02.10.2014
Cinema Moralia – Folge 91

Das Ganze ist das Unwahre

Phoenix
Deutliche Botschaften aus der Nachkriegszeit
(Foto: Piffl Medien GmbH)

Zehnte Reihe rechts: Christian Petzolds Phoenix erzählt vom Wiedersehen mit einer Unbekannten. Ein Thriller, der am Boden bleibt; Liebesverrat, Identität und deutsche Seelenzustände. Ein paar Nachtgedanken über das Verhältnis von Askese und Opulenz, Reduktion und Überschuss im Kino
– Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 91. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das geht doch nicht, ich kann doch nicht so aus dem Lager kommen.« – »Sie haben doch selbst gesehen, wie die Leute hier vorbei­gehen an all den Heim­keh­rern und Versehrten mit Verbren­nungen und zerschos­senen Gesich­tern. Niemand schaut sie an. Niemand will etwas zu tun haben mit denen. Aber Ihnen sollen sie ja ins Gesicht schauen und sagen: Da ist Nelly. Sie lebt. Sie hat’s geschafft. Sie ist zurück. Sie freut sich. Sie hat ein luftiges Kleid angezogen und wunder­bare Schuhe – weil sie sich freut.«
Herbert Reinecker: »Derrick«, Folge 204: Das Rote Kleid – oder doch Christian Petzold: Phoenix???

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»Piloten ist nichts verboten.«
Extra­breit

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Ich habe vor diesem Film Angst gehabt. »Mit High Heels aus dem KZ« – das war so einer jener Sätze, die schlag­wort­artig im Raum waberten, als noch kaum einer Phoenix gesehen hatte, aber alle schon etwas zu wissen glaubten, und erst recht, nachdem man von der Ablehnung des Films durch den Wett­be­werb in Cannes erfahren hatte. Ich hatte Bedenken bei diesem Sujet. Denn ich gebe gern zu: Der Berliner Regisseur Christian Petzold ist einer von den Regis­seuren, dessen Filme ich mögen will. Aber bei seinen letzten Filmen habe ich an mir auch einen gewissen Überdruss regis­triert. Einen Überdruss an allem, was ich als reine Wieder­ho­lung und Variation des Immer­glei­chen empfinde: Immer wieder Nina Hoss als Haupt­dar­stel­lerin. Immer wieder Hans Fromms Kamera. Nichts dagegen zu sagen, aber das kennen wir ja nun. Immer noch, trotz leichter Abset­zungs­be­we­gungen, auch viele Elemente des Stils der »Berliner Schule«: Das Schweigen, die Statik, die Stille – die man je nach Tempe­ra­ment dann als bedeu­tungs­voll, als bedeu­tungs­hei­schend oder einfach als manie­ris­tisch empfinden kann. Alles dies hat, so scheint mir, jeden­falls seine Grenzen. Petzold riskiert aus meiner Sicht zu wenig, tritt auf der Stelle, wo er sich weiter­ent­wi­ckeln könnte und müsste.
Sein letzter Film, Barbara wider­legte derartige Gedanken zwar nicht völlig, rela­ti­vierte sie aber. Eine sehr angenehme Über­ra­schung, denn es war Petzolds bester Film seit Die innere Sicher­heit, und ich freute mich darüber, dass hier alles das wieder funk­tio­nierte und höchst lebendig schien, was ich zuvor als zunehmend öde empfunden hatte. Auch Nina Hoss zeigte neue Facetten, schien neu zu blühen. Bei Ronald Zehrfeld ist es etwas anders. Zehrfeld ist toll anzusehen in Filmen wie Dominik Grafs Im Angesicht des Verbre­chens, der gerade auf der ARD wieder­holt wird. In Barbara ging es, würde ich sagen. Aber er hat erkenn­bare Grenzen. Ist Zehrfeld gleich so gut, dass er jetzt in jedem Petzold-Film und in jedem dritten deutschen Kinofilm eine Haupt­rolle spielen muss? Ich habe Zweifel. Ich glaube die zu häufige Präsenz tut ihm so wenig gut, wie irgend­einem anderen. Und ich hoffe nicht, dass Zehrfeld jetzt zum männ­li­chen Pendant von Nina Hoss werden wird.
Jetzt also Phoenix. Wie gesagt: »Mit High Heels aus dem KZ« – das klang nicht so gut. Und dann der Titel: Phoenix. Echt? Aus der Asche? Ach nee, bitte. Und wenn man las: Wieder Hoss, wieder Zehrfeld.... Wie gesagt: Ich hatte Angst. Ande­rer­seits traut man Petzold Geschmack­lo­sig­keiten gar nicht zu. Was ich mir vorge­stellt und was ich für möglich gehalten hatte, war etwas anderes, es war, dass Christian Petzold etwas Ähnliches machen würde, wie in Barbara. Dort hatte er, so hab ich es jeden­falls verstanden (er selbst sieht es anders), eine Alter­na­tiv­ver­sion zu Das Leben der Anderen gedreht, eine Neuin­ter­pre­ta­tion von dessen Geschichte und Motiven vorge­nommen. Nun würde er, so hatte ich mir vorge­stellt, eine Alter­na­tiv­ver­sion zur Anonyma und zu dessen Geschichte und Motiven leisten. Das war eine gefähr­liche Vorstel­lung; aber eine inter­es­sante.
Dies waren die Voraus­set­zungen, unter denen ich den Film gesehen habe. Nachdem ich ihn gesehen habe, kann ich sagen: Die Angst war unbe­gründet; die Bedenken aber bleiben.

