Fieberkurven des Dokumentarfilms |
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Daniel Sponsel, seit 2010 Leiter des Dok.fest, ist Fan von Fieberkurven, an denen sich der wachsende Erfolg des Festivals ablesen lässt. Das zweite Interesse des leidenschaftlichen Marathonläufers gilt dem Wetter. Er weiß: gutes Wetter heißt nicht strahlend Sonnenschein. Vor grauem Himmel hebt sich die neue Dok.fest-Farbe, ein leuchtendes Orange, auch viel besser ab. Foto: Dok.fest |
Von Felicitas Hübner
»Kann ein Dokumentarfilm die Welt verändern?«, fragt Daniel Sponsel. Als Festivalleiter des DOK.festes wird er diese rhetorisch-spielerisch-neckische Frage sowieso mit »Ja« beantworten müssen. Die Welt werden Filme eher nicht verändern, aber zumindest den Blick auf sie. Auch in seinem dreißigsten Jahr zeigt das DOK.fest Filme, die den Blick verändern. Mit Gebärdruck sowie Kinderwunschtheorie und -praxis setzte sich die 1970 geborene Ina Borrmann in ihrem Film Alle 28 Tage auseinander. Die meisterhafte Montage Une jeunesse allemande von Jean-Gabriel Périot porträtiert die Anfänge der RAF vor den Kulissen der BRD der 1960er Jahre. Es ist ein Wiedersehen mit Holger Meins, Ulrike Meinhof und Horst Mahler. Laura Poitras begleitet in Citizenfour Edward Snowden und den inszenierten Skandal um ihn. Sehenswert mit und ohne Oscar.
Anlässlich von Jubiläen blickt man auch zurück: Das allererste DOK.fest fand 1985 und in zwei Kinosälen statt. Die drei FestivalleiterInnen Gudrun Geyer (von 1985 bis 2001), Hermann Barth (von 2002 bis 2009) und Daniel Sponsel (seit 2010) haben das DOK.fest zu einem der größten Festivals für den künstlerischen Dokumentarfilm in Europa entwickelt.
Die Gründung des Dokumentarfilmfestivals geht auf die Initiative der bayerischen Sektion der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm zurück, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den dokumentarischen Film zu popularisieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit dem Verein »Filmstadt München«, einem Zusammenschluss örtlicher Filminitiativen, konnte 1985 das Internationale Dokumentarfilmfestival München mit städtischer Unterstützung an den Start gehen. Zur Leiterin wurde Gudrun Geyer berufen, die innerhalb eines Jahrzehnts ein großes, weltweit anerkanntes Dokumentarfilmfestival aufbaute, ab Mitte der Neunziger nur zu vergleichen mit den Festivals in Leipzig, Amsterdam, Nyon oder Yamagata.
Nach dem Rücktritt Gudrun Geyers 2001 übernahm Hermann Barth im Auftrag des neu gegründeten Vereins Internationales Dokumentarfilmfestival München die Aufgabe, das Festival in München, Deutschland und weltweit weiter zu profilieren. Seit 2002 firmiert das Festival unter dem Markennamen DOK.fest mit erweitertem Programm, und er engagierte Grafikdesigner Gerwin Schmidt, der Jahr für Jahr eine Motivserie entwarf, mit dem die Stadt fächendeckend plakatiert wurde. Das DOK.fest München bietet seither einen Rückblick auf die wichtigsten Filme des Jahres, begleitet Filmografien renommierter FilmemacherInnen, unterstützt FilmemacherInnen aus so genannten »low production countries«, auch geldwert mit dem neu eingeführten »Horizonte«-Preis, und sorgt für nachhaltige Verbindungen zwischen etablierten RegisseurInnen und Nachwuchs.
2009 geht Hermann Barth. Die neue Leitung übernimmt 2010 Daniel Sponsel mit der anfänglichen geschäftsführenden Unterstützung von Christian Pfeil. Aus dieser Zusammenarbeit entstand neben dem Orange als Festivalfarbe und den einprägsamen Sektionstiteln »DOK.reihe«, auch die Bayernreihe DOK.tour. Daniel Sponsel setzt auf das bewährte Erfolgskonzept des bundesweit größten Festivals für lange Dokumentarfilme und erweitert es um die neuen Reihen DOK.deutsch, DOK.guest und wechselnden Themenreihen, kehrt zur Retrospektive zurück, die unter Hermann Barth wegen zu hoher Kosten abgeschafft worden war, und präsentiert seitdem in Pressekonferenzen steigende Fieberkurven von Geldmitteln und Zuschauerzahlen.
