66. Berlinale 2016
Un certain regard |
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Mia Hansen-Løves L’avenir mit Isabelle Huppert ist ein kleiner, feiner Film – zu klein für Cannes & Co. | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Es geht dann ja eben letztlich nicht um Botschaften, sondern um Filme.«
– Katja Nicodemus»Ein größerer kreativer Spielraum ist ein zentrales Anliegen der kulturellen Filmförderung der BKM.«
– Monika Grütters, Kulturstaatsministern, Neue Richtlinien zur kulturellen Filmförderung
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Samstag, 20.2.2016. Gleich geht’s zur Preisverleihung. Zu Ende ist die Berlinale erst in einem Tag, also Sonntag Abend. Aber jetzt schon, wieder rein in den Berlinalepalast – warum heißt der eigentlich »Palast«? –, gerade denke ich wieder an die Eröffnungsveranstaltung vor über einer Woche, die hippelige Kritikerin im Fernsehen. Überhaupt: Es gibt so Leute, die nichts Kritisches über das Festival und seine Performance zu sagen haben, immer alles toll oder
zumindest okay finden – was keinen Insider verwundert, weil es sich leicht durch ihre Nähe zur Berlinale-Auswahlkommission erklärt. Von der wissen nur die Zuschauer und offenbar auch die Redakteure in den Sendern nichts. Aber was Sender so alles machen...
Da gibt es auch bei einigen Redaktionen den Hang, an den freien Autoren zu sparen, und dafür entweder verrentete oder festangestellte (und bereits gut bezahlte) RedakteurInnen zu beschäftigen, die sich damit ein
lukratives Zubrot verdienen. Auf Kosten der Freien. Vor allem aber sollten die verschiedenen Medien, die hier aus naheliegenden Gründen leider nicht mit Namen nennen will, mehr Selbstachtung haben, und nicht mit »dem Redakteur von...« und »der Filmkritikerin von...« zu glänzen, sondern mit eigenen Leuten.
Einen will ich doch beim Namen nennen: Den »Tagesspiegel«. Da schreibt der sonst wirklich von allen »Tagesspiegel«-Autoren am meisten sehr geschätzte Peter von Becker über Das Tagebuch der Anne Frank. Er bewertet den Film positiver als die meisten anderen, die ich kenne – was er bestimmt aus ganzem Herzen tut. Nur wäre es in diesem Fall halt doch schön und angemessen gewesen, von der Redaktion dazu zu schreiben, dass der Fischer-Verlag, bei dem Anne Franks Tagebuch auf Deutsche erscheint, und vor allem die AVE, Produktionsfirma des Films, zum
Holtzbrinck-Verlag gehören – wie zufälligerweise auch der »Tagesspiegel«.
Da möchte man doch wissen, ob auch ein Text hätte erscheinen dürfen, in dem der Film verrissen wird.
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Schade, dass sich Lobbycontrol und Transparency International für Medien und öffentliche Institutionen so gar nicht zu interessieren scheinen. Dabei würden sie vieles finden.
Wie schon früher mal gesagt: Wir brauchen Whistleblower im deutschen Film wie in den deutschen Medien.
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Die Spannung vor der Preisverleihung war nicht sonderlich groß, denn alle Berlinale-Spatzen hatten es schon von den Dächern gepfiffen, was Meryl Streep als Präsidentin der internationalen Jury dann am Samstagabend im Berliner Berlinale-Palast verkündete: »The Golden Bear goes to Fuocoammare, Fire at Sea, Gianfranco Rosi...«
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Fuocoammare – Feuer auf dem Meer. Dieser Film, ein essayistischer, also in seiner Haltung auch sehr persönlicher, subjektiver Dokumentarfilm vom Italiener Gianfranco Rosi, ist ein Preis, so verdient wie erwartet. Denn seit seiner Premiere am zweiten Berlinale-Tag war klar, dass dieser Film künstlerischen Formanspruch mit jenem offenkundig Politischen verbindet, auf das
die Berlinale so stolz ist, dass sie es zu ihrem Marketing-Alleinstellungsmerkmal erklärt hat. Die Vorhersehbarkeit des Preises kümmert nur Festivalprofis, die sich nach zehn Tagen etwas langweilen; sie macht Rosis Film nicht schlechter.
