Cinema Moralia – Folge 91
Das Ganze ist das Unwahre |
||
Deutliche Botschaften aus der Nachkriegszeit | ||
(Foto: Piffl Medien GmbH) |
»Das geht doch nicht, ich kann doch nicht so aus dem Lager kommen.« – »Sie haben doch selbst gesehen, wie die Leute hier vorbeigehen an all den Heimkehrern und Versehrten mit Verbrennungen und zerschossenen Gesichtern. Niemand schaut sie an. Niemand will etwas zu tun haben mit denen. Aber Ihnen sollen sie ja ins Gesicht schauen und sagen: Da ist Nelly. Sie lebt. Sie hat’s geschafft. Sie ist zurück. Sie freut sich. Sie hat ein luftiges Kleid angezogen und wunderbare Schuhe
– weil sie sich freut.«
Herbert Reinecker: »Derrick«, Folge 204: Das Rote Kleid – oder doch Christian Petzold: Phoenix???
+ + +
»Piloten ist nichts verboten.«
Extrabreit
+ + +
Ich habe vor diesem Film Angst gehabt. »Mit High Heels aus dem KZ« – das war so einer jener Sätze, die schlagwortartig im Raum waberten, als noch kaum einer Phoenix gesehen hatte, aber alle schon etwas zu wissen glaubten, und erst recht, nachdem man von der Ablehnung des Films durch den Wettbewerb in Cannes erfahren hatte. Ich hatte Bedenken bei diesem Sujet. Denn ich gebe gern zu: Der
Berliner Regisseur Christian Petzold ist einer von den Regisseuren, dessen Filme ich mögen will. Aber bei seinen letzten Filmen habe ich an mir auch einen gewissen Überdruss registriert. Einen Überdruss an allem, was ich als reine Wiederholung und Variation des Immergleichen empfinde: Immer wieder Nina Hoss als Hauptdarstellerin. Immer wieder Hans Fromms Kamera. Nichts dagegen zu sagen, aber das kennen wir ja nun. Immer noch, trotz leichter Absetzungsbewegungen, auch viele Elemente
des Stils der »Berliner Schule«: Das Schweigen, die Statik, die Stille – die man je nach Temperament dann als bedeutungsvoll, als bedeutungsheischend oder einfach als manieristisch empfinden kann. Alles dies hat, so scheint mir, jedenfalls seine Grenzen. Petzold riskiert aus meiner Sicht zu wenig, tritt auf der Stelle, wo er sich weiterentwickeln könnte und müsste.
Sein letzter Film, Barbara widerlegte derartige Gedanken zwar nicht völlig, relativierte sie aber. Eine sehr angenehme Überraschung, denn es war Petzolds bester Film seit Die innere Sicherheit, und ich freute mich darüber, dass hier alles das wieder funktionierte und höchst lebendig schien, was ich zuvor als zunehmend öde empfunden hatte. Auch Nina Hoss zeigte neue
Facetten, schien neu zu blühen. Bei Ronald Zehrfeld ist es etwas anders. Zehrfeld ist toll anzusehen in Filmen wie Dominik Grafs Im Angesicht des Verbrechens, der gerade auf der ARD wiederholt wird. In Barbara ging es, würde ich sagen. Aber er hat erkennbare Grenzen. Ist Zehrfeld gleich so gut, dass er
jetzt in jedem Petzold-Film und in jedem dritten deutschen Kinofilm eine Hauptrolle spielen muss? Ich habe Zweifel. Ich glaube die zu häufige Präsenz tut ihm so wenig gut, wie irgendeinem anderen. Und ich hoffe nicht, dass Zehrfeld jetzt zum männlichen Pendant von Nina Hoss werden wird.
