64. Berlinale 2014
Architektur und Verzweiflung: Forum/Expanded |
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Heinz Emigholz, hier mit Kreidler: Airstrip | ||
(Foto: Filmgalerie 451 GmbH & Co.KG) |
Von Dunja Bialas
Fleischlappen fliegen durch ein Flughafenfoyer, zwischen den Reisenden hindurch, die zur Landebahn gehen. Dazu Elektro-Pop von Kreidler: Wir befinden uns im neuesten Film von Heinz Emigholz. Emigholz, der ehemalige Professor für experimentelle Filmgestaltung an der UdK Berlin, ist bekannt für seine strengen Architekturfilme, die dem rechten Winkel und der Horizontalität trotzen. Stets in gekippten Linien zeigt er uns seit den achtziger Jahren bedeutende Bauwerke, von der Antike bis zur Moderne. Jetzt hat Emigholz mit einem 21. Teil diese mit dem langen Atem von 30 Jahren angelegte Serie abgeschlossen und präsentierte auf der Berlinale Airstrip – Aufbruch der Moderne, Teil III. Unerwartet offen, ließ Emigholz zum ersten Mal einen Textkommentar zu, grandios und mit brüchiger Stimme aus dem Off vorgetragen von Natja Brunckhorst. Die Reflexionen gelten den historischen Bezügen, die in den Gebäuden stecken, und die Emigholz gerne auf den einen, einfachen, aber eingängigen Gedanken herunterbricht. Warum gibt es heute noch den Mercado de Abasto, erbaut von Viktor Sulcic, aus den dreißiger Jahren in Argentinien? – Weil die Argentinier keinen Weltkrieg hatten. – Was aber passierte in dem Stadion La Bombonera, ebenfalls erbaut von Viktor Sulcic? – Es wurde von den Argentiniern während der Diktatur als Konzentrationslager missbraucht, um von dort aus die Menschen massenhaft in den Tod der »Verschwundenen« zu schicken. Durch ähnliche Gegenüberstellungen und kontrastierende Geschichtsbetrachtungen unternimmt Emigholz eine Reise rund um den Globus, mit einem zentralen geographischen Zwischenstopp in Japan, von dem aus die beiden Atombomben gestartet wurden. (Warum bin ich heute am Leben? – Weil die Amis den Japanern die Atombombe geschickt haben. – Und nicht uns, wie die ursprünglichen Pläne gewesen waren, musste er dann doch im Publikumsgespräch erklären.) Airstrip bleibt anders als Emigholz' früheren Filme immer in Bewegung, die titelgebende Landebahn dynamisiert seinen Film zum gedanklichen Abflug und visuellen Aufbruch. Dabei kann Emigholz bisweilen sogar komisch sein. »Ich hasse Musik im Dokumentarfilm. Man sollte sie durch ein Gesetz verbieten«, lässt er einmal sagen – und gleich darauf setzt der dröhnend-leichte Elektropop Kreidlers ein. Macht sich Emigholz am Ende über seine eigene Prinzipienreiterei lustig? Oder streift er hier die Maske der Strenge ab, die er über die Jahre kunstvoll angelegt hat? Ein offener Film zum Abschluss eines Zyklus', der viele Fragen unbeantwortet lässt, der aber auch viele Türen als Ein- und Ausgänge öffnet, durch die Emigholz selbst oder der Zuschauer gehen kann. Wie in dem absurden und leicht-sinnigen Musikvideo, Teil von Airstrip, mit dem Emigholz/Kreidler letztes Jahr in Oberhausen den Muvi-Award gewannen.
Mehrere Tage lang war Airstrip der beste, weil überraschendste Film der Berlinale. Sicherlich lag dies an dem Wagnis, sich in das Programm des Forum Expanded zu begeben, das dieses Jahr zum neunten Mal abgehalten wurde. Im Vergleich zum Vorjahr war es ambitioniert gewachsen: 15 Programme, die als »Artist’s Talk« abgehalten wurden, zehn mehr als noch im Jahr zuvor.