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Deutsch­land im Jahre Null, unmit­telbar nach Kriegs­ende. Die Über­le­benden der Vernich­tungs­lager kehren in die Gesell­schaft zurück, Wieder­gänger aus dem Reich der Toten; ohne klare Zukunft, mit einer Vergan­gen­heit, nach der sie keiner fragt. Eine von ihnen ist Nelly, Sängerin, Jüdin, eine Frau, die auch noch durch schwere Brand­wunden gezeichnet ist. Bei einem Schön­heits­chirurg erhält sie zuerst ein neues Gesicht, das dem alten stark ähnelt, sie aber auch zu einer anderen macht. Die Wunden im Inneren bleiben offen.

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Nach dieser Expo­si­tion geht der Film erst richtig los: Denn Nelly sucht ihren Mann Johannes, den sie zärtlich »Johnny« nennt. Der Gedanke an ihn hielt sie im Lager am Leben, erzählt sie ihrer Freundin Lena. Doch nun will sie heraus­finden, ob er sie überhaupt noch liebt, oder ob die Gerüchte stimmen, dass er es war, der sie der Gestapo verraten hat. Als sie Johannes trifft, erkennt der hinter ihrem neuen Gesicht die einstige Ehefrau nicht mehr, aber irgend­etwas muss ihn doch an diese erinnern, ganz unklar zumindest, und so überredet er Nelly, die sich nicht zu erkennen gibt, die Totge­glaubte, also sich selbst zu spielen. Johannes will an Nellys Erbschaft heran­kommen, daher der Betrugs­ver­such. Und Nelly lässt sich auf dieses Spiel ein, weil sie heraus­finden will, was in Johannes wirklich vor sich geht, und wohl auch, weil es ihr, der Ohnmäch­tigen, Trau­ma­ti­sierten, allmäh­lich wieder Macht gibt über sich selbst. Indem sie sich selbst spielt, kann sie sich neu (er)finden.