Jetzt also Phoenix. Wie gesagt: »Mit High Heels aus dem KZ« – das klang nicht so gut. Und dann der
Titel: Phoenix. Echt? Aus der Asche? Ach nee, bitte. Und wenn man las: Wieder Hoss, wieder Zehrfeld.... Wie gesagt: Ich hatte Angst. Andererseits traut man Petzold Geschmacklosigkeiten gar nicht zu. Was ich mir vorgestellt und was ich für möglich gehalten hatte, war etwas anderes, es war, dass Christian Petzold etwas Ähnliches machen würde, wie in Barbara. Dort hatte er, so hab ich es jedenfalls verstanden (er selbst sieht es anders), eine Alternativversion zu Das Leben der Anderen gedreht, eine Neuinterpretation von dessen Geschichte und Motiven vorgenommen. Nun würde er, so hatte ich mir vorgestellt, eine Alternativversion
zur Anonyma und zu dessen Geschichte und Motiven leisten. Das war eine gefährliche Vorstellung; aber eine interessante.
Dies waren die Voraussetzungen, unter denen ich den Film gesehen habe. Nachdem ich ihn gesehen habe, kann ich sagen: Die Angst war unbegründet; die Bedenken aber bleiben.
+ + +
Deutschland im Jahre Null, unmittelbar nach Kriegsende. Die Überlebenden der Vernichtungslager kehren in die Gesellschaft zurück, Wiedergänger aus dem Reich der Toten; ohne klare Zukunft, mit einer Vergangenheit, nach der sie keiner fragt. Eine von ihnen ist Nelly, Sängerin, Jüdin, eine Frau, die auch noch durch schwere Brandwunden gezeichnet ist. Bei einem Schönheitschirurg erhält sie zuerst ein neues Gesicht, das dem alten stark ähnelt, sie aber auch zu einer anderen macht. Die Wunden im Inneren bleiben offen.
+ + +
Nach dieser Exposition geht der Film erst richtig los: Denn Nelly sucht ihren Mann Johannes, den sie zärtlich »Johnny« nennt. Der Gedanke an ihn hielt sie im Lager am Leben, erzählt sie ihrer Freundin Lena. Doch nun will sie herausfinden, ob er sie überhaupt noch liebt, oder ob die Gerüchte stimmen, dass er es war, der sie der Gestapo verraten hat. Als sie Johannes trifft, erkennt der hinter ihrem neuen Gesicht die einstige Ehefrau nicht mehr, aber irgendetwas muss ihn doch an diese erinnern, ganz unklar zumindest, und so überredet er Nelly, die sich nicht zu erkennen gibt, die Totgeglaubte, also sich selbst zu spielen. Johannes will an Nellys Erbschaft herankommen, daher der Betrugsversuch. Und Nelly lässt sich auf dieses Spiel ein, weil sie herausfinden will, was in Johannes wirklich vor sich geht, und wohl auch, weil es ihr, der Ohnmächtigen, Traumatisierten, allmählich wieder Macht gibt über sich selbst. Indem sie sich selbst spielt, kann sie sich neu (er)finden.
+ + +
Es ist, nach dem DDR-Melodram Barbara erneut ein Historienfilm, und eine komplizierte und sehr bewusst konstruierte, gekünstelte Geschichte, die Christian Petzold in seinem neuen Film erzählt.
Aber sie ist auch nicht konstruierter als die Wirklichkeit – wenn wir uns etwa an die historisch wahre Geschichte von der »Wiederkehr des Martin Guerre« erinnern, die auch schon ein
Filmstoff war, oder an Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, oder welche, die gleichzeitig mehrere Familien haben, die nichts voneinander wissen. Sie ist auch nicht konstruierter als die Handlung von Alfred Hitchcocks Vertigo, einem Lieblingsfilm von Petzold, in dem ein Mann eine vermeintlich unbekannte Frau nach dem Ebenbild einer vermeintlich Toten formt.
+ + +
Ein Historienfilm, den man mit anderen, neueren dieses Genres, mit Der Untergang etwa oder Sophie Scholl vergleichen könnte, ist Phoenix am allerwenigsten. Eher der Gegenentwurf dazu, der sich an anderen Polen der deutschen Filmgeschichte ausrichtet, an Käutners Unter den Brücken, Staudtes Die Mörder sind unter uns, Peter Lorres Der Verlorene, an frühen DEFA-Produktionen und dem späten Fassbinder. Überhaupt ist dies, zum zweiten Mal nach Jerichow, ein Schritt Petzolds aufs Fassbinder-Terrain.
