66. Berlinale 2016
Man will sein Image in der Gesellschaft schützen |
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Szene aus Auf Einmal | ||
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Man kann nicht wirklich verstehen, warum Auf Einmal, der deutsche Film der seit 16 Jahren in Berlin lebenden türkischen Regisseurin Asli Özge nicht im Wettbewerb der Berlinale läuft: Ein sehr facettenreicher Psychothriller aus der Provinz mit überraschenden Wendungen. Die Hauptrollen spielen Sebastian Hülk, Julia Jentsch als junges Paar und Louise Heyer als beste Freundin des
Paares.
Auf der Berlinale gab uns die Regisseurin das allererste Interview zu diesem Film, der an diesem Freitag seine Weltpremiere feierte; außerdem haben wir über sie und ihr Team auch einen Beitrag auf unserem Berlinale YouTube-Channel.
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Auf Einmal ist ein Psychothriller. Sie erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, aber Sie zeigen auch die Gesellschaft; viele andere Menschen, den ganzen Freundeskreis, und die Familie. Aber aus seiner persönlichen Perspektive...
Özge: Ja, wir haben keine Szene ohne die Hauptfigur gedreht. Ich wollte den Zuschauern nichts verraten, was Karsten nicht weiß. Ich mag auch keine Rückblicke.
Am Anfang begegnen wir einer Frau, die bald darauf tot sein wird. Ein sehr starker Beginn. Man will mehr von ihr wissen...
Özge: Mein Gedanke war, dass es ein paar kurze, aber ganz intensive Momente sind, die wir Zuschauer mit ihr verbringen. So intensiv, dass diese Momente dann über den ganzen Film nachwirken. Der Film öffnet sich mit der Geschichte dieser Frau. Ohne alles zu verraten. Ich habe alle möglichen Varianten angelegt. Ich denke wie im Leben müssen wir auch im Kino nicht alles zu Ende erzählen.
Vor dem ersten Bild sehen wir ein Shakespeare-Zitat: »An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.« Es stammt aus »Hamlet«. Warum?
Özge: Auf Einmal ist die Geschichte eines modernen Hamlets. Ich wollte zeigen, dass diese Geschichte universal ist. Es gibt auch eine Szene, die direkt auf das Stück verweist: Die Szene, in der Karsten auf dem Friedhof am Totengräber vorbeigeht. Und generell ist Karsten ein Prinz, der Sohn eines Provinz-Königs.
Auf Einmal spielt in einer Kleinstadt. Was waren Ihre Überlegungen?
Özge: Ich wollte auf jedem Fall einen Ort mit Bergen, einen von vier Seiten visuell geschlossenen Ort, der etwas Klaustrophobisches hat, und den Eindruck des eingesperrt-seins hervorruft. Trotzdem wollte ich auch viele Möglichkeiten mit der Kamera haben. Es sollte ein universaler Ort sein. Wir haben dafür lange gesucht. Altena ist ein Stadt mit 17.000 Einwohnern. Sie haben uns sehr unterstützt, die halbe Stadt spielt jetzt auch mit – ein idealer Filmset, mit seinen verwinkelten Gassen. Bis zum Rand des Bildes sieht man Wald und Berge.
Fast ein romantisches Deutschlandbild. Sie haben im Herbst gedreht...
Özge: Ich wollte unbedingt im Herbst drehen, wir haben alles dafür getan, Es war schwierig, genau den Moment abzupassen, an dem die Blätter sich färben. Es gab eine eindeutige Farbdramaturgie: Herbstfarben wie Braun, Grün, Rostrot auch in der Kleidung. Blau war streng verboten. Von der Stimmung her passte das sehr gut. Es hatte visuelle, aber auch seelische Gründe. Ich wollte Melancholie, aber keine Depression, Das ist ja auch kein depressiver Film. Es war eine sehr bewusste Entscheidung, die Provinz nicht als etwas Schlechtes zu zeigen. Das sind Menschen, die sich ein bisschen nach der Stadt sehnen, aber sie sind dageblieben.
Wie haben Sie mit den Schauspielern gearbeitet?