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Es ist, nach dem DDR-Melodram Barbara erneut ein Histo­ri­en­film, und eine kompli­zierte und sehr bewusst konstru­ierte, gekün­s­telte Geschichte, die Christian Petzold in seinem neuen Film erzählt.
Aber sie ist auch nicht konstru­ierter als die Wirk­lich­keit – wenn wir uns etwa an die histo­risch wahre Geschichte von der »Wieder­kehr des Martin Guerre« erinnern, die auch schon ein Filmstoff war, oder an Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, oder welche, die gleich­zeitig mehrere Familien haben, die nichts vonein­ander wissen. Sie ist auch nicht konstru­ierter als die Handlung von Alfred Hitch­cocks Vertigo, einem Lieb­lings­film von Petzold, in dem ein Mann eine vermeint­lich unbe­kannte Frau nach dem Ebenbild einer vermeint­lich Toten formt.

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Ein Histo­ri­en­film, den man mit anderen, neueren dieses Genres, mit Der Untergang etwa oder Sophie Scholl verglei­chen könnte, ist Phoenix am aller­we­nigsten. Eher der Gegen­ent­wurf dazu, der sich an anderen Polen der deutschen Film­ge­schichte ausrichtet, an Käutners Unter den Brücken, Staudtes Die Mörder sind unter uns, Peter Lorres Der Verlorene, an frühen DEFA-Produk­tionen und dem späten Fass­binder. Überhaupt ist dies, zum zweiten Mal nach Jerichow, ein Schritt Petzolds aufs Fass­binder-Terrain.

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Es ist auch ein Psycho­thriller, bei dem die Iden­ti­täten, die Grenze zwischen dem Wieder­erkennen und dem Leugnen der Vergan­gen­heit, ähnlich schillern, wie die zwischen Gestern und Heute. Denn Phoenix ist ein Film über Neuan­fänge, und darüber, dass es Neuan­fänge wohl nicht ganz ohne Lügen und Verdrängen gibt. Denn der Liebes­verrat, den der Ehemann Johannes vermut­lich begangen hat, und noch einmal unbewusst begeht, indem er seine Frau nicht wieder­erkennen kann, für sie blind geworden ist, dieser Liebes­verrat ist letzt­end­lich auch ein gegen­sei­tiger: Denn Nelly spielt das Spiel ja mit, klärt ihn nicht auf, und beraubt ihn somit der Chance, zumindest reinen Tisch zu machen.
Sie hat dafür ihre guten Gründe. Aber auf ihren Kern reduziert, erzählt Christian Petzold hier davon, dass die Wahrheit, um heraus­zu­kommen, manchmal die Lüge braucht.

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Zum sechsten Mal spielt Nina Hoss in einem Petzold-Film die Haupt­rolle, und tatsäch­lich gelingt es, in diesem Auftritt als Zerrüt­tete, innerlich wie äußerlich Versehrte, wieder eine neue Facette dieser groß­ar­tigen Darstel­lerin zu finden. Die Frau, die Hoss uns zeigt, wird gewis­ser­maßen im KZ neu geboren – allmäh­lich von Bild zu Bild, Film­mi­nute zu Film­mi­nute setzt sie sich wieder zusammen aus den Bruchs­tü­cken der Vergan­gen­heit und ihren Erfah­rungen. Erst am Ende ist sie wieder sie selbst. Aber sie bleibt gezeichnet. Denn auch hier gilt, in diesem Fall sogar erst recht, der Satz: Das Ganze ist das Unwahre. Nach Auschwitz jeden­falls.

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Stilis­tisch ist Phoenix in dem trockenen, zurück­ge­nom­menen und mitunter spröden Stil gefilmt, der für Petzold typisch ist. Manchmal wirkt alles zu reduziert, zu lakonisch, und man fragt sich, ob ein bisschen mehr visueller Über­schuss, Ornament, und »Fleisch« am Knochen­gerüst des Films nicht gut täte. Aber so ist Petzold eben nicht, in seinem Kino herrscht die Sinn­lich­keit des Subtilen, kaum Erkenn­baren, während alle Opulenz verbannt ist. Das macht seine Filme gele­gent­lich anstren­gend, macht ihn aber auch zu einem der wenigen deutschen Regis­seure, die mit klar wieder­erkenn­barer Hand­schrift weltweit als Reprä­sen­tanten des deutschen Kinos und unserer Gegenwart Interesse erwecken.