+ + +
Es ist auch ein Psychothriller, bei dem die Identitäten, die Grenze zwischen dem Wiedererkennen und dem Leugnen der Vergangenheit, ähnlich schillern, wie die zwischen Gestern und Heute. Denn Phoenix ist ein Film über Neuanfänge, und darüber, dass es Neuanfänge wohl nicht ganz ohne Lügen und Verdrängen gibt. Denn der Liebesverrat, den der Ehemann Johannes vermutlich begangen hat, und
noch einmal unbewusst begeht, indem er seine Frau nicht wiedererkennen kann, für sie blind geworden ist, dieser Liebesverrat ist letztendlich auch ein gegenseitiger: Denn Nelly spielt das Spiel ja mit, klärt ihn nicht auf, und beraubt ihn somit der Chance, zumindest reinen Tisch zu machen.
Sie hat dafür ihre guten Gründe. Aber auf ihren Kern reduziert, erzählt Christian Petzold hier davon, dass die Wahrheit, um herauszukommen, manchmal die Lüge braucht.
+ + +
Zum sechsten Mal spielt Nina Hoss in einem Petzold-Film die Hauptrolle, und tatsächlich gelingt es, in diesem Auftritt als Zerrüttete, innerlich wie äußerlich Versehrte, wieder eine neue Facette dieser großartigen Darstellerin zu finden. Die Frau, die Hoss uns zeigt, wird gewissermaßen im KZ neu geboren – allmählich von Bild zu Bild, Filmminute zu Filmminute setzt sie sich wieder zusammen aus den Bruchstücken der Vergangenheit und ihren Erfahrungen. Erst am Ende ist sie wieder sie selbst. Aber sie bleibt gezeichnet. Denn auch hier gilt, in diesem Fall sogar erst recht, der Satz: Das Ganze ist das Unwahre. Nach Auschwitz jedenfalls.
+ + +
Stilistisch ist Phoenix in dem trockenen, zurückgenommenen und mitunter spröden Stil gefilmt, der für Petzold typisch ist. Manchmal wirkt alles zu reduziert, zu lakonisch, und man fragt sich, ob ein bisschen mehr visueller Überschuss, Ornament, und »Fleisch« am Knochengerüst des Films nicht gut täte. Aber so ist Petzold eben nicht, in seinem Kino herrscht die Sinnlichkeit des Subtilen, kaum Erkennbaren, während alle Opulenz verbannt ist. Das macht seine Filme gelegentlich anstrengend, macht ihn aber auch zu einem der wenigen deutschen Regisseure, die mit klar wiedererkennbarer Handschrift weltweit als Repräsentanten des deutschen Kinos und unserer Gegenwart Interesse erwecken.
+ + +
Ich halte diese Art des filmischen Erzählens nicht für kinofeindlich. Ich finde aber, sie hat ihre Grenzen, und sie schöpft das nicht aus, was Kino eigentlich ist. Denn was ist Kino: Zuallererst ein Medium der Bewegung. Auch das ruhigste Bild steht nicht still. Petzolds Filme sind vergleichsweise unbewegt. Ihre Ruhe ist in schlechten Momenten wächsern. Sie sind auch vergleichsweise abstrakt. Kino aber hat nicht nur etwas mit Denken zu tun, und nicht nur mit dem, was man indirekt sieht. Denn Kino ist auch Hinschauen, es ist Zeigen, Ausstellen und Spektakel. Und Kino bedeutet Bilder, die sich nicht im Illustrativen erschöpfen, nicht in dem, was in Worten sagbar ist. Es gibt mir zu wenige solche Momente in Petzolds Filmen. Insofern sind ihre Grenzen enger, als die vieler anderer Filme, die ich liebe.