Gerade dass Fuocoammare das Leben der Italiener auf der Insel Lampedusa und den Überlebenskampf der Flüchtlinge auf ihren überladenen Booten vor
der Insel nicht verbindet, das er dem Offensichtlichen ausweicht – also nicht die Italiener danach fragt, was sie zum Beispiel über die Flüchtlinge denken –, und dass er dahin geht, wo es wehtut, das wirklich Unangenehme zeigt, wie Leichen und Sterbende – was Rosi von manchen Älteren und Altbackenen in diesen Tagen dann den im Bildmedium Kino merkwürdigen Vorwurf des Voyeurismus einbrachte –, macht Fuocoammare zu einem Paradebeispiel politischer Moral und hebt den Film über übliche Reportagen im Fernsehreportagen-Infostil hinaus.
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Ästhetisch war Rosis Siegerfilm insofern ohne Frage der radikalste unter den politischen Themenfilmen. Rosi selbst wollte, wie er in Berlin erklärte, diesen Film vor allem als Betrachtung Europas verstanden wissen, seiner Ohnmacht und Unfähigkeit, mit der Herausforderung durch die Flüchtlinge aus dem Süden angemessen umzugehen.
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Der Preis ist verdient, zugleich bedient er die im letzten Jahrzehnt nicht nur in Berlin zunehmend grassierende Tendenz, Themen und Haltungen auszuzeichnen, nicht deren künstlerische Umsetzung.
Kann man wirklich einen essayistischen Film mit einem Spielfilm vergleichen? Oder sind solche Preisvergaben nur Symptome für den Verlust der Urteilskraft?
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Da hätten wir ihn nun also, den Sieger. Ein nicht unverdienter Preis. Aber auch wenn man radikale Filmkunst im Wettbewerb komplett vermisste, hätte man sich schon noch andere Sieger vorstellen können, etwa L’avenir von der Französin Mia Hansen-Løve, mit Isabelle Huppert als Philosophin in einer Lebenskrise – fast eine Komödie, die immerhin den Regiepreis gewann. Oder den glänzenden epischen Portugiesen Cartas de Guerra, eine Antunes-Verfilmung – aber dieser Film war komplett Schwarzweiß und im Gegensatz zum auch schwarzweißen Philippinen nicht einschüchternde acht Stunden lang. Ebenso verdient war, dass der deutsche Beitrag, der Studentenabschlussfilm 24 Wochen ohne Auszeichnung blieb.
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Aber hätten Hansen-Løve, Diaz oder Ferreira gewonnen, wäre die Berlinale nicht die Berlinale, das selbsternannte politischste aller Filmfestivals der Welt. Und wenn man unter Politik die Menge des Themen-Angebots im Film-Supermarkt zählt, dann stimmt diese behagliche Selbstbeschreibung auch.
Insofern war 2016 eine passable, einigermaßen gute Berlinale, mit einem Wettbewerb, der ein höheres Durchschnitts-Niveau hatte, als der der letzten Jahre. Es gab keine krassen Pleiten,
sieht man einmal von dem geschmacklosen Alone in Berlin ab, der Fallada keinen Gefallen tut. Zugleich fehlten auch die zwei, drei cinephilen Highlights, die selbst in ganz schlechten Berlin-Jahren früher zu sehen waren. Filme wie der Iraner Nader und Simin – Eine Trennung oder der Ungar Das Turiner Pferd gab es nicht.
Auch in den Nebenreihen gab es starke Filme, man konnte viele Entdeckungen machen – es wäre allerdings auch schlimm, wenn das unter 435 Filmen nicht der Fall gewesen wäre.
