66. Berlinale 2016
Hitchcocks Vögel haben doch gesiegt |
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Nikolaus Geyrhalters menschenleerer Film mit dem bedeutsamen Titel Homo Sapiens | ||
(Foto: Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebs Gesellschaft m.b.H.) |
Flüchtlinge, Arabien, Kriege, Hunger, Klimakatastrophe, der Photograph Robert Frank – wenn man das Programm der gestern zuende gegangenen Berlinale durchlas, konnte man auf den Gedanken kommen, es handle sich um ein Dokumentarfilmfest oder die Fortsetzung der Fernsehnachrichten.
Aber viele Dokumentarfilme in Berlin zeigten auch den Reichtum des Genres. Sogar der Gewinner des Goldenen Bären war ein Dokumentarfilm, der bewies, wie gutes Kino unsere
Sehgewohnheiten herausfordert und die Grenzen des Narrativen erweitert.
Der Siegerfilm vom Wochenende, Gianfranco Rosis Fuocoammare über die Insel Lampedusa im Schatten der Flüchtlingsströme bewies: Dokumentarfilm kann viel mehr als abbilden, in den besten Fällen handelt es sich um eine kunstvolle Entfaltung der Wirklichkeit.
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Das traf auch auf mehrere Filme aus dem Nahen Osten im Programm der Berlinale zu. Die arabisch-israelische Künstlerin Jumana Manna untersuchte in A magical substance flows into me die komplett vergessene Musik der Samaritaner, der Beduinen Palästinas, der kurdischen und jemenitischen Juden. Anhand historischer Aufnahmen des deutsch-jüdischen Musikethnologen Robert Lachmann aus den 1930er Jahren rekonstruiert sie orientalische Musik und die
musikalischen Traditionen des Raums Palästina. Voller Enthusiasmus und Begeisterung ist ihr ein humorvolles Werk über kulturelle Vielfalt geglückt, die die Unterscheidung in »arabisch« und »jüdisch« unterwandert.
Staatsgrenzen gibt es hier nicht, sondern nur verschiedene Küchen, in denen man zusammen musiziert – mit den Gästen, beim Kochen, beim Kaffeezubereiten. Bis die Musik so mitreißend wird, dass auch die Nachbarn kommen um mitzutanzen.
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Oder A Maid for Each – ein Hausmädchen für jeden. Kunstvoll erzählt Maher Abi Samra die spannende Geschichte der Hausmädchen im Libanon. Dort kommen auf vier Millionen Einwohner rund 200.000 ausländische Hausangestellte. Sie kommen aus den Phillippinen, aus Sri Lanka und aus Äthiopien. Sie sind halb Dienstleister, halb Waren. Und es gibt spezielle Agenturen, die sie importieren, Gesundheitsuntersuchungen durchführen und im Katalog den Kunden
feilbieten.
Eine moderne Variante des Sklavenhandels – auch wenn die Sklavenhändler nette Menschen sind.
Der Regisseur filmt mit vollem Einverständnis diese Agenten, und die Kunden. er zeigt nie die Hausmädchen. Ähnlich wie Rosi in seinem Lampedusa-Film geht es ihm nicht um schein-objektiven Reportagestil, sondern um uns: Die Ausbeuter. Wie stehen wir zu unserem Dienstpersonal? Wann haben wir ein schlechtes Gewissen?
Daneben zeigt uns A Maid for
Each ein ungewohntes Bild des Libanon und Beiruts: Kein Bürgerkrieg, keine Bomben und Ruinen, keine Flüchtlinge – sondern eine neoliberale Boomtown, die Metropole eines fast schon reichen Schwellenlandes.
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Etwas ganz anderes unternimmt der Österreicher Nikolaus Geyrhalter. Sein Homo sapiens durchschreitet in gut eineinhalb Stunden im immer gleichen Rhythmus die Welt. Er zeigt leere, verlassene, oft zu Ruinen gewordene Orte der Moderne: Freizeitanlagen. Kinos. Kirchen. Gefängnisse. Büros. Sie sind oft vom Wind durcheinandergewirbelt, von der Natur erobert, wie eine von Moos begrünte Bar, um deren Hocker Farn wächst, ein von Pflanzen überwucherter
gefüllter Getränkeautomat, eine zugewachsene Müllkippe.
Vor allem sind sie menschenleer – nur Tiere, vor allem Tauben, das Meer und der Wind sorgen für Bewegung. Das alles könnte einem postapokalyptischen Science-Fiction-Film entlehnt sein. In seiner gleichförmigen Montage geometrisch kadrierter, von den Wänden der Gebäude abgegrenzter Einstellungen ähnelt der Film eher einer Kunstinstallation, und mitunter hat es etwas von einem verfilmten
Coffeetable-Book.
Aber es ist eben doch auch meditatives Zeige-Kino, das unsere Sehgewohnheiten herausfordert, indem es die Grenzen des Narrativen überschreitet und seinen ganz eigenen Flow entfaltet.
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»Hitchcocks Vögel haben doch gesiegt.« Mit dem Satz ging es los, dann kam Karsten Visarius aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. »Das ist eben Metaphysik.« Visarius leitet das Filmkulturelle Zentrum der EKD. Er würde ja sehr gern mal eine Tagung machen zum »transnarrativen« Film, sagt er, da müsste dann Homo Sapiens vorkommen. Wir sprechen eine Weile über Filme, die
einen Raum aufmachen, die ohne Plot etwas zeigen, statt traditionell zu erzählen.
Ich frage mich, ob Homo Sapiens nicht als Kino nach dem Kino eher ins Museum gehört. Aber für mich war das an diesem späten Abend einfach nicht der richtige Film.
(to be continued)