67. Filmfestspiele Cannes 2014
Nuri Bilge Ceylan und die Türkei in der Nussschale |
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Atom Egoyans Kältethriller The Captive |
Der Freitag brachte sechs Filme. Man könnte auch sagen, es seien eigentlich sieben Filme, denn der türkische Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan dauerte fast dreieinhalb Stunden, zählt also was die physische Präsenz und Anstrengung betrifft, doppelt. Der Morgen begann aber mit Atom Egoyan.
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Ein böserer Zauberer raubt ein unschuldiges Mädchen, macht sie sich gefügig, worauf deren Mutter Rache nimmt… Die Arie der »Königin der Nacht« und später auch die Rachearie aus Mozarts Zauberflöte erklingen beide mehrfach an entscheidender Stelle in Die Gefangene, dem neuen Thriller des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan (Das süße Jenseits, Felicia, mein Engel), der gestern Abend im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte. Bei Mozart entpuppt sich der Entführer allerdings als Humanist und Vertreter der Aufklärung, der die alten Zöpfe abschneiden will – bei Egoyan ist er einfach ein Perverser, der an der Spitze eines überaus mächtigen und Gesellschaft gut vernetzten Verbrecherrings steht, der Kinder missbraucht.
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Vor Jahren wurde die zehnjährige Cassandra entführt, und der Fall lässt die Polizei so wenig los, wie die Eltern. Egoyan erzählt das Geschehen auf mehreren Zeitebenen: Zur Zeit der Entführung, sechs Jahre später und weitere zwei Jahre später, als sich alles auf einen dramatischen Showdown zuspitzt schließlich befreit wird. Wir Zuschauer sehen früh, dass Cassandra noch lebt, dass sie in einem relativ großen luxuriös ausgestatteten, aber perfekt abgeriegelten Zimmer gefangen gehalten wird, das von fern an jene Kellerverließe der Fälle »Amstetten« und »Natascha Kampusch« erinnert.
Wir sehen auch ihren Entführer, und erkennen, wie nahe ihm die Ermittler gelegentlich kommen – und welch üble Spiele er mit diesen und den verzweifelten Eltern des Opfers treibt. So beschäftigt er die Mutter als Putzfrau und konfrontiert sie immer wieder mit kleinen Gegenständen oder Zeichen, die sie an ihre Tochter erinnern, Erinnerungsauslösern. Dabei beobachtet er sie durch versteckte Kameras und delektiert sich an ihrer Verzweiflung.
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Gefangen sind hier im gewissem Sinn alle. Schließlich geht die Geschichte zwar gut aus, doch zuvor wird eine Polizistin entführt, geraten die Eltern selbst unter Verdacht, und andere Kinder in Gefahr. Egoyan versteht sich bei allem grundsätzlichen Kunstcharakter seines Films, bei aller gewollten Sprödigkeit und Konstruiertheit, auch darauf zu liefern, was ein solcher Film liefern muss: Spannung, überraschende Wendungen, Gefahren, eine rasante Verfolgungsjagd in der schneebedeckten Landschaft des kanadischen Winters. Er bersteht es, sein Publikum emotional zu engagieren: Man will so sehr, dass Cassandra frei kommt.
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Gespickt hat der Kanadier alles mit seinen Lieblingsmotiven: Kameras, Bildschirme, gegenseitige Überwachung per Medien, die neue Ordnung des Liebes- und Sexlebens in sozialen Netzwerken, die Abgründe moderner Gesellschaften und der Umgang mit traumatischen Erinnerungen.
Die Sache der Aufklärung bewahren hier die Polizisten, gespielt unter anderem von Tarantino-Star Rosario Dawson und Scott Speedman. Egoyan versteckt die Konstruiertheit seiner Geschichte nie – im Gegenteil: Ihm geht es spürbar nicht um simple Glaubwürdigkeit sondern um Typisierungen von Gefühlszuständen, und um Situationen, die er spannend findet. Die Hauptfigur in diesem Film mit vielen Figuren ist am Ende wohl der Vater (Ryan Reynolds), dem es am Ende auch gelingt die Täter aufzuspüren.