»Artist’s Talk«: Die Idee, die sich dahinter verbirgt, ist ein Programm aus wenigen kurzen und mittellangen Filmen zu präsentieren, die inhaltlich-thematisch oder auch ästhetisch zusammenpassen, um mit den Filmemachern anschließend ein gemeinsames Gespräch zu führen. Stringent war dieses Konzept, wenn das Programm aus einem Guss war und die Fokussierung auf einen »Artist« genug Anschauungsmaterial und damit Gesprächsgrundlage lieferte, auch wenn die Gespräche oft harmlos oder ehrfürchtig abliefen. Die österreichische Experimentalfilmerin Friedl vom Gröller beispielsweise präsentierte aktuelle Filme und bewies mit ihnen, wie altbacken und bieder »Avantgarde« sein kann, wenn sie sich selbst ästhetisch und thematisch nur repetiert. Einzig der vierminütige Poetry For Sale gab eine Stoßrichtung nach vorne. Er machte deutlich, wie wichtig es ist, dass sich auch die »klassische Avantgarde« (was für ein Widerspruch in sich!) neuen Medien und Themen öffnet: Vom Gröller fährt hier in der Pariser Metro, fängt die Menschen mit ihrer Bolex-Kamera ein und lässt aus dem Off die Gedichte eines Poetry-Straßenverkäufers aufsagen. Dort, wo sich Friedl vom Gröller von sich selbst und dem umfassenden Thema »Frau« ab- und sich einem offenen sozialen Raum zuwendet, wirkt ihr Filmen plötzlich frisch und unverbraucht. Ähnlich wie in dem gespielten einminütigen Witz Warum es sich zu leben lohnt, in dem sie sich selbst beim Zähneziehen filmt. Eine ironische Anspielung an die körperlichen Selbstverstümmelungen vor laufender Kamera der Wiener Aktionisten und mit weitaus mehr Assoziationsraum als Im Wiener Prater, in dem sie sich beim Pinkeln filmt (was wieder die üblichen, ihren Mut zur Selbstentblößung bewundernden Kommentare des Publikums hervorbrachte).
Bezeichnenderweise wurden zwei Filme, die in ihrem Interesse an Architektur und Design gut der Emigholz-Schule entstammen könnten, Highlights des Forum-Expanded-Programms. Provenance von Amie Siegel geht der Spur von Sesseln nach, die in Europa im sechsstelligen Bereich versteigert werden, bis zurück in die von Le Corbusier und Jeanneret entworfene indische Stadt Chandigarh. Hier, angesichts der riesigen Lagerhallen, in denen sich die hoch gehandelten Möbel als formschöne Massenware anstauen, verliert der Design-Fetisch der westlichen Welt seine vormals inszenierte Aura, wird die Hysterie des Kunstmarktes ad absurdum geführt. Provenance, mit dem neuen »Think:Film Award« ausgezeichnet, wäre nur halb so schlau, gäbe es nicht noch einen filmischen Nachsatz. In Lot 248 wird dokumentiert, wie Provenance auf den Kunstmarkt geschleust und auf einer Christie’s Auktion zu einer absurden Summe versteigert wird: Die Pervertierung des Kunstmarkts schließt sich im Kreis.
Amie Siegel bevorzugt klare Aufnahmen und zeigt die Menschen als funktionale Handlanger im Dienste des Designs (das Aufpolstern eines Sofas, das Arrangement einer Sitzgruppe für einen Foto-Termin). Dies ändert sich schlagartig mit der Ankunft in Indien. Hier sorgt ein stark benutztes Sitzkissen für mehr Bequemlichkeit auf Stühlen, auf die sich im Westen wegen ihrem Geld- und Design-Wert keiner setzen würde, und in den Hallen lagert Mobiliar, das mit dem Verfall von Chandigarh und dem Ende des Kolonialismus ausrangiertes Souvenir geworden ist.