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Ich halte diese Art des filmi­schen Erzählens nicht für kino­feind­lich. Ich finde aber, sie hat ihre Grenzen, und sie schöpft das nicht aus, was Kino eigent­lich ist. Denn was ist Kino: Zual­ler­erst ein Medium der Bewegung. Auch das ruhigste Bild steht nicht still. Petzolds Filme sind vergleichs­weise unbewegt. Ihre Ruhe ist in schlechten Momenten wächsern. Sie sind auch vergleichs­weise abstrakt. Kino aber hat nicht nur etwas mit Denken zu tun, und nicht nur mit dem, was man indirekt sieht. Denn Kino ist auch Hinschauen, es ist Zeigen, Ausstellen und Spektakel. Und Kino bedeutet Bilder, die sich nicht im Illus­tra­tiven erschöpfen, nicht in dem, was in Worten sagbar ist. Es gibt mir zu wenige solche Momente in Petzolds Filmen. Insofern sind ihre Grenzen enger, als die vieler anderer Filme, die ich liebe.

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Es gibt Kommen­tare zu Petzold, die sind gehässig, sie sind auch so offen­kundig inter­es­se­ge­steuert, dass sie auf den zurück­fallen, von dem sie kommen. Nehmen wir etwa den Mann von Doris Dörrie, Martin Mosz­ko­wicz, Chef der Constantin, dessen Firma natürlich ein syste­ma­ti­scher Feind allen Kinos ist, das ästhe­ti­sche höhere Ansprüche erhebt, ein Advokat der Spaltung zwischen – angeblich toller, leichter, fröh­li­cher – Unter­hal­tung und – angeblich kompli­zierter, schwie­riger, publi­kums­feind­li­cher – Kunst. Nun ist Mosz­ko­wicz auch der Vorstands­vor­sit­zende der Export­ver­ei­ni­gung German Films. Als solcher hat er den deutschen Film – nicht nur Constantin-Filme, sondern alle deutschen Filme – im Ausland zu vertreten. Die Premiere von Phoenix auf dem Festival von Toronto waren nun Anlass für Mosz­ko­wicz, um in einem Gespräch mit dem US-Bran­chen­ma­gazin »Variety« über die »Berliner Schule« zu verbreiten, deren Existenz er einer­seits leugnet, die er ande­rer­seits beschreibt als »eine promi­nente Gruppe mittel­klas­siger Regis­seure«, die »einen düsteren, unemo­tio­nalen, nicht­dra­ma­ti­schen Zugang zum Filme­ma­chen« hätten. Mosz­ko­wicz betritt mit einigen seiner Äuße­rungen in diesem Text ein gefähr­li­ches Terrain – denn er ist nahe dran, hier seine Pflichten als Vorstands­vor­sit­zender von German Films und Reprä­sen­tant des deutschen Films mit seinen persön­li­chen Geschäfts­in­ter­essen zu vermi­schen, wenn er subtil, aber deutlich genug gegen seine Markt-Konkur­renten aus Berlin pole­mi­siert: »Ohne irgend­eine Nähe zu Humor, Unter­hal­tung, Augen­zwin­kern.«
Natürlich ist es eine absurde Vorstel­lung, ausge­rechnet von Mosz­ko­wicz ein vers­tän­diges Urteil über die Berliner Schule, oder wenigs­tens eine humor­volle Reaktion zu erwarten. Was sonst dazu zu sagen ist, hat Andreas Kilb in der FAS in einem sowieso groß­ar­tigen Artikel präzise auf den Punkt gebracht: »Für die mittelstän­di­schen, an profi­ta­blen Mittel­klas­se­filmen inter­es­sierten Produ­zenten der deutschen Kino­branche ist Petzold ein rotes Tuch. Nicht weil seine Filme wortkarg und bild­mächtig sind (sie nennen es 'unemo­tional'), sondern weil sie auch noch Erfolg haben, Preise gewinnen, an der Kinokasse punkten. Weil man sie nicht klein­reden kann. Und weil sie einen Anspruch erheben, den der große Rest der deutschen Jahres­pro­duk­tion auf der Leinwand nicht erfüllen kann: den Anspruch, wahr­haf­tiges Kino zu machen und kein aufgehübschtes Fernsehen.«