Weil es nun eben schon das 30. DOK.fest ist, wird heuer im Deutschen Theater eröffnet. Passend zur Location ist der Eröffnungsfilm ein Film aus der Schaustellerbranche, ein Zirkusfilm. Der dänische Film The Circus Dynasty ist atmosphärisches und hoch emotionales Kino, ein visueller Augenschmaus. Er zeigt eine Liebesgeschichte zwischen den Nachkommen zweier berühmter Zirkusfamilien. (Do. 07.05., 20:00 Uhr, Deutsches Theater / Fr. 08.05., 21:30 Uhr, City 1 / Do. 14.05., 16:00 Uhr, Rio 2 / Sa. 16.05., 20:00 Uhr, Rio 1)
Die zweite Jubiläumszugabe ist die Verlängerung der Spieldauer des orangefarbenen Festivals. Waren es sonst sieben Tage, werden in diesem Jahr über einen Zeitraum von zehn (!) Tagen um die 140 Filme gezeigt.
Neben den Wettbewerbsreihen DOK.international, DOK.deutsch, DOK.horizonte gibt es viele spannende Specials wie DOK.money, DOK.network Africa, DOK.music Open Air und Best-of-Oscars.
Die Rote Armee Fraktion erschütterte einst das westdeutsche Abendland. Doch noch immer ist die RAF historisch nicht eingeordnet. In der Wettbewerbsreihe DOK.deutsch beschäftigt sich der Filmemacher Simon Brückner nicht nur aus sehr persönlichen Gründen mit seinem Vater Peter Brückner, der als vermeintlicher RAF-Sympathisant von seiner Tätigkeit als Dozent suspendiert worden war. In seinem Film Aus dem Abseits geht Simon Brückner auf Spurensuche nach seinem verstorbenen Vater, der als linksintellektueller politischer Psychologe einer der zentralen Unterstützer der deutschen Studentenbewegung war. Barbara Sichtermann ist Publizistin, Schriftstellerin, eine der Intellektuellen der 68er-Generation und Simon Brückners Mutter. (So. 10.05., 18:00 Uhr, Rio 1 / Mi. 13.05., 19:00 Uhr, Filmmuseum / Fr. 15.05., 14:00 Uhr, City 3)
Exhibitionismus à la Facebook und noch schlimmer – eine zeitgeistige Selbstinszenierung, die weh tut: In der Reihe DOK.deutsch läuft Electroboy von Marcel Gisler aus der Schweiz. Die kunterbunte Geschichte des Beau Florian Burkhardt ist die eines unglaublichen Selfmademan mit dem unaufhaltsamen Bedürfnis nach Reizüberflutung: Snowboardprofi, weltberühmtes Topmodel, Internetpionier, Designer, Musiker und Autor. Was ihm in all den Jahren nicht gelingt, ist, zu sich selbst zu finden. Ein facettenreiches Portrait mit tiefem Einblick in familiäre Abgründe. (Sa. 09.05., 18:00 Uhr, City 2 / Mi. 13.05., 21:00 Uhr, Rio 2 / Do. 14.05., 20:00 Uhr, City 3 / Sa. 16.05., 22:00 Uhr, ARRI)
»Und plötzlich klettern sie raus aus den Nachrichten und sind da«, schrieb letztes Jahr artechock-Autorin Natascha Gerold in ihrer DOK.fest-Ankündigung. Auch dieses Jahr wird viel geklettert. Und alles ist sehr da. Dass Demokratien in Afrika ein schwieriges Unterfangen seien, sagte der simbabwische Präsidenten Robert Mugabe. Mit dieser Thematik beschäftigt sich Camilla Nielsson in ihrem Film Democrats, der in der Wettbewerbsreihe DOK.international gezeigt wird. Von 2009 bis 2012 begleitete Camilla Nielsson den Prozess der Verfassungsreform in Simbabwe. Sie zeichnet nicht nur ein einfühlsames Porträt der beiden hauptverantwortlichen Politiker, sondern bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen des politischen Systems. (So. 10.05., 15:00 Uhr, ARRI / Do. 14.05., 11:00 Uhr, Museum Fünf Kontinente / Fr. 15.05., 19:00 Uhr, Museum Fünf Kontinente / Sa. 16.05., 16:00 Uhr, Atelier 1)
Im wirklich breiten Themenspektrum des DOK.fest-Programms tummeln sich neben Realitischem Surreales, Entrücktes und (Alb)traumhaftes: Schäfchen zählen, Schäfchen nummerieren, vergessen, was Schäfchen sind … Zum DOK.internationalen-Repertoire des diesjährigen DOK.festes gehört For the lost (Les Tourmentes) von Pierre-Yves Vandeweerd. Die wilde Einsamkeit der Landschaft im Languedoc, ein Schäfer – oder ist es eine Schäferin? – der seine Schafe über die karstige Hochebene treibt: Kurzgeschlossen mit den Verlorenen, Vergessenen, Verrückten. For the lost ist eine bildgewaltige Meditation zu Vergessen und Gedächtnis. In farbentsättigten und gewaltigen Bildern hat Vandeweerd eine suggestive Symphonie komponiert. (So. 10.05., 16:30 Uhr, Filmmuseum / Mi. 13.05., 21:30 Uhr, Filmmuseum / Do. 14.05. 16:00, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig)
Bertolt Brecht ließ Mackie Messer in seiner »Dreigroschenoper« »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« fragen. Mit vielen weiteren monetären Fragen beschäftigen sich sieben Filme über die Finanzwirtschaft und Wertesysteme, die im Special DOK.money gezeigt werden.
