pro­gramm verbannen. Aber der Geruch des Provin­zi­ellen haftet ihm weiter an, die Mischung aus Unge­schick und Eitelkeit, die wegen seines Hangs zur falschen Aussprache von Namen immer wieder peinlich berührt.«

Diese vage Kritik an Äußer­li­chem ist recht hart, und schwächt die wirklich sach­li­chen Argumente, die Peitz natürlich auch hat: »Man wünschte sich auf Dauer mehr Program­ma­ti­sches vom höchsten Kultur­amts­träger im Staate, mehr als nur die wort­reiche Sorge um die kultu­relle Bildung oder die Zukunft des Urhe­ber­rechts im digitalen Zeitalter. Wo bleibt eine zündende Idee, wie dem Kultur­pre­ka­riat geholfen werden kann? Wo das leiden­schaft­liche Bekenntnis zum skeptisch beäugten Humboldt-Forum mit den außer­eu­ropäi­schen Samm­lungen im Schloss: zu einem im Herzen der Nation ange­sie­delten Haus für die Kultur­schätze der Welt, deren Wert sich in globa­li­sierten Zeiten von selbst verstehen müsste? Warum rührte Neumann so gut wie nie die Werbe­trommel für die Berliner Kunst­schätze der Moderne und die Behebung der Platznot in der Neuen Natio­nal­ga­lerie? Warum besticht er neben den Haus­häl­tern nicht auch die Öffent­lich­keit mal mit Argu­menten? ... Ja, Neumann hat den Film wirt­schaft­lich voran­ge­bracht und die Babels­berger Studios sind mit inter­na­tio­nalen Produk­tionen wieder gut ausge­lastet. Aber künst­le­risch hat der deutsche Film wenig zu melden, inter­na­tional laufen ihm kleinere Länder wie Öster­reich oder Dänemark den Rang ab. Hier hat Neumann zu wenig gestaltet.«

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In dieser letzten Juli- ersten August­woche ist Deutsch­land mehr denn je in Ferien versunken. Gerade schreibe ich in Mannheim, im Cafe Vienna, das ich unver­zeih­li­cher­weise erst im zwölften Jahr meiner regel­mäßigen Mannheim-Besuche per Zufall entdeckt habe, obwohl er mitten im berühmten »Quadrat« liegt. »So ein bisschen alter­nativ« sei der Laden, charak­te­ri­siert ihn die Bedienung – und das stimmt zumindest wenn man auf die Preise guckt. Die sind nämlich fast wie zu DM-Zeiten. Und nirgendwo wird man so oft gefragt, warum man mit dem Laptop dasitzt und arbeitet, warum man schreibt und was – die Mann­heimer haben eben kein Blatt vorm Mund und ein gesundes Verhältnis zur Arbeit, zum Wort, und zum Schreiben, dieser unge­sunden Tätigkeit.

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Immer wieder werde ich als Film­kri­tiker gefragt, welches meine zehn (warum eigent­lich zehn und nicht elf oder zwölf oder dreißig?) Lieb­lings­filme seien. Nun, sie wechseln eigent­lich ständig. Aber hier mal die aktuelle 10er Liste: King Kong; Le mépris; Barba­rella; Casino; La notte; Modern Times; Die sieben Samurai; Bonjour Tristesse; The French Connec­tion; Menschen am Sonntag. Beschis­sene Liste. Was und wer da alles fehlt! Also eine zweite: Die Außen­sei­ter­bande; Chungking Express; Armee im Schatten; Barry Lyndon; Dr. Mabuse, der Spieler; Saboteure; Novecento; Once Upon a Time in America; Die ameri­ka­ni­sche Nacht; Les Demoi­selles de Rochefort. Auch blöd. Also noch eine: Beruf: Reporter; Pierrot le fou; Diva; M – Eine Stadt sucht einen Mörder; Das Appar­te­ment; Bunny Lake Is Missing; Dressed to Kill; The Year of Living Dangerously; 2046; The Night of the Hunter – ach, so ein Quatsch. Es geht einfach nicht. Merkt ihr ja, oder? Eine Liste ohne Malick, ohne Roeg, ohne Rossel­lini, ohne Curtiz, ohne Bunuel, ohne Coppola, ohne Allen, ohne... ohne... ohne... Geht einfach nicht. Auch wenn mir die letzte Liste am besten gefällt.

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»Denn nur das reinste Licht wird dazu taugen, wenn heilige Glut die ersten Strahlen spinnt, wofür die wunder­vollen Menschen­augen nur klägliche und trübe Spiegel sind.«
Charles Baude­laire, Die Blumen des Bösen

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.