Architektur und ihre Funktionen stehen auch im Zentrum von Stefanie Gaus' und Volker Sattels Beyond Metabolism, ein Titel, der auf die japanische Architekturbewegung des »Metabolismus« abzielt. Anders als aber der Titel androht, richtet sich der Film jedoch keineswegs nur an Architektur-Nerds. Sondern befasst sich mit menschlicher Kommunikation, ihren Wegen, die sie in Gebäuden nehmen müssen, bei internationalen Kongressen und mit den Konsequenzen für die Anforderungen an Architektur, die sich im konkreten Beispiel in einer wabenartigen Bauweise realisierte. Auch hier: mit Ruhe kadrierte Aufnahmen, aber auch Gespräche mit den Dolmetscherinnen und Takes von Kongressen. Und auch hier wieder die Zurichtungen des Raumes auf seine Funktionalität hin (Tische werden abgewischt, Kopfhörer verteilt, Stühle gerückt).
In Schönheit sterben: Dies könnte durchaus für die Emigholz-Siegel-Gaus-Sattel Filme gelten. Auf den ersten Blick. Hinter den architekturalen Konstruktionen, die sie sorgfältig kadrieren, offenbaren sie jedoch viel mehr, was sie so sehenswert macht, (globale) Geschichte, Gesellschaft und nicht zuletzt: den Menschen.
Apropos, der Mensch. Wie die Menschen, vulgo die Zuschauer, von einer so ambitionierten Sektion wie das Forum Expanded behandelt werden, ist leider einen eigenen Absatz wert. Wer sich vorgenommen hatte, die Programme des Forum Expanded zu sehen – in stundenplanmäßiger Regelmäßigkeit täglich um 15, 17 und 18 Uhr 30 – wird dies bald bereut haben. Lange Schlangen bildeten sich bereits eine halbe Stunde vor offiziellem Filmbeginn und ballten sich zum Berlinale-Peak am Wochenende bis in die hinteren Winkel des Arsenal-Foyers. Ein Warten ohne Ende: der Einlass verzögerte sich regelmäßig um bis zu einer halben Stunde. Nicht näher definierte »technische Probleme« seien daran Schuld, eine Moderatorin des Forum-Expanded-Teams empfahl den Wartenden, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, um bis zum Filmstart zu überbrücken (zu diesem Zeitpunkt war man schon durch eine halbe Stunde Überfälligkeit zermürbt). Dies ohne große Entschuldigung, wie man als Besucher der Filmprogramme generell vom Personal wie ein Störfaktor behandelt wurde, der lästigerweise Filme sehen wollte. »Filme ohne Publikum« mag zwar programmatisch für manche der gezeigten Werke zutreffen, wenn sich aber dennoch eins einfindet, sollte man es zumindest so behandeln, dass es seine Würde wahren kann. Erschwerend kam hinzu, dass maximal drei kurze bis ein kurzer und ein mittellanger Film in ein Programm zusammengefasst waren. Was konkret bedeutete: bis zu einer Stunde anstehen für 20 bis 40, manchmal auch 60 Minuten Film. Wer dies dreimal hintereinander am Tag gemacht hat, an mehreren Tagen, fragte sich nicht nur angesichts der präsentierten Filme, warum die Zuschauer eigentlich ausgerechnet vom Forum Expanded so schlecht behandelt werden, und warum es einem so schwer gemacht wurde, das Programm der Berlinale zu sehen, auf das sich nicht zwangsläufig der allgemeine Fokus richtet. Eine Bündelung der Filme zu größeren Programmpunkten jenseits des »Artist’s Talk«-Konzeptes hätte zumindest die Wartezeit ökonomisiert und die Verzögerungen, jetzt nicht mehr im 20-Minuten-Slot, kalkulierbarer gemacht.