In seltenen Momenten fühlt man sich an Fargo erinnert. Ein guter Film, voll mit ganz vielen tollen Bildern und Einfällen – zugleich etwas unausgegoren. Irgendetwas stimmt hier nicht ganz – was manche Kollegen zu Buhrufen hinriss. Völlig unangemessenen, wie ich meine.
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Egoyans Kino ist seit jeher ein Fetischkino. Die Räume und Gegenstände sind deutlich designed, wie die Ideen. Die Frauen sehen ein bisschen zu gut aus, um wahr zu sein. Sie alle entsprechen wenn man so will auch einer Männerphantasie – es sind »little lost girls« im Inneren, kleine verlorene Mädchen. Das gilt gar nicht so sehr für Cassandra (Alexia Fast), die erstaunliche Souveränität und Abwehrpotentiale im Umgang mit ihrem Entführer an den Tag legt. Aber für die Mutter Tina (Mereille Enos), und auch für Rosario Dawson als Polizistin und Christine Horne als weiblichen Gangster.
Die sagt, als sie die von Dawson gespielte Polizistin mit K.O.-Tropfen ausschaltet und entführt den schönen Satz: »From one professional to another: I wish I'd met someone like you, when I was a little girl.«
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»Verstoßen sei auf ewig, / Verlassen sei auf ewig, / Zertrümmert sei'n auf ewig / Alle Bande der Natur« – so heißt es in Die Zauberflöte. Darüber werden wir weiter nachdenken an den nächsten Tagen.
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Dieser Tag brachte auf die Leinwand mehrfach Winterlandschaften, mehrfach Amour Fou und immer wieder klassische Kammerspiele, oft in bemerkenswert engen Räumen.
Zugleich sind diese ersten Tage von Cannes überdies überraschend deutlich vom Genrekino dominiert. Das Genre kann das des Thrillers sein, wie bei Egoyan. Oder es kann das des Polizeifilms sein, wie im Fall des französischen Schauspieler Mathieu Amalric, der für seine fünfte (Langfilm-)Regiearbeit Georges Simenons Roman »Das blaue Zimmer« verfilmt hat – zum ersten Mal. Das Ergebnis ist ein spannendes, aber etwas trockenes Kammerspiel um einen Indizienprozess.
Im Rückblick erzählt Julien einem ermittelndem Staatsanwalt (dem klassischen juge des französischen Polizeifilms) im Verhör seine Geschichte: Esther und Julien, zwei inzwischen verheiratete Ex-Klassenkameraden treffen sich nach Jahren zufällig wieder und beginnen ein Liebesverhältnis. Irgendwann kommt ihr Mann dahinter. Jetzt will Julien aus Angst um seine Ehe die Geliebte nicht mehr sehen. Sie versucht weiter auf diskrete Form Kontakt zu halten, er verweigert sich. Dann stirbt ihr Mann – ob an seiner chronischen Krankheit, oder weil sie nachgeholfen hat, bleibt bis zum Ende unklar. Gut vier Monate später stirbt auch seine Frau – an vergifteter Marmelade.
Bis zum Schluss bleibt offen, ob das schließlich verurteilte Liebespaar die jeweiligen Gatten ermordet hat. Esthers Mann könnte auch eines natürlichen Tods gestorben sein, Juliens Frau könnte von der so bösen wie argwöhnischen Mutter des Toten ermordet worden sein. Oder sich selbst vergiftet haben...
La chambre bleue ist in jeder Hinsicht ein Vexierspiel, das es in sich hat. Der Leser/Zuschauer bleibt ebenso im Unklaren, was geschah und wie. Simenons Roman kann man als skeptische Theorie der Aufklärung betrachten, einer scheiternden Aufklärung. Und als Betrachtung des einsamen und von vornherein aussichtslosen Kampf des Einzelnen gegen ein System, das glaubt, im Besitz der Wahrheit zu
sein. Die Ermittlung und der Prozess der beiden gemacht wird, ist von den Verfahren der Inquisition nicht zu unterscheiden. Das macht sie zu Opfern und unseren Helden – selbst, wenn sie Täter waren. Zudem ist Julien auch ein Repräsentant des klassischen Konflikt zwischen gelebtem und ungelebtem Leben, für die Konsequenzen, die die Entscheidung für ein Leben hat, und für die mitunter schrecklichen Konsequenzen die die Erstarrungen des Älterwerdens, die Abwehr der eigenen
Verspießerung mit sich bringen.