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Leider verhin­dert gerade die beschränkte bis bescheu­erte Kritik an Petzold aber eine echte und über­fäl­lige Ausein­an­der­set­zung mit diesen Filmen. Sie zwingt jeden an Filmkunst Inter­es­sierten, jeden Cine­philen, selbst das noch öffent­lich zu vertei­digen, was man eigent­lich gern infrage stellen möchte. Denn natürlich ist die einsei­tige Verklärung der »Berliner Schule« bei manchen Beob­ach­tern, der Verzicht auf Kritik bei vielen falsch.

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Ich habe mich beim Nach­denken über diesen Film in den letzten Tagen immer wieder vor allem gefragt, warum zum Teufel bei Petzold alles derart reduziert sein muss. Warum seine Filme so lakonisch sind, auch visuell, so asketisch, so puri­ta­nisch, auf Reinheit zielend, so stre­ber­haft davon besessen, ja nichts falsch zu machen.
Nach der Reduktion habe ich ihn gefragt. Seine Antwort im letzte Woche veröf­fent­lichten Gespräch befrie­digt mich nicht. Ich finde sie hoch­in­ter­es­sant und nach­den­kens­wert, ich finde seine Position selbst­ver­s­tänd­lich völlig legitim. Aber ich finde sie falsch.
Petzold verweist darauf, die Inter­essen des Regis­seurs – »das Fleisch des Regis­seurs« – hätten nicht zu inter­es­sieren. Warum eigent­lich nicht? Am Ende ist alles, was wir sehen, das, was der Regisseur erfindet und uns zeigen will – oder nicht zeigen will. Petzold verweist auf das Interesse der Figur, darauf, dass er seine Figur, in dem Fall die Haupt­figur Nelly, beschä­digen und entmün­digen würde, hätte er seinen Film wie geplant mit einer Szene von Massen­er­schießungen auf den Todes­marsch von Auschwitz beginnen lassen. Ich glaube nicht, dass es stimmt, ich denke eher, dass Petzold mit seiner ursprüng­li­chen Über­le­gung richtiger liegt, er brauche diese Szene »um zu zeigen, woher sie kommt.« Statt­dessen hören wir sie nur von Auschwitz erzählen. Erzählen aber ist im Kino nicht das Gleiche wie Zeigen.
Aber davon abgesehen ist mir etwas anderes wichtiger: Wenn Petzold hier ein mora­li­sches Argument bemüht, darf er das. Aber lassen wir uns darauf ein: Hat denn ein Regisseur wirklich eine mora­li­sche Verpflich­tung gegenüber einer Figur, die er selbst erdacht hat? Und ist dies seine einzige Verpflich­tung? Hat er nicht eine größere Verpflich­tung seinem Publikum gegenüber? Muss er nicht dem Publikum das geben, was es braucht, um einen Stoff nicht nur zu verstehen, sondern auch emotional und sinnlich auszu­schöpfen?
Rossel­lini hat es in Paisà ja ganz anders gemacht. Er zeigt das Töten, ausgiebig und brutal, er zeigt die Todge­weihten bevor sie sterben, er zeigt ihr Sterben selbst.
Ich glaube, dass die Reduktion in Phoenix eine Ausflucht ist. Ein Weggucken, Wegducken vor der Substanz des Gesche­hens, von dem Petzold doch erzählen will. Die Reduktion ist feige.
Denn wenn man schon von Moral gegenüber einer Figur sprechen will, wenn man schon sagt, man wolle sie nicht beschä­digen, dann ist im Fall von Nelly hinzu­zu­fügen, dass sie schon funda­mental beschä­digt ist. Petzold nimmt sich die Freiheit, sie nach seinem Gusto wieder­her­zu­stellen. Er will ein Ganzes, wo doch nur Zers­törung ist. Darum kann dieses Ganze nur Schein sein. Da aber gilt der Satz, dass des Kaputten kein Ganzes gibt, außer als Lüge. Petzold verhält sich wie der Schöneits­chirurg in seinem Film, und gibt Nelly ein neues Gesicht, das nicht ihres ist, sondern eine Maske.