Über dem ersten könnte der Mittelfinger von Yanis Varoufakis schweben. In einer Deutschlandpremiere läuft Agora von Yorgos Avgeropoulos. Griechenland steht vor dem Staatsbankrott und muss das einschneidendste Sparprogramm der Geschichte umsetzen – mit fatalen Folgen für das Volk. Vier Jahre lang verfolgt der Film die Ereignisse der Schuldenkrise aus der Perspektive Griechenlands. (Do. 14.05., 20:00 Uhr, Rio 1 / Fr. 15.05., 17:00 Uhr, Rio 2 / So. 17.05., 16:00, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig). Das Filmgespräch findet am 14. Mai nach der Filmvorführung mit dem Regisseur Yorgos Avgeropoulos, der Co-Produzentin Anastasia Skoubri und dem Kommunikations- und Literaturwissenschaftler, zugleich Leiter des Griechischen Hauses Westend, Costas Gianacacos, statt.
Seine Weltpremiere erlebt der spanisch-deutsche Film Falciani und der Bankenskandal von Ben Lewis. Ben Lewis erzählt die unfassbare Geschichte des Hervé Falcianis, dem Edward Snowden der Finanzwelt. Falcianis ungeheurer Datendiebstahl ließ 2008 die Weltbanken erzittern: Seine Liste ging in die jüngere Wirtschaftsgeschichte ein – und löste allein in Deutschland tausende Selbstanzeigen aus. (Sa. 09.05., 20:00 Uhr, ARRI / Mo. 11.05., 20:30 Uhr, HFF / Sa. 16.05., 16:00 Uhr, Museum Fünf Kontinente / So. 17.05., 16:00 Uhr, Filmmuseum)
Avi Mograbi erhielt im Jahr 2009 den Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste, die ihn als »engagierten Zeitzeugen der Konflikte im Nahen Osten« würdigte. Die diesjährige Retrospektive des DOK.festes ist Mograbi gewidmet. Avi Mograbi gehört zu den innovativen und zugleich kontroversen israelischen Filmemachern seiner Generation. Seine Filme setzen sich durchwegs kritisch mit der israelischen Palästina-Politik auseinander. Ganz besonders hervorzuheben ist sein Film Z32. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nachdem sechs israelische Soldaten erschossen worden waren, tötet ein israelischer Ex-Elitesoldat zwei unbeteiligte Palästinenser. Der IDF-Soldat bekennt sich zur Racheaktion. Die Schuld wird ihn ihn ein Leben lang begleiten. Mograbis »dokumentarische Musical-Tragödie« reflektiert ästhetisch innovativ und engagiert Fragen von Zeugenschaft und Sprachlosigkeit. (So. 10.05., 18:30 Uhr, Filmmuseum)
In der Gastlandreihe DOK.guest werden Independent-Filme aus und über China gezeigt. Das Filmschulfestival ist als »Festival im Festival« erneut Gastgeber für Studierende und ihre Filme von dreizehn renommierten Filmhochschulen. Für Kinder, Jugendliche und Schulen bietet DOK.education eigene Filme mit medienpädagogischen Workshops, und beim DOK.forum trifft sich in der Münchner HFF die Branche zur Perspektive des dokumentarischen Erzählens einschließlich Interactive Media.
Und das DOK.fest Nr. 30 kommt selbstverständlich nicht ohne artechock aus. Artechock-Guru Rüdiger Suchsland dokumentiert in seinem Filmdebüt die Zeit Von Caligari zu Hitler. Die Weimarer Republik war in Deutschland auch eine Blütezeit des Kinos. Das junge Medium schien wie dafür geschaffen, den Spannungen der Gesellschaft zwischen Krise und Freiheit Ausdruck zu geben. In diesem Klima
wuchs eine Generation von Filmemachern heran, die die Entwicklung des Kinos entscheidend prägen sollte: Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Walter Ruttmann und Robert Wiene machten erste filmische Gehversuche. Sie schufen Ikonen der Populärkultur und erwiesen sich zugleich als Visionäre einer düsteren Entwicklung. (So. 10.05., 14:00 Uhr, Filmmuseum / Mo. 11.05., 20:00 Uhr, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig)
Der Filmemacher und Kritiker ist anwesend und zugleich in der
Jury, um über den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm zu befinden.
30. DOK.fest München, 07.-17.05.2015, diverse Spielstätten. Das DOK.fest ist eine Veranstaltung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Das ausführliche Programm sowie Spielplan, Tickets, ein tagesaktuelles DOK.blog und alles andere gibt es unter www.dokfest-muenchen.de