Özge: Ich bin jemand, der sehr stark auf den Moment am Set vertraut. In den Augen der Schauspieler sehe ich deren Reaktionen, ich wollte die authentischen Reaktionen.
Die Schauspieler bekommen von mir kein komplettes Drehbuch. Sie müssen ihren eigenen Text lernen, und wissen das, was ihre Figuren wissen, aber nicht mehr. Sie wussten daher gar nicht, was die anderen Figuren tun, wenn sie nicht dabei sind. Ihnen fehlt das Gesamtbild, aber sie kennen ihre eigene Rolle sehr gut. Ich
versuche eine Geschichte zwischen Figuren zu bauen. Zum Beispiel das Paar Karsten und Laura. Die wohnen zwei Jahre zusammen. Zu dem Bild, das an der Wand hängt, habe ich Julia Jentsch erzählt: »Das hat Karsten für Dich gekauft.«
Zur Vorbereitung üben wir mindestens eine ganze Woche. Das ist ein Muss bei mir. In »Lifelong« habe ich das auch schon gemacht. Wenn ein Schauspieler dazu nicht bereit ist, habe ich keine Lust, mit ihm zusammenzuarbeiten. Dazu gehören körperliche Übungen,
damit die Schauspieler sich in schwierigem Zustand sehen, sich berühren. Für mich selbst sind diese Übungen auch Arbeiten am Drehbuch. Ich nehme das dann auf Video auf, und alles wird transkribiert, um noch weiter am Text zu arbeiten.
Ist da noch Raum für Improvisation?
Özge: Ja. Es ist zwar alles geschrieben, aber manche Dialogsätze auch zwischen stehen nicht in jedem Buch, um am Set spontane Reaktionen herzustellen. Die Schauspieler müssen immer weiterspielen, bis ich »Cut« rufe. Die allererste Filmszene kennt keiner der Darsteller, außer der Hauptfigur.
Ich mache kleine Korrekturen, bitte die Schauspieler, die Sätze in ihren eigenen Worten zu sagen – das ist besonders wichtig für mich, weil Deutsch ja nicht meine eigene Muttersprache
ist. Die Schauspieler sollen von sich selbst viel mitbringen.
Zum Beispiel ist die zweite Szene zwischen Karsten und Judith am Set entstanden. Das war nicht geschrieben
Ein Thema des Films ist Betrug, Loyalität und Treue. Die Figuren nehmen das sehr ernst...
Özge: Eigentlich nicht. Ich glaube für meine Figuren ist das Image, ihr öffentliches Bild das Zentrale. Was denken die anderen von mir? Ihr Bild vor den anderen ist wichtiger, als was wirklich passiert. Darum wäre ein heimlicher tatsächlicher Betrug das viel geringere Problem, als der Anschein eines Betrugs, an den aber alle Leute glauben.
Sie zeigen ganz nebenbei alle sozialen Institutionen: Krankenhaus, Polizei, Gericht, Rechtsanwalt, Kirche, Bank, Versicherung, Geschäftswelt, die Politik über den Bürgermeister.
Die Geschichte ist also nicht nur eine private, sondern sie zeigen Mechanismen: Wie einer sich anpasst, in das Machtsystem integriert wird. Darum zeigen Sie nicht nur die Jugend eines einzelnen Menschen namens Karsten, sondern die Jugend eines sozialen Typus, der nicht nur Karsten heißt.
Özge: Ja, ich wollte einen Film über die Gesellschaft machen. Warum hat Karsten im entscheidenden Moment nicht richtig gehandelt? Das finde ich die entscheidende Frage. Dabei wäre es leicht gewesen, sein Problem ohne Tamtam zu lösen. Die Antwort liegt in dem inneren Druck unter dem er steht.
Mir scheint: Wir kennen alle dieses Problem: Man will sein Image in der Gesellschaft schützen, seine Position nicht verlieren, nicht zum Talk in the town werden. Man will sein Bild schützen. Erst
recht an einem Ort wie diesem: Wenn man in einer kleinen Stadt als Sohn eines bekannten Bürgers lebt, ist es erst recht essentiell, sich »richtig« zu benehmen.