+ + +
Es gibt Kommentare zu Petzold, die sind gehässig, sie sind auch so offenkundig interessegesteuert, dass sie auf den zurückfallen, von dem sie kommen. Nehmen wir etwa den Mann von Doris Dörrie, Martin Moszkowicz, Chef der Constantin, dessen Firma natürlich ein systematischer Feind allen Kinos ist, das ästhetische höhere Ansprüche erhebt, ein Advokat der Spaltung zwischen – angeblich toller, leichter, fröhlicher – Unterhaltung und – angeblich komplizierter,
schwieriger, publikumsfeindlicher – Kunst. Nun ist Moszkowicz auch der Vorstandsvorsitzende der Exportvereinigung German Films. Als solcher hat er den deutschen Film – nicht nur Constantin-Filme, sondern alle deutschen Filme – im Ausland zu vertreten. Die Premiere von Phoenix auf dem Festival von Toronto waren nun Anlass für Moszkowicz, um in einem Gespräch mit dem
US-Branchenmagazin »Variety« über die »Berliner Schule« zu verbreiten, deren Existenz er einerseits leugnet, die er andererseits beschreibt als »eine prominente Gruppe mittelklassiger Regisseure«, die »einen düsteren, unemotionalen, nichtdramatischen Zugang zum Filmemachen« hätten. Moszkowicz betritt mit einigen
seiner Äußerungen in diesem Text ein gefährliches Terrain – denn er ist nahe dran, hier seine Pflichten als Vorstandsvorsitzender von German Films und Repräsentant des deutschen Films mit seinen persönlichen Geschäftsinteressen zu vermischen, wenn er subtil, aber deutlich genug gegen seine Markt-Konkurrenten aus Berlin polemisiert: »Ohne irgendeine Nähe zu Humor, Unterhaltung, Augenzwinkern.«
Natürlich ist es eine absurde Vorstellung, ausgerechnet von
Moszkowicz ein verständiges Urteil über die Berliner Schule, oder wenigstens eine humorvolle Reaktion zu erwarten. Was sonst dazu zu sagen ist, hat Andreas Kilb in der FAS in einem sowieso großartigen Artikel präzise auf den Punkt gebracht: »Für die mittelständischen, an profitablen Mittelklassefilmen interessierten Produzenten der deutschen Kinobranche ist Petzold ein rotes Tuch. Nicht weil seine Filme wortkarg und bildmächtig sind (sie nennen es 'unemotional'), sondern
weil sie auch noch Erfolg haben, Preise gewinnen, an der Kinokasse punkten. Weil man sie nicht kleinreden kann. Und weil sie einen Anspruch erheben, den der große Rest der deutschen Jahresproduktion auf der Leinwand nicht erfüllen kann: den Anspruch, wahrhaftiges Kino zu machen und kein aufgehübschtes Fernsehen.«
+ + +
Leider verhindert gerade die beschränkte bis bescheuerte Kritik an Petzold aber eine echte und überfällige Auseinandersetzung mit diesen Filmen. Sie zwingt jeden an Filmkunst Interessierten, jeden Cinephilen, selbst das noch öffentlich zu verteidigen, was man eigentlich gern infrage stellen möchte. Denn natürlich ist die einseitige Verklärung der »Berliner Schule« bei manchen Beobachtern, der Verzicht auf Kritik bei vielen falsch.
+ + +
Ich habe mich beim Nachdenken über diesen Film in den letzten Tagen immer wieder vor allem gefragt, warum zum Teufel bei Petzold alles derart reduziert sein muss. Warum seine Filme so lakonisch sind, auch visuell, so asketisch, so puritanisch, auf Reinheit zielend, so streberhaft davon besessen, ja nichts falsch zu machen.
Nach der Reduktion habe ich ihn gefragt. Seine Antwort im letzte Woche veröffentlichten Gespräch befriedigt mich nicht. Ich finde sie hochinteressant und
nachdenkenswert, ich finde seine Position selbstverständlich völlig legitim. Aber ich finde sie falsch.
Petzold verweist darauf, die Interessen des Regisseurs – »das Fleisch des Regisseurs« – hätten nicht zu interessieren. Warum eigentlich nicht? Am Ende ist alles, was wir sehen, das, was der Regisseur erfindet und uns zeigen will – oder nicht zeigen will. Petzold verweist auf das Interesse der Figur, darauf, dass er seine Figur, in dem Fall die Hauptfigur
Nelly, beschädigen und entmündigen würde, hätte er seinen Film wie geplant mit einer Szene von Massenerschießungen auf den Todesmarsch von Auschwitz beginnen lassen. Ich glaube nicht, dass es stimmt, ich denke eher, dass Petzold mit seiner ursprünglichen Überlegung richtiger liegt, er brauche diese Szene »um zu zeigen, woher sie kommt.« Stattdessen hören wir sie nur von Auschwitz erzählen. Erzählen aber ist im Kino nicht das Gleiche wie Zeigen.
