67. Filmfestspiele Cannes 2014
Wenn die Wächter erwachen |
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Atemberaubender Gewinner: Winter Sleep | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Wirst Du mich auch bisweilen im Traum besuchen?«
Frank Wedekind: »Frühlingserwachen«
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Ein Triumph für die Türkei und ein Preis, der auch politisch ist: 32 Jahre nach Yilmaz Güneys Yol und exakt in dem Jahr, in dem »Hundert Jahre türkisches Kino« gefeiert werden, gewinnt mit Nuri Bilge Ceylans Winter Sleep wieder ein türkischer Film mit der Goldenen Palme von Cannes die wichtigste Auszeichnung des internationalen Autorenkinos.
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Er wolle diesen Preis der türkischen Jugend widmen, sagte Ceylan in seiner Dankesrede, »denen, die im vergangenen Jahr ihr Leben verloren haben.« Deutlicher musste der Sieger des Abends nicht werden: Sein Film handelt von einer Erstarrung, einem Winterschlaf, der früher oder später zuende gehen muss. Und unausgesprochen ist das auch politisch gemeint.
Der Preis für Ceylan war so verdient, wie erwartet: Achtzehn Mal öffnete sich zu Camille Saint-Saens Karneval der Tiere an
den vergangenen zehn Tagen der Vorhang im Premierentheater von Cannes. Und am Ende gewann genau jener Film den Wettbewerb, den schon vor Beginn der Konkurrenz die Buchmacher in London vorne gesehen hatten – denn auch auf die Goldene Palme kann man dort Wetten abschließen.
Die Goldene Palme für Ceylan ist angemessen. Damit kann man gut leben, auch wenn ich lieber Kawase oder Assayas oder Godard als Sieger gesehen hätte. Aber Ceylan war »fällig« gewesen, er hatte dann auch eine gute Dankesrede gehalten, die ohne zu plump zu werden, hochpolitisch war. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, der Mann wolle auch noch Premierminister werden. Nein, dieser Preis geht schon in Ordnung, aber er hinterließ auch kaum einen hier wirklich enthusiastisch
– außer unseren türkischen Freunden halt. Eher hat man das Gefühl, die Jury habe ihre Pflicht erfüllt, getan, was nicht zu verhindern war, und nun habe man das halt auch hinter sich.
Das ist dann schon wieder etwas zu wenig für diesen Film, der ja schon mehr ist, als einfach nur fehlerlos und auf der sicheren Seite.
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Dieser Preis kam erwartungsgemäß, Celan hatte schon vor Beginn des Festivals zu den Favoriten gehört. Überraschend war dagegen der »Große Preis der Jury« für die Italienerin Alicia Rohrwacher. Ihren Film Le meraviglie hatte kaum einer der Beobachter auf der Rechnung für »Silbermedaille« des Festivals.
Der Preis der Jury wurde geteilt: Damit speiste man den jüngsten und den
ältesten Regisseur im Wettbewerb gleichermaßen ab: Xavier Dolan und Jean Luc Godard. Das beste Drehbuch gewann der Russe Andrej Zwagintsev für Leviathan. Die Schauspielpreise gingen an Julianne Moore für David Cronenbergs Maps to the Stars und an Timothy Spall für Mr. Turner.
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Alle Kaffeesatzleser haben sich also getäuscht: Auch unter der feministischen Jurypräsidentin Jane Campion gewann ein Mann den Hauptpreis. Dass die bei vielen als einzige Konkurrenz zu Ceylan angesehene Japanerin Naomi Kawase mit ihrem etwas schwerer zugänglichen, freilich hochpoetischen Still the Water völlig leer ausging, ist die größte Fehlentscheidung der Jury. Ebenso, dass man Assayas gar nicht prämierte. Gut, Rohrwachers »Grand Prix«-Film habe ich nicht gesehen, und konnte ich auch nicht mehr nachholen. Da hatten mir doch alle verlässlichen Kollegen gesagt, der sei anständig, aber nicht mehr als guter Durchschnitt. Im »Certain Regard« besser aufgehoben.
Aber man hatte doch insgesamt den Eindruck komplizierter Kompromisse und von Preisvergaben, mit denen vor allem andere Preise vermieden werden sollten. So war in der Hinsicht der geteilte Jury-Preis verräterisch: Dolan und Godard, der jüngste und der älteste Regisseur, ein Intellektueller und ein Pop-Boy haben auch filmisch nur gemeinsam, dass Dolan die Nouvelle Vague kennt, und immerhin den ernsthaften Versuch unternimmt, bei deren Anfängen auch wieder anzuknüpfen.
Wer die Jury am Samstagabend bei der Preisverleihung und der anschließenden Pressekonferenz verfolgte, der hatte jedenfalls nie den Eindruck, hier säße eine Gruppe, hier säßen Leute, die sich gut genug verstehen, und gemeinsam etwas tun wollen. Sondern ein Haufen von Egomanen, allen voran Nicholas Winding Refn der fortwährend redete, auch wenn er gar nicht gefragt wurde, und der einfach extrem unangenehm und nervtötend rüberkommt, und Sofia Coppola, die wie in ihren Interviews kein Wort sagte, selbst wenn sie gefragt war, und arrogant erscheint. Und Jia Zhang-ke, der aussah, als ob er sich unwohl fühlte.
