23.02.2016
66. Berlinale 2016

Hitch­cocks Vögel haben doch gesiegt

Homo Sapiens
Nikolaus Geyrhalters menschenleerer Film mit dem bedeutsamen Titel Homo Sapiens
(Foto: Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebs Gesellschaft m.b.H.)

Hausmädchen, Musik und das Kino nach dem Kino: Ein Streifzug durch die Dokumentarfilme auf der Berlinale – Berlinale-Tagebuch, 18. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Flücht­linge, Arabien, Kriege, Hunger, Klima­ka­ta­strophe, der Photo­graph Robert Frank – wenn man das Programm der gestern zuende gegan­genen Berlinale durchlas, konnte man auf den Gedanken kommen, es handle sich um ein Doku­men­tar­film­fest oder die Fort­set­zung der Fern­seh­nach­richten.
Aber viele Doku­men­tar­filme in Berlin zeigten auch den Reichtum des Genres. Sogar der Gewinner des Goldenen Bären war ein Doku­men­tar­film, der bewies, wie gutes Kino unsere Sehge­wohn­heiten heraus­for­dert und die Grenzen des Narra­tiven erweitert.
Der Sieger­film vom Wochen­ende, Gian­franco Rosis Fuoco­ammare über die Insel Lampedusa im Schatten der Flücht­lings­ströme bewies: Doku­men­tar­film kann viel mehr als abbilden, in den besten Fällen handelt es sich um eine kunst­volle Entfal­tung der Wirk­lich­keit.

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Das traf auch auf mehrere Filme aus dem Nahen Osten im Programm der Berlinale zu. Die arabisch-israe­li­sche Künst­lerin Jumana Manna unter­suchte in A magical substance flows into me die komplett verges­sene Musik der Sama­ri­taner, der Beduinen Paläs­tinas, der kurdi­schen und jeme­ni­ti­schen Juden. Anhand histo­ri­scher Aufnahmen des deutsch-jüdischen Musik­eth­no­logen Robert Lachmann aus den 1930er Jahren rekon­stru­iert sie orien­ta­li­sche Musik und die musi­ka­li­schen Tradi­tionen des Raums Palästina. Voller Enthu­si­asmus und Begeis­te­rung ist ihr ein humor­volles Werk über kultu­relle Vielfalt geglückt, die die Unter­schei­dung in »arabisch« und »jüdisch« unter­wan­dert.
Staats­grenzen gibt es hier nicht, sondern nur verschie­dene Küchen, in denen man zusammen musiziert – mit den Gästen, beim Kochen, beim Kaffee­zu­be­reiten. Bis die Musik so mitreißend wird, dass auch die Nachbarn kommen um mitzu­tanzen.

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Oder A Maid for Each – ein Haus­mäd­chen für jeden. Kunstvoll erzählt Maher Abi Samra die spannende Geschichte der Haus­mäd­chen im Libanon. Dort kommen auf vier Millionen Einwohner rund 200.000 auslän­di­sche Haus­an­ge­stellte. Sie kommen aus den Phil­lip­pinen, aus Sri Lanka und aus Äthiopien. Sie sind halb Dienst­leister, halb Waren. Und es gibt spezielle Agenturen, die sie impor­tieren, Gesund­heits­un­ter­su­chungen durch­führen und im Katalog den Kunden feil­bieten.
Eine moderne Variante des Skla­ven­han­dels – auch wenn die Skla­ven­händler nette Menschen sind.
Der Regisseur filmt mit vollem Einver­s­tändnis diese Agenten, und die Kunden. er zeigt nie die Haus­mäd­chen. Ähnlich wie Rosi in seinem Lampedusa-Film geht es ihm nicht um schein-objek­tiven Repor­ta­ge­stil, sondern um uns: Die Ausbeuter. Wie stehen wir zu unserem Dienst­per­sonal? Wann haben wir ein schlechtes Gewissen?
Daneben zeigt uns A Maid for Each ein unge­wohntes Bild des Libanon und Beiruts: Kein Bürger­krieg, keine Bomben und Ruinen, keine Flücht­linge – sondern eine neoli­be­rale Boomtown, die Metropole eines fast schon reichen Schwel­len­landes.

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Etwas ganz anderes unter­nimmt der Öster­rei­cher Nikolaus Geyr­halter. Sein Homo sapiens durch­schreitet in gut einein­halb Stunden im immer gleichen Rhythmus die Welt. Er zeigt leere, verlas­sene, oft zu Ruinen gewordene Orte der Moderne: Frei­zeit­an­lagen. Kinos. Kirchen. Gefäng­nisse. Büros. Sie sind oft vom Wind durch­ein­an­der­ge­wir­belt, von der Natur erobert, wie eine von Moos begrünte Bar, um deren Hocker Farn wächst, ein von Pflanzen über­wu­cherter gefüllter Geträn­ke­au­tomat, eine zuge­wach­sene Müllkippe.
Vor allem sind sie menschen­leer – nur Tiere, vor allem Tauben, das Meer und der Wind sorgen für Bewegung. Das alles könnte einem post­apo­ka­lyp­ti­schen Science-Fiction-Film entlehnt sein. In seiner gleich­för­migen Montage geome­trisch kadrierter, von den Wänden der Gebäude abge­grenzter Einstel­lungen ähnelt der Film eher einer Kunst­in­stal­la­tion, und mitunter hat es etwas von einem verfilmten Coffee­table-Book.
Aber es ist eben doch auch medi­ta­tives Zeige-Kino, das unsere Sehge­wohn­heiten heraus­for­dert, indem es die Grenzen des Narra­tiven über­schreitet und seinen ganz eigenen Flow entfaltet.

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»Hitch­cocks Vögel haben doch gesiegt.« Mit dem Satz ging es los, dann kam Karsten Visarius aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. »Das ist eben Meta­physik.« Visarius leitet das Film­kul­tu­relle Zentrum der EKD. Er würde ja sehr gern mal eine Tagung machen zum »trans­nar­ra­tiven« Film, sagt er, da müsste dann Homo Sapiens vorkommen. Wir sprechen eine Weile über Filme, die einen Raum aufmachen, die ohne Plot etwas zeigen, statt tradi­tio­nell zu erzählen.
Ich frage mich, ob Homo Sapiens nicht als Kino nach dem Kino eher ins Museum gehört. Aber für mich war das an diesem späten Abend einfach nicht der richtige Film.

(to be continued)