Aber davon abgesehen ist mir etwas
anderes wichtiger: Wenn Petzold hier ein moralisches Argument bemüht, darf er das. Aber lassen wir uns darauf ein: Hat denn ein Regisseur wirklich eine moralische Verpflichtung gegenüber einer Figur, die er selbst erdacht hat? Und ist dies seine einzige Verpflichtung? Hat er nicht eine größere Verpflichtung seinem Publikum gegenüber? Muss er nicht dem Publikum das geben, was es braucht, um einen Stoff nicht nur zu verstehen, sondern auch emotional und sinnlich
auszuschöpfen?
Rossellini hat es in Paisà ja ganz anders gemacht. Er zeigt das Töten, ausgiebig und brutal, er zeigt die Todgeweihten bevor sie sterben, er zeigt ihr Sterben selbst.
Ich glaube, dass die Reduktion in Phoenix eine Ausflucht ist. Ein Weggucken, Wegducken vor der Substanz des
Geschehens, von dem Petzold doch erzählen will. Die Reduktion ist feige.
Denn wenn man schon von Moral gegenüber einer Figur sprechen will, wenn man schon sagt, man wolle sie nicht beschädigen, dann ist im Fall von Nelly hinzuzufügen, dass sie schon fundamental beschädigt ist. Petzold nimmt sich die Freiheit, sie nach seinem Gusto wiederherzustellen. Er will ein Ganzes, wo doch nur Zerstörung ist. Darum kann dieses Ganze nur Schein sein. Da aber gilt der Satz, dass des Kaputten
kein Ganzes gibt, außer als Lüge. Petzold verhält sich wie der Schöneitschirurg in seinem Film, und gibt Nelly ein neues Gesicht, das nicht ihres ist, sondern eine Maske.
+ + +
Diese Maske steht dem Kitsch leider näher, als es Petzold lieb sein kann. Wenn er im Gespräch mit mir auf »das kleine Lächeln, die kleinen Blicke, das kleine Glänzen in den Schauspielern« verweist, dann stört mich hier das Wort »klein«, seine dreifache Verwendung. Dies ist nicht allein eine Absage an die »Bigger-than-life«-Behauptung des Kinos, die man übrigens auch nicht einfach so beiseite wischen kann. Es ist auch eine Verniedlichung, Hutzi-Putzi-Kitsch, und mehr als ein Hauch von Schrebergarten – ästhetisches Klein-Bürgertum.
+ + +
Petzold enthält dem Publikum alles vor, was es seiner Ansicht nach nicht braucht. das betrifft vereinzelt ganze Szenen, wie die erwähnte Eingangsszene, wie die im Gespräch erwähnte gestrichene Briefszene. Es betrifft aber auch die von allen so gelobte Schlußszene. Man versuche sich einmal vorzustellen, wie Antonioni, wie Rossellini ein von Petzold hochgeschätzter Regisseur, diesen Schluss vielleicht gedreht hätte. Keineswegs so abrupt. Er hätte der Hauptfigur Nelly einen ruhigeren
längeren Abgang gegönnt, die Kamera – und damit wir mit ihr – wäre auf ihrem Rücken verharrend mit ihr aus dem Zimmer gegangen, Musik hätte eingesetzt. All das hätte die gerade geschehene Befreiung Nellys zu sich selbst auch visuell und emotional zum Ausdruck gebracht, statt nur gedanklich.
Dieser Unterschied ist nicht nur einer des Temperaments, oder der individuellen Auffassung davon, was Kino ist – Petzold versagt sich grundsätzlichen Dimensionen des
Mediums. Im Vergleich zu Antonioni oder Rossellini sind seine Filme nicht einfach anderes, sondern weniger Kino.
+ + +
Sie sind dies auch, weil Petzolds Filme sich nie ganz von ihren Vorbildern oder Gegnern lösen können. Von Hitchcocks Vertigo und Georges Franjus Augen ohne Gesicht – wie klein ist Phoenix im
Vergleich zu diesem Vorbild, wie leer und staubig wirken die Zitate, gerade da wo sie nahe dran sind. Ohne Sog, ohne Spielraum.