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Diese Maske steht dem Kitsch leider näher, als es Petzold lieb sein kann. Wenn er im Gespräch mit mir auf »das kleine Lächeln, die kleinen Blicke, das kleine Glänzen in den Schau­spie­lern« verweist, dann stört mich hier das Wort »klein«, seine dreifache Verwen­dung. Dies ist nicht allein eine Absage an die »Bigger-than-life«-Behaup­tung des Kinos, die man übrigens auch nicht einfach so beiseite wischen kann. Es ist auch eine Vernied­li­chung, Hutzi-Putzi-Kitsch, und mehr als ein Hauch von Schre­ber­garten – ästhe­ti­sches Klein-Bürgertum.

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Petzold enthält dem Publikum alles vor, was es seiner Ansicht nach nicht braucht. das betrifft verein­zelt ganze Szenen, wie die erwähnte Eingangs­szene, wie die im Gespräch erwähnte gestri­chene Brief­szene. Es betrifft aber auch die von allen so gelobte Schlußszene. Man versuche sich einmal vorzu­stellen, wie Antonioni, wie Rossel­lini ein von Petzold hoch­ge­schätzter Regisseur, diesen Schluss viel­leicht gedreht hätte. Keines­wegs so abrupt. Er hätte der Haupt­figur Nelly einen ruhigeren längeren Abgang gegönnt, die Kamera – und damit wir mit ihr – wäre auf ihrem Rücken verhar­rend mit ihr aus dem Zimmer gegangen, Musik hätte einge­setzt. All das hätte die gerade gesche­hene Befreiung Nellys zu sich selbst auch visuell und emotional zum Ausdruck gebracht, statt nur gedank­lich.
Dieser Unter­schied ist nicht nur einer des Tempe­ra­ments, oder der indi­vi­du­ellen Auffas­sung davon, was Kino ist – Petzold versagt sich grund­sätz­li­chen Dimen­sionen des Mediums. Im Vergleich zu Antonioni oder Rossel­lini sind seine Filme nicht einfach anderes, sondern weniger Kino.

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Sie sind dies auch, weil Petzolds Filme sich nie ganz von ihren Vorbil­dern oder Gegnern lösen können. Von Hitch­cocks Vertigo und Georges Franjus Augen ohne Gesicht – wie klein ist Phoenix im Vergleich zu diesem Vorbild, wie leer und staubig wirken die Zitate, gerade da wo sie nahe dran sind. Ohne Sog, ohne Spielraum.
Von den Gegnern, weil das Nach­kriegs­berlin von Phoenix leider gar nicht sehr viel anders ist, als das von Anonyma, und da wo es anders ist, ist es schwächer, ästhe­tisch, wie politisch. Ästhe­tisch, denn der Film ist auch da zu arm, wo er Fülle braucht. Etwa an den Szenen im Zug und dann am Bahnhof – das sieht aus, wie Klein­kle­ckers­dorf, nicht wie Berlin. Und wenn doch mal Menschen vorbei­kommen, wie im Park, dann sehen sie aus wie Statisten, die Menschen spielen, die mal vorbei­kommen. Nur im Phoenix-Club stimmt die Szenerie halbwegs, aber auch da hätte Petzold mal von Dominik Graf lernen können: »Wenn im Drehbuch steht: 'Volle Hütte', dann heißt das nicht 20 Leute, sondern 200. Sonst muss man die Szene umschreiben, aber nur mit 20 drehen, weil man sich nicht mehr leisten kann, geht gar nicht.«

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Petzolds Filme heben nie ab, lassen die Figuren und das Publikum nie fliegen.