Doch ist Amalric anzukreiden, dass er genau diese interessanten, zeitgemäßen Aspekte nicht herausarbeitet, sondern allenfalls andeutet. Man könnte das aufregend inszenieren. Weil Amalric dem Roman nichts hinzufügt, aber genügt es, Simenon zu lesen. Sein Film wirkt für sich genommen völlig unnotwendig.
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Dreieinhalb stunden lang ist Winter Sleep, der neue Film von Nuri Bilge Ceylan, der nicht nur bei unseren Freunden in Cannes als »der« Favorit auf die Goldene Palme gilt. Mein Favorit war er vorher nicht, und ist er auch jetzt nicht, obwohl der Film sehr sehr gut ist, den Preis für sich genommen verdient hätte und nur von Ceylans letztem Werk Once Upon a Time in Anatolia übertroffen wird. Die Gründe für diese Vermutung liegen einfach darin, dass ich nicht glaube, dass Jane Casmpion als Jurypräsidentin diesen Regisseur auszeichnen wird, der von Macho-Gehabe nicht frei ist, in dessen Filmen man wenn man will durchaus mysogene Elemente entdecken kann, und der auch hier eine klassische Männerstory erzählt, wenn auch weniger testosterongeladen, als früher.
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Der Film spielt in einem großartigen Hochland im abgelegenen Teil Zentralanatoliens. Die Hauptfigur ist Aydin ein alternder Theaterschauspieler, der sich im Elternhaus zur Ruhe gesetzt hat, dort ein Hotel betreibt, und mit seiner Schwester und seiner deutlich jüngeren Frau Nihal zusammenlebt.
Um diese drei Figuren und eine Handvoll weiterer Charaktere entspinnt sich ein dichtes Beziehungsgeflecht, das einerseits als Portrait der Türkei »in a nutshell« gelesen werden kann: Es gibt einen Hodscha und einen Lehrer, es gibt Proletarier und Kleinbürger. Die Hauptfigur steht für die reiche, gebildete, kunstinteressierte und modern ausgerichtete Elite und ihre Desillusionierungsprozesse.
Der Film braucht die drei Stunden, die nie langweilig werden, im Gegenteil immer unter Spannung stehen und einen sehr eigenen Flow entfalten. Filmhandwerklich ist alles sehr sehr gut, sehr kontrolliert, aber bei aller Kontrolle gibt es auch immer wieder Überschuß, Momente des sich-gehen lassens.
Winter Sleep ist ein erstaunlich gesprächiger Film, ein »talking turk«, stellenweise schwer dialoglastig, andererseits würde man das einem Stück von Tschechow auch nicht vorwerfen, und ein dreistündiger Tschechow wäre eher kurz. Aber ist das wirklich Kino? Zumindest schöpft Ceylan nicht alle dessen Möglichkeiten aus. Vielleicht hat alles etwas zu wenig Bewegung, zu viel Kammerspiel, zu viel Sprache. Es ist spannend, aber ist das genug?
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Nach der Vorstellung sagte einer zu mir: »Wenn er jetzt nicht gewinnt, müssen wir uns nächstes Mal vier Stunden angucken.«
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Ceylans Stärke ist nicht nur eine der Inszenierung. Im Film gibt es immer wieder längere Gespräche, in denen es wirklich um etwas geht. Um Moral, darum, ob man »dem Bösen widerstehen« soll, oder nicht? Um Gerechtigkeit: »Did I create the world? Justice doen’t exist even in nature«, sagt die Hauptfigur.
Oder über Kunst: »The subject chooses you.« So geht es wohl auch Ceylan selber.
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Von der bis vor kurzem richtig guten, unter ihrem neuen Leiter aber etwas verwahrlosenden Sektion Semaine de La Critique hört man bisher nichts, außer einer Sache, die man lieber nicht gehört hätte: Zur SIC-Party bekommt nämlich selbst Dana Linssen, zur Zeit immerhin die Vizepräsidentin des internationalen Kritikerverbandes FIPRESCI keine Einladung. Mal sehen, ob die FIPRESCI auf solchen Kleingeisterkram die Antwort gibt. Hoffentlich...