Von den Gegnern, weil das Nachkriegsberlin von Phoenix leider gar nicht sehr viel anders ist, als das von Anonyma, und da wo es anders ist, ist es schwächer, ästhetisch,
wie politisch. Ästhetisch, denn der Film ist auch da zu arm, wo er Fülle braucht. Etwa an den Szenen im Zug und dann am Bahnhof – das sieht aus, wie Kleinkleckersdorf, nicht wie Berlin. Und wenn doch mal Menschen vorbeikommen, wie im Park, dann sehen sie aus wie Statisten, die Menschen spielen, die mal vorbeikommen. Nur im Phoenix-Club stimmt die Szenerie halbwegs, aber auch da hätte
Petzold mal von Dominik Graf lernen können: »Wenn im Drehbuch steht: 'Volle Hütte', dann heißt das nicht 20 Leute, sondern 200. Sonst muss man die Szene umschreiben, aber nur mit 20 drehen, weil man sich nicht mehr leisten kann, geht gar nicht.«
+ + +
Petzolds Filme heben nie ab, lassen die Figuren und das Publikum nie fliegen.
+ + +
Kommen wir zu der größten Schwäche: dem politischen Geschmack. Denn Politik und Moral haben auch eine ästhetische Seite.
Der »Spiegel« feuerte am Montag vor einer Woche Breitseiten: »Bleiernes Knallchargentheater«. Das muss einem nicht sympathisch sein. Georg Diez ist zwar ein hochinteressanter, kluger, toller Autor. Aber zum Ton seines Textes fiel mir bei der ersten Lektüre nichts anderes ein, als die Schlagworte »intellektueller Selbsthass« und »bürgerlicher
Selbsthass«. Denn wann hätte der »Spiegel« je irgendeinen blöden Ami-Mainstream, oder einen jener dutzenden dusseligen sogenannten deutschen Unterhaltungsfilme mit ähnlichen Invektiven bedacht? Man lese nochmal das staatstragende Geseiere, das dem Hamburger Magazin zu Der Untergang oder Sophie
Scholl einfiel – nicht von Diez allerdings, das muss man zugeben.
Allerdings muss ich zugeben: Je länger der Text wurde, je weiter ich las, um so interessanter wurde es, um so mehr musste ich mir eingestehen, dass – Ton hin, Ton her – Georg Diez nicht nur ein paar Punkte getroffen, sondern in dem entscheidenden Punkt einfach recht hat.
Dieser Punkt lautet, in Diez' Worten: »Die Deutschen hausen in Löchern und hungern, die Juden residieren in Villen und haben
eine Haushälterin – ist jemandem von der Produktion mal aufgefallen, dass so eine irrwitzige Darstellung genau die Vorurteile spiegelt, mit denen sich der Judenhass äußert?« Und weiter: »Es ist eine seltsame Vergebungssehnsucht, die diesen Film durchzieht und dabei so tut, als wäre diese Schmonzette ein Beitrag zu irgendeiner Diskussion darüber, wie die Deutschen zu Mördern wurden und wie sie mit diesem mörderischen Erbe umgingen und warum das Nachkriegsdeutschland so
eisig unterkühlt war, so schockgefroren wie die Seelen der Figuren in diesem Film. Im Grunde verniedlicht Petzold damit die Verdrängung nach 1945, er relativiert das, was er wohl über die deutsche Geschichte sagen wollte ... Was Phoenix aber fast exemplarisch vorführt, ist das Scheitern eines privatistischen Verständnisses von Politik – Petzolds Versuch, das Riesenverbrechen
auf Kammerspielgröße zu quetschen, und seine diffuse Sicht auf Geschichte als eine Aneinanderreihung von Zuständen, dieser Nebel, in den er dieses Deutschland so oft und gern taucht...«
+ + +
Petzold mag keine Allegorien, sagt er. Seine Filme funktionieren aber eigentlich genau als solche – individuelle Geschichten sind sie so wenig wie psychologisch plausibel. Eine »durch und durch filmische Studie über die verschiedenen Unfähigkeiten zu trauern« hat jemand den Film genannt. Das mag sein, aber man sieht das nicht. Natürlich kann man sich hier vieles denken, erst recht, wenn man studiert hat. Aber was gibt uns der Film?