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Kommen wir zu der größten Schwäche: dem poli­ti­schen Geschmack. Denn Politik und Moral haben auch eine ästhe­ti­sche Seite.
Der »Spiegel« feuerte am Montag vor einer Woche Breit­seiten: »Bleiernes Knall­char­gen­theater«. Das muss einem nicht sympa­thisch sein. Georg Diez ist zwar ein hoch­in­ter­es­santer, kluger, toller Autor. Aber zum Ton seines Textes fiel mir bei der ersten Lektüre nichts anderes ein, als die Schlag­worte »intel­lek­tu­eller Selbst­hass« und »bürger­li­cher Selbst­hass«. Denn wann hätte der »Spiegel« je irgend­einen blöden Ami-Main­stream, oder einen jener dutzenden dusse­ligen soge­nannten deutschen Unter­hal­tungs­filme mit ähnlichen Invek­tiven bedacht? Man lese nochmal das staats­tra­gende Geseiere, das dem Hamburger Magazin zu Der Untergang oder Sophie Scholl einfiel – nicht von Diez aller­dings, das muss man zugeben.
Aller­dings muss ich zugeben: Je länger der Text wurde, je weiter ich las, um so inter­es­santer wurde es, um so mehr musste ich mir einge­stehen, dass – Ton hin, Ton her – Georg Diez nicht nur ein paar Punkte getroffen, sondern in dem entschei­denden Punkt einfach recht hat.
Dieser Punkt lautet, in Diez' Worten: »Die Deutschen hausen in Löchern und hungern, die Juden resi­dieren in Villen und haben eine Haus­häl­terin – ist jemandem von der Produk­tion mal aufge­fallen, dass so eine irrwit­zige Darstel­lung genau die Vorur­teile spiegelt, mit denen sich der Judenhass äußert?« Und weiter: »Es ist eine seltsame Verge­bungs­sehn­sucht, die diesen Film durch­zieht und dabei so tut, als wäre diese Schmon­zette ein Beitrag zu irgend­einer Diskus­sion darüber, wie die Deutschen zu Mördern wurden und wie sie mit diesem mörde­ri­schen Erbe umgingen und warum das Nach­kriegs­deutsch­land so eisig unter­kühlt war, so schock­ge­froren wie die Seelen der Figuren in diesem Film. Im Grunde vernied­licht Petzold damit die Verdrän­gung nach 1945, er rela­ti­viert das, was er wohl über die deutsche Geschichte sagen wollte ... Was Phoenix aber fast exem­pla­risch vorführt, ist das Scheitern eines priva­tis­ti­schen Vers­tänd­nisses von Politik – Petzolds Versuch, das Riesen­ver­bre­chen auf Kammer­spiel­größe zu quetschen, und seine diffuse Sicht auf Geschichte als eine Anein­an­der­rei­hung von Zuständen, dieser Nebel, in den er dieses Deutsch­land so oft und gern taucht...«