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Die großen Probleme dieses deutschen unter den drei großen A-Festivals kann ein derart verhalten positives Resumee aber nicht übertünchen. Denn cinephile Kenner und jene Neugierigen, die nach Innovationen fragen, nach Filmen, wie man sie im Kinoalltag kaum zu sehen bekommt, die kommen auch bei dem Ausnahmeereignis Berlinale kaum auf ihre Kosten.
Die Berlinale zeigt zu viele Filme. 435 wie gesagt. Fast doppelt soviel wie Cannes und Venedig zusammen. Soviel kann gar nicht alles
überdurchschnittliche Qualität haben. Genau darum muss es aber gehen.
An der Berlinale herrscht Film-Inflation – und Inflation bedeutet ja nichts anderes als Wertverlust, als dass der einzelne Film an Wert verliert. Dass Werke, die viel Aufmerksamkeit verdienten, untergehen, weil gerade ein halbseidener Star über den roten Teppich flaniert. Und dass sich die Macher oft schlecht behandelt, zumindest unter Wert gewürdigt fühlen.
Vor allem aber: Weil der einzelne Film der
Berlinale immer weniger wert ist, bekommt die Berlinale viele Filme gar nicht mehr.
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Schon im letzten Sommer sickerte durch, die Berlinale habe Schwierigkeiten, gute Filme für den Wettbewerb zu finden. Die letzte Woche bestätigte den Befund.
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Seien wir ehrlich: Kaum einer der diesjährigen Berlinale-Wettbewerbsfilme würde in Cannes, dem besten Festival der Welt, in den Wettbewerb eingeladen werden. Außer dem Eröffnungsfilm der Coen-Brüder, allenfalls noch die Filme von Téchiné, von Ferreira und von Hansen-Løve – im letzten Fall habe ich schon meine Zweifel, so sehr ich den Film mag.
Man kann sich diese Kammerspiele, die wichtige Themen behandeln, aber in wenig radikalem Stil inszeniert wurden, eher in der
Cannes-Nebenreihe »Un Certain Regard« vorstellen.
Die Filme im Berlin-Wettbewerb sind fast alle formal recht gleichförmig und klein: Kammerspiele eben, ohne echte ästhetische Ambition. Filmisch oft auf Fernsehniveau – nur selten sieht man große weite Bilder, ungewohnte Perspektiven, neue Formen der Montage, einfallsreiche oder gar innovative Plotkonstruktionen. Man sieht, kurz gesagt, zuwenig richtig gutes Kino.
Auf der Berlinale vergisst man daher schnell, das
Kino in erster Linie eine Kunst ist, dass es hier um Form und Stil gehen könnte. Stattdessen fühlt man sich in einen politischen Themenpark versetzt oder in ein Wellnesscenter. Es fehlt vor allem die Vielfalt, nicht nur im Wettbewerb – erstaunlich, wie gleichförmig 435 Filme wirken können, auch wenn es natürlich in dieser Masse immer noch zwei, drei Dutzend großartige und innovative Werke gibt – die dann leider oft untergehen.
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Filmkünstlerisch macht die Berlinale seit Jahren keine echten Entdeckungen mehr. Der diesjährige Wettbewerb bietet dafür das beste Beispiel: Da gibt es Berlinale-Stammgäste wie Rafi Pitts oder Denis Tanovic oder Denis Côté. Daneben gibt es Cannes Entdeckungen wie Mia Hansen-Løve. Gianfranco Rosi gewann vor Jahren bereits in Venedig, Lav Diaz gewann bereits in Locarno. Sie in einen Wettbewerb zu laden, ist die einfachste aller möglichen Lösungen.
Dass ausgerechnet dem
philippinischen Regisseur Lav Diaz am Samstag der Preis für einen Film verliehen wurde, der – wie es heißt – »neue Perspektiven eröffnet«, ist ein schlechter Witz. Denn seit bereits 20 Jahren erzählt Diaz im immergleichen, von ihm immer weiter perfektionierten Stil überlanger, ein bisschen schlafwandlerischer Schwarzweißfilme.