Petzolds-Filme seien
Genrevariationen, Genrefilme zweiter Ordnung, das sagt man so, das haben auch wir immer wieder geschrieben. Aber sie sind vor allem Genrefilme ohne Genre. Alle Petzold-Filme kann man auch als Gespenstergeschichten beschreiben. Das macht all die beklommene Stille, das Zurückgenommene, Verhuschte der Figuren begreiflich: Sie existieren nicht, außer in einem Zwischenreich reiner Gegenwart. Sie haben keine Vergangenheit und keine Zukunft. Darum ist es besonders interessant, dass
Petzold diesen Un-Ort reiner Gegenwart in seinen letzten Filmen plötzlich in der Vergangenheit sucht. So als wolle er sich auch noch der Zumutung verweigern, etwas Identifizierbares aus der Gegenwart zu erzählen. Yella war tot, kam aus dem Leben, Barbara wie Nelly kommen aus Zwangsanstalten, Lagern. Die Welt, die sie verließen, existiert nicht mehr, und die, in der sie existieren, wird von ihnen verlassen.
Das erklärt sich in diesem Film aber auch noch einmal anders: Man erkennt
hinter der Figur des Johnny einen Regisseur und hinter Nelly eine Schauspielerin. Er dirigiert sie, der deutsche Regisseurs-Mann, der die Ikonen-Frau zum Objekt macht.
+ + +
Ist das jetzt ungerecht von mir? »Warum haben die Deutschen mit Petzold jetzt wieder ein Problem? Das ist doch ein toller Film«, fragt mich der Wiener Kollege Dominik. Und ich will ja gar nicht typisch deutsch sein, und beobachte zudem, dass es doch viele im Ausland gibt, die den Film überraschend gut finden.
Vielleicht aber sind wir Deutschen dann eben beim Shoa-Sujet noch etwas empfindlicher. Schwer zu sagen ist es zwar gar nicht, was Petzold hier wollte. Es ist aber auch nicht
interessant. Interessant ist, ob Petzold wirklich erreicht, was er erreichen will, und ob das, was er erreichen will, nicht vielleicht ein bisschen zu wenig ist.
+ + +
Ästhetisches Kleinbürgertum findet sich schließlich auch in dem Grundmotiv, dass es der Gesang ist, an dem der betrügerische Gatte schließlich erkennt, dass er selbst betrogen wurde. Da wabert auch noch etwas von der Kunstverklärung mit, das auch Donnersmarcks Das Leben der Anderen schwer erträglich machte. Und es wird nicht besser, denn es genügt dem Regisseur dann
auch nicht, einfach dem Klang der Stimme diese Wahrheitsmacht zuzugestehen, sie wird verdoppelt, indem auch der Text des entsprechenden Chansons höchst beziehungsreich daher kommt, und wird verdreifacht, indem wir Johnnys Blick sehen, mit dem er die eintätowierte KZ-Nummer auf ihrem Arm erkennt.
Kunst und Shoa, diese Verbindung sollte man aber wirklich besser lassen, sie kann nicht gutgehen. Genau das hat Adorno gemeint, als er schrieb, nach Auschwitz könne man keine Gedichte
schreiben.
+ + +
PS: Ein großartiges Interview mit Petzold im »Tagesspiegel«, das Beste, das ich gelesen habe. Da erzählt Petzold beneidenswert viel, darunter vieles, was ich noch nie in einem Interview mit ihm gelesen habe. Und einmal mehr merkt man, dass er selbst viel interessanter ist als seine Filme.
Eine
seiner Antworten geht so: »Die in der ersten Reihe sitzen, heißt es in Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht 'Piloten', die wollen mit dem Film wegfliegen. Ich möchte das nicht. Ich sitze gern zehnte Reihe rechts. Da habe ich etwas Distanz und kann früher gehen, ohne zu stören. Für mich ist Kino: eine Silhouette von Zuschauerköpfen zu sehen und dahinter die Leinwand.« Diese Sätze sagen eigentlich alles.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.