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Petzold mag keine Alle­go­rien, sagt er. Seine Filme funk­tio­nieren aber eigent­lich genau als solche – indi­vi­du­elle Geschichten sind sie so wenig wie psycho­lo­gisch plausibel. Eine »durch und durch filmische Studie über die verschie­denen Unfähig­keiten zu trauern« hat jemand den Film genannt. Das mag sein, aber man sieht das nicht. Natürlich kann man sich hier vieles denken, erst recht, wenn man studiert hat. Aber was gibt uns der Film?
Petzolds-Filme seien Genre­va­ria­tionen, Genre­filme zweiter Ordnung, das sagt man so, das haben auch wir immer wieder geschrieben. Aber sie sind vor allem Genre­filme ohne Genre. Alle Petzold-Filme kann man auch als Gespens­ter­ge­schichten beschreiben. Das macht all die beklom­mene Stille, das Zurück­ge­nom­mene, Verhuschte der Figuren begreif­lich: Sie exis­tieren nicht, außer in einem Zwischen­reich reiner Gegenwart. Sie haben keine Vergan­gen­heit und keine Zukunft. Darum ist es besonders inter­es­sant, dass Petzold diesen Un-Ort reiner Gegenwart in seinen letzten Filmen plötzlich in der Vergan­gen­heit sucht. So als wolle er sich auch noch der Zumutung verwei­gern, etwas Iden­ti­fi­zier­bares aus der Gegenwart zu erzählen. Yella war tot, kam aus dem Leben, Barbara wie Nelly kommen aus Zwangs­an­stalten, Lagern. Die Welt, die sie verließen, existiert nicht mehr, und die, in der sie exis­tieren, wird von ihnen verlassen.
Das erklärt sich in diesem Film aber auch noch einmal anders: Man erkennt hinter der Figur des Johnny einen Regisseur und hinter Nelly eine Schau­spie­lerin. Er dirigiert sie, der deutsche Regis­seurs-Mann, der die Ikonen-Frau zum Objekt macht.

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Ist das jetzt ungerecht von mir? »Warum haben die Deutschen mit Petzold jetzt wieder ein Problem? Das ist doch ein toller Film«, fragt mich der Wiener Kollege Dominik. Und ich will ja gar nicht typisch deutsch sein, und beobachte zudem, dass es doch viele im Ausland gibt, die den Film über­ra­schend gut finden.
Viel­leicht aber sind wir Deutschen dann eben beim Shoa-Sujet noch etwas empfind­li­cher. Schwer zu sagen ist es zwar gar nicht, was Petzold hier wollte. Es ist aber auch nicht inter­es­sant. Inter­es­sant ist, ob Petzold wirklich erreicht, was er erreichen will, und ob das, was er erreichen will, nicht viel­leicht ein bisschen zu wenig ist.

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Ästhe­ti­sches Klein­bür­gertum findet sich schließ­lich auch in dem Grund­motiv, dass es der Gesang ist, an dem der betrü­ge­ri­sche Gatte schließ­lich erkennt, dass er selbst betrogen wurde. Da wabert auch noch etwas von der Kunst­ver­klärung mit, das auch Donners­marcks Das Leben der Anderen schwer erträg­lich machte. Und es wird nicht besser, denn es genügt dem Regisseur dann auch nicht, einfach dem Klang der Stimme diese Wahr­heits­macht zuzu­ge­stehen, sie wird verdop­pelt, indem auch der Text des entspre­chenden Chansons höchst bezie­hungs­reich daher kommt, und wird verdrei­facht, indem wir Johnnys Blick sehen, mit dem er die eintä­to­wierte KZ-Nummer auf ihrem Arm erkennt.
Kunst und Shoa, diese Verbin­dung sollte man aber wirklich besser lassen, sie kann nicht gutgehen. Genau das hat Adorno gemeint, als er schrieb, nach Auschwitz könne man keine Gedichte schreiben.

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PS: Ein groß­ar­tiges Interview mit Petzold im »Tages­spiegel«, das Beste, das ich gelesen habe. Da erzählt Petzold benei­dens­wert viel, darunter vieles, was ich noch nie in einem Interview mit ihm gelesen habe. Und einmal mehr merkt man, dass er selbst viel inter­es­santer ist als seine Filme.
Eine seiner Antworten geht so: »Die in der ersten Reihe sitzen, heißt es in Rolf Dieter Brink­manns Gedicht 'Piloten', die wollen mit dem Film wegfliegen. Ich möchte das nicht. Ich sitze gern zehnte Reihe rechts. Da habe ich etwas Distanz und kann früher gehen, ohne zu stören. Für mich ist Kino: eine Silhou­ette von Zuschau­er­köpfen zu sehen und dahinter die Leinwand.« Diese Sätze sagen eigent­lich alles.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.