Die Zeiten, als das seinerzeit neue chinesische Kino der »Fünften Generation« im Wettbewerb lief, die ersten Filme der Neuen Wellen
aus Hongkong oder Taiwan oder Bollywood im Forum, als die ersten Rumänen entdeckt wurden, sind lange vorbei.
Weder formal noch inhaltlich – abgesehen von Schauplätzen politischen Schreckens – war die Berlinale 2016 vielfältig.
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Man vermisst eine kuratorische Hand – unter der die Berlinale auch gesundschrumpfen müsste. Dieter Kosslick redet gern von gesundem Essen und Diäten – sein Festival leidet unter Fettsucht.
Auch nach Kosslicks Abgang in drei Jahren wird das nicht über Nacht zu ändern sein.
Und politisch? Ist die Berlinale nicht politisch? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Im von Kosslick erfundenen »Kulinarischen Kino« werden Luxus-Gastronomiestars zu Autorenköchen
hochgejazzt und jede vegane Schaumsuppe zu einem Kunstwerk – aber wo bleibt da eigentlich der politische Anspruch angesichts des Hungers in der Welt?
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Kulturstaatsministerin Monika Grütters, das hat sie in den letzten Monaten bewiesen, ist nicht naiv und nicht so uninteressiert, dass sie die offenkundigen Schwächen und die schwindende Bedeutung der Berlinale übersehen würde – den Jubelpersern der Boulevardpresse zum Trotz. Grütters nennt Kosslick zwar öffentlich »Dieter«, was ich ihr nicht unbedingt geraten hätte, aber es spricht manches dafür, dass Kosslicks schmieriger Charme an der Kulturstaatsministerin doch
eher abperlt, als an ihren Vorgängern.
Am Ende zählt: Gibt es hier gutes Kino?
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Berlinale-Boss Dieter Kosslick verweist bei all diesen nicht gerade neuen, aber eben wichtigen Einwänden gern darauf, dass die Berlinale ja ein »Publikumsfestival« sei. Den cinephilen Anspruch des immer noch drittwichtigsten A-Festivals schränkt er mit solchen Sätzen bereits ein.
Aber was soll das überhaupt heißen: »Publikumsfestival«? Hat nicht jedes Festival ein Publikum? Wer sein Publikum wirklich achtet und schätzt, so könnte man es ja auch sagen, sieht in ihm mehr als nur
eine zahlende Masse. Er zeigt ihm nicht alles aus irgendwelchen, sondern etwas Bestimmtes aus bestimmten Gründen. Das Publikum als Legitimation für alles zu nehmen, ist aber ein Fehler. Denn bei einem Filmfestival kommt es darauf an, das Besondere zu pflegen. Die Filmkunst, und Entdeckungen zu machen.
Das genau ist es, was ein Multiplexkino vom gut geführten Programmkino, von einer Kinemathek, oder eben einem Festival unterscheidet, und was den Unterschied zwischen Cannes oder
Venedig mit ihren unter 150 Filmen, und der Massenveranstaltung Berlinale ausmacht.
Bei 435 Filmen im Programm ist »Publikumsfestival« nur eine populistische Floskel, mit der Dieter Kosslick suggeriert: »Ich mache es Euch allen recht.« Die Quote der verkauften Eintrittskarten, die in jedem Jahr magischerweise aufs Neue gesteigerten Besucherzahlen, werden zum einzigen Erfolgskriterium: »Wir haben doch viele Zuschauer – also Ende der Debatte.«
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Aber wir sollten debattieren: Über Maßstäbe. Denn was auf der Berlinale geschieht, welche Vorstellung von Kino dort gepflegt wird, und welche mit Füßen getreten, das bestimmt auch den Gesamtzustand des deutschen Kinos mit.
Der deutsche Film kann nicht besser sein als das wichtigste deutsche Filmfestival.
(to be continued)