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Später war noch zu hören, die Jury hätte über alle Preise geheim abgestimmt. Selbst schuld! Wie soll da was Vernünftiges rauskommen? Oder sollen wir uns jetzt freuen, weil das irgendeine Form weiblicher Demokratie ist?
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Die wirklich blöde Botschaft, die von dieser Juryentscheidung ausgeht, ist die, dass es im Kino mehr auf Worte ankommt, als auf Bilder. Das kann ich nicht teilen. Immerhin gingen sämtliche Regisseure aus der Garde der regelmäßigen Cannes-Wiedergänger, der längst auch ästhetisch alten grauen Männer des europäischen Autorenfilms leer aus: Kein Preis für die Brüder Dardennes, oder die Briten Ken Loach und Mike Leigh. Dafür aber Godard, der sich mit 83 als frischer und moderner erwies als fast alle anderen Filmemacher an der Croisette – sehr zu Recht erkannte die Jury die produktive Herausforderung seines Essayfilms Adieu au langage.
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Stilistisch und filmästhetisch waren in diesem Cannes-Jahrgang ansonsten keine herausragenden Neuentdeckungen zu machen. Nach wie vor gilt, worüber wir im letzten Jahr gegen Ende geschrieben haben: Die Globalisierung des Geschmacks. Sie setzt sich fort, sie ist überall spürbar. Die Filme waren gut, aber sie waren kaum überraschend. Es gab nicht Sperriges, Anstößiges, auch nichts Wildes. Schon gar nicht Avantgarde. Sondern alle Regisseure sind brav, möchten Mammi Campion
gefallen, und Klassenprimus werden.
So kann das nichts werden mit dem Kino.
Und auch nicht mit Cannes: Denn Festivals sind immer auch ein Mittel der Geschmacksbildung. Wenn schon Cannes das professionelle Publikum kaum noch zu Anderem, Neuem, zu cinephilen Wagnissen erzieht – wer soll es dann tun?
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Thematisch aber war dreierlei zu beobachten: In fast jedem Film gab es starke, überaus aktive weibliche Charaktere – manchmal wirkte es, als brauchten diese Filme die Männer gar nicht mehr, oder höchstens noch als Stichwortgeber. Auffallend war auch, wie viele Filme in diesem Jahr auf die eine oder andere Art um das Thema Kommunikation kreisten, um ihr häufiges Missglücken und ihr seltenes Gelingen.
Schließlich, damit verbunden, die wichtigste Frage, der wir uns in unseren letzten Blogs an den nächsten Tagen noch ausführlicher widmen werden, und die einmal mehr Godard am prägnantesten gestellt hat: Kommt den hypermodernen Gesellschaften und ihrer Kunst die Phantasie abhanden? Ist der auch im gegenwärtigen Autorenkino erkennbare Hang zu sozialen Sujets, zu ihrer so pessimistischen wie anti-utopischen Abarbeitung und zu einer überaus naturalistischen Darstellung des Lebens, der Gefühle und des Handelns möglicherweise nichts anderes als eine Ausrede für mangelnde Phantasie?
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Zugleich war es ein Festival, das kaum Überraschungen bot. Zur relativ größten Überraschung wurde der drittjüngste Filmemacher im Wettbewerb, der bislang international fast völlig unbekannte Argentinier Damian Sziffrón. Sein Film Relatos salvajes (Wilde Geschichten) war eindeutig der witzigste Beitrag, und in einem Wettbewerb, in dem es traditionell sonst wenig zu Lachen gibt, animierte die Darstellung einer jüdischen Hochzeit, die total aus dem Gleis gerät, auch das hartgesottene Kritikerpublikum zu Lachsalven. Durch Zufall erfährt die Braut mitten auf der Feier, dass ihr frisch Angetrauter erst kürzlich mit einer Bürokollegin fremd ging – und auch noch die Frechheit hatte, diese zur Hochzeit einzuladen. Erschüttert, zugleich fest entschlossen, sich die Party nicht verderben zu lassen, nimmt sie Rache: Sie tanzt in höllischem Tempo, und befördert dabei »ganz zufällig« den ungeliebten Hochzeitsgast ins Krankenhaus, schläft irgendwann mit dem vollkommen überrumpelten Koch, und vor allem macht sie ihrem Gatten klar, wer in Zukunft zuhause das Sagen hat. Bestechend ist Erica Rivas – als sehr schöne, energiegeladene Braut wirkt sie wie die legitime Nachfolgerin von Anna Magnani.
Diese Episode ist die beste und längste eines fünfteiligen Episodenfilms, der von den spanischen Almodovar-Brüdern produziert wurde, und in fünf Kurzfilmen, die sonderbare Begegnungen von Ungleichen, schildern, ein Panorama des modernen Argentinien bietet – und auf diskrete und unaufdringliche Weise toughe, abgründige, zugleich sehr lustige und kompromisslose Gesellschaftskritik übt. Sziffrón ist zuhause mit Los Simuladores bekannt geworden, einer Fernsehserie, die, so Kenner »das argentinische Fernsehen revolutionierte«. Man wird noch von ihm hören.