Karsten ist in den Mechanismen dieser Gesellschaft aufgewachsen. Er will alles richtig machen. Er weiß gar nicht, ob er das wirklich will, aber er hat sich daran gewöhnt.
Einmal scheint er vor dieser Gesellschaft wegzulaufen...
Özge: Ja, das ist eine Frage, die man sich stellen kann: Ob nicht alle diese Männer, die heute Chefs sind, irgendwann davon träumten auszusteigen und wegzulaufen.
Gibt es eigentlich Unterschiede in dem Verhalten, das sie beschreiben? Ist Ihre Geschichte eine typische Männergeschichte oder würden Frauen genauso handeln?
Özge: Doch. Der Charakter der Laura ist ganz ähnlich. Sie würde genauso handeln. Das Image, dass hier alle schützen wollen, steht zwischen ihnen. Es steht zwischen Karsten und Laura, zwischen Karsten und seiner Familie.
Ich finde den Charakter von Karstens Mutter wichtig. Denn sie ist die einzige, die einmal die offenkundige Wahrheit ausspricht: »Warum hast Du so gehandelt?« In dem Moment versteht Karsten: Es ist zu spät für ihn. Er ist schon längst Teil dieser Welt. Er kann ihr nicht
mehr entfliehen. Am Anfang des Films hat er seinen Vater noch kritisiert, der ist nicht unbedingt ein Vorbild für ihn. Aber dann begreiuft er, wie der Vater denkt und versteht, dass er genauso ist.
Es gibt kein Zurück, er ist einer von ihnen – das war seine Entscheidung.
Glauben Sie nicht, dass es Freiheit gibt? Das Menschen auch ihren sozialen Hintergrund völlig hinter sich lassen können?
Özge: Auf jeden Fall gibt es Freiheit. Darum habe ich eine reichere Mittelschichtfamilie für meine Figuren gewählt. Denn in der Mittelschicht dominiert das Angebot des Konformismus. Anpassung ist einfach, denn sie ist nicht mit Zwang verbunden. Karsten nimmt alles mit, was ihm seine Eltern bieten, aber er leistet sich Distanz. Er hat die schöne Wohnung mit vielen Büchern, aber er ist ein bisschen Bohème. Es ist im Grunde einfach so zu leben.
Er hat sich nie wirklich von seinen Eltern
gelöst.
Sie erzählen vom Erwachsenwerden. Ist das ein Coming-of-age-Film?
Özge: Ja, aber spätes Erwachsenwerden, zu spätes. Zum ersten Mal macht Karsten sich Gedanken. Aber sobald seine Eltern anwesend sind, wird er wieder zum Kind. Etwa in der Szene, in der sie zusammen essen. Er ist ein passiver Charakter, der am Ende alles akzeptiert. Seine Rebellion, wenn sie denn stattfindet, ist sehr klein.
Er hat großes Selbstmitleid...
Özge: Ja, unbedingt. Allerdings wollte ich schon auch zeigen, dass er sich selber stark kritisiert, und dass es keine härtere Selbstkritik gibt, als die durch einen selbst. Das wollte ich an der Figur zeigen. Er sucht nicht nur Ausreden, sondern langsam stellt er sich der Wahrheit.
Er hat Schuldgefühle, ja, aber es ist schon mehr. Am Anfang ist er immer noch naiv, aber langsam lernt er die Wahrheit kennen – auf die harte Tour. Karsten ist nicht böse.
Sie selbst sind geborene Türkin, aber schon sehr lange in Deutschland. Wie beschreiben Sie Ihre Identit ät als Filmemacherin?
Özge: Das frage ich mich auch immer [Lacht] Ich komme aus Istanbul und habe dort auch Film studiert. Seit dem Jahr 2000 lebe ich in Berlin, ich habe ein bisschen Philosophie studiert. Berlin ist mein Zuhause. Ich fühle mich wohl hier. Ich bin eine türkische Filmemacherin mit einem deutschen Film.