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Los Simuladores, die Simulanten, heißt die Fernsehserie, mit der der argentinische Regisseur Damián Sziffrón zuhause bekannt wurde. Auf You Tube gibt es offenbar mehrere Folgen – und ich werde sie mir trotz leider nur rudimentärer Spanischkenntnisse angucken.
Der von den Almodovar-Brüdern produzierte Relatos salvajes, mit dem
Sziffron erstmals in Cannes und dann gleich im Wettbewerb vertreten ist, ist eigentlich eine Compilation aus fünf Kurzfilmen, die miteinander nur über ihr Thema, nämlich schräge Begegnungen von Ungleichen, zusammenhängen.
In der ersten Story merken ein paar Dutzend Fluggäste, dass sie alle über einen gemeinsamen Bekannten verbunden sind – der entpuppt sich als Pilot, der das Flugzeug mit den Leuten, die sein Leben zerstört haben, abstürzen lässt. Bei einer Autofahrt geraten zwei Fahrer in einen Streit der gewaltsam eskaliert. In der dritten Episode spielt Ricardo Darin einen Sprengmeister, der durch eine private Abschleppfirma und die Verkettung vieler Zufälle alles verliert, inklusive Frau und Kind – und sich dann dadurch rächt, dass er die Firma in die Luft sprengt.
Wirklich toll sind die zwei letzten Geschichten: Eine reiche Familie versucht die tödliche Unfallfahrt ihres Sohnes zu vertuschen. Und die fünfte: Eine (jüdische, sehr schöne, energiegeladene) Hochzeit gerät zur brutalen Entlarvung der reichen Oberschicht, als die Braut begreift, dass der Bräutigam schon vor der Hochzeit fremd gegangen ist.
Die Qualität dieses Films liegt darin, dass er auf diskrete und unaufdringliche Weise ein hartes antikapitalistisches Manifest entfaltet: Sziffron kennt offenkundig gut, wovon er erzählt, aber das lässt ihn kein bisschen nachgiebiger gegenüber seinem Gegenstand werden. Der Humor von Relatos salvajes hat in etwa so viel Menschenfreundlichkeit wie die Heute Show, der Film bietet toughe, abgründige, zugleich sehr lustige, satirische und kompromisslose Gesellschafts- und Kapitalismuskritik.
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Russische Filmkritiker neben mir finden den Film übrigens »cartoonish«. Die haben’s gerade nötig, Kapitalismuskritik nicht an sich rankommen zu lassen.
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Jessica Hausners Amour Fou besprechen wir hier später ausführlich – zu sagen ist zu dem Film vorweg nur, dass er sehr schöne Seiten hat, zugleich bestimmte grundsätzliche Probleme aufwirft, und entgegen anderslautenden Gerüchten fast gar nichts mit Heinrich von Kleist oder der Romantik zu tun hat.
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Schließlich Red Army – das ist ein netter Sportfilm über die Geschichte des sowjetischen Eishockeys, der leider nicht in sowjetischer, sondern amerikanischer Ästhetik fabriziert wurde. Weswegen es über dieses entbehrliche Filmchen weiter nichts zu sagen gibt, es uns aber immerhin die Überleitung erleichtert zu den beiden Filmen, die wir auch noch sagen »FC Barcelona gegen Athletico Madrid«, bei dem ich ausnahmsweise einmal nicht zu Barcelona hielt, weil ich es dem kampfstarken Außenseiter und Real-Madrid-Alternative zu sehr gegönnt hatte. Und auch deswegen, damit Athletico nicht vor dem Championsleague-Finale nächste Woche frustriert wird. Und weil Barca dieses Jahr den Titel wirklich nicht verdient hatte – tatsächllich gelang Madrid das Unentschieden, und sie wurden Meister.
Zum Pokalfinale ist nur zu sagen, dass die Bayern ihren Sieg so verdient haben, wie Til Schweiger einen Oscar. Immerhin wurde in der Relegation zur Zweiten Liga Bielefeld von Darmstadt 98 rausgekegelt, was uns schon um der Abwechslung willen freut. Wunder gibt es eben immer wieder, im Fußball wie im Kino, also geben wir die Hoffnung nicht auf.