69. Filmfestspiele Cannes 2016
Das Kino des schlechten Gewissens |
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La fille inconnue der Brüder Dardenne ist unwahrscheinliches Sozial-Kino. Aber am Ende fühlen sich trotzdem alle schlecht. Na super! | ||
(Foto: temperclayfilm – Produktion u. Filmverleih f. int. Kino) |
»Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.« –Wandinschrift, 1968
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Was jetzt nochmal die Essenz des Kinos ist, werde ich gefragt. Na, Fetischsmus halt. Gucken, nicht reden und lesen.
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»Wenn man Cannes verpasst, ist es als wenn man die ganze Saison verpasst«, sagt Azize Tan, die bis letzten Herbst fast zehn Jahre lang das Filmfestival von Istanbul geleitet hat. »Cannes ist ein Muss, nicht allein wegen der Filme, sondern wegen des 'Buzz', der Themen, Gespräche alles.«
Danach reden wir darüber, in welchem Zustand das Gastgeberland ist: »Die Franzosen sind von gestern«, findet Azize, die sich in diesem Jahr, bevor sie bald etwas Neues anfängt, einmal ohne Druck von
außen ganz frei auf dem Festival und im Programm bewegen kann, »sie verlieren den Touch mit Realität, sie haben keine Ahnung von der Zukunft.« Es geht um Digitalisierung, Netflix und Streaming-Dienste, die schon seit langem das »nächste große Ding« sein sollen, und ein Sargnagel des Kinos sind. Ich wende ein, dass die Franzosen vielleicht einfach nicht so schnell vor der Zukunft in die Knie gehen, die kommenden Dinge nicht vorauseilend begrüßen, sondern ihnen Widerstand
entgegensetzen.
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Kritikerlisten gehören zu den großen Vergnügungen eines solchen Festivals, gerade weil sie ein Spiel sind, verraten sie etwas, rühren an unser Unbewusstes: Das schnelle Urteil, eher aus der Hüfte geschossen ist hier gefragt, daran erinnert mich besonders Frédéric Jaeger, bei dessen critic.de-Liste ich Punkte abgebe, besonders gern in nächtlichen E-Mails, wenn ich wieder drei Tage lang keine Punkte
abgegeben habe. Für mich persönlich zählt auch das Setzen von konträren Akzenten: Wenn ein Film aus meiner Sicht insgesamt zu gut wegkommt, korrigiere ich etwas deutlicher, als vielleicht »objektiv« nötig, nach unten – und umgekehrt. Außerdem versuche ich meine Punkte vor allem danach zu geben, was ich persönlich interessant und daher auch sehenswert finde. Es kann in erster Linie nicht um »Objektivität« gehen, oder gar um handwerkliches Können. (Schreckliches Kriterium!)
Sondern darum: Hat mich der Film interessiert, habe ich ihn gern gesehen, würde ich ihn mir nochmal angucken und Freunden empfehlen, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich dann mit ihnen streiten muss? Sind die Filme, mit anderen Worten, einen Streit wert? Letzteres zumindest gilt auch, wenn eine Wertung dann besonders schlecht ist.
Einziger Nachteil: critic.de lässt für meinen Geschmack etwas zu wenig Differenzierungen zu, da werden dann Dinge über einen Leisten geschlagen, die nicht
die gleiche Qualität haben.
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Die ultimative Kritikerliste ist die argentinische Todas las criticas, die seit Jahren von Diego Lerer gemacht wird. Da finden sich vor allem spanischsprachige Kollegen, erweitert um internationale Freunde und Bekannte Diegos – daher habe auch ich das Vergnügen.
Was die Seite so toll macht, ist dass hier automatisch ein Punktedurchschnitt eines Films wie einer Sektion ermittelt wird, und dass man auch sehen kann, welchen Punktewert jeder Teilnehmer im Durchschnitt vergibt: So gibt es eben Leute, die besonders wohlwollend und andere, deren Urteil besonders streng ist. Ich gehöre zu denen, die im Durchschnitt wohl eher 6 als 5 Punkte (von 10 maximal) vergeben, bei denen also 6 keine gemäßigt positive Wertung ausdrückt, sondern eher Langeweile.
Ein ungelöstes Problem solcher Listen ist die Frage, wie man mit ungesehenen und mit »zwiespältigen« Filmen umgeht. Ich fand es immer toll, wie früher in der Steadycam zwischen »hat der Kritiker leider nicht gesehen« und »hat sich der Kritiker absichtlich erspart« differenziert wurde.
Und »zwiespältig« kann mindestens zweierlei bedeuten: »Zwiespältig, weil nicht ganz geglückt, aber interessant gescheitert, und unbedingt sehenswert« oder »eigentlich Schrott, aber nicht ganz schlecht, trotzdem interessant«. Oder auch »der Film hat irgendwas, ich weiß nur noch nicht was.«
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Im Jury Grid, der Kritikerliste von »Screen International« liegt Toni Erdmann mit einem Punktedurchschnitt von 3.7 (Maximum: 4.0) weiterhin klar in Führung. Was einem allerdings zu denken geben muss: Zweiter ist Jim Jarmusch (3,5), während der großartige Park Chan-wook mit 2.1 Vorletzter ist. Aber das waren andere Sieger auch schon.
Nun sind einige Teilnehmer der Screenliste wirklich extrem uninteressante Kritiker, und die beiden einzigen wirklich ernstzunehmenden Teilnehmer kommen aus den USA (Stephanie Zacharek) und aus England (Nick James). Die langjährige Teilnmehmerin Manohla Dargis von der »New York Times« sei aus der Liste rausgeflogen, weil sie zu oft vor Ende des Films aus dem Kino gegangen sei, erzählte mir gerade eben noch meine geschätzte Ex-Redakteurin.
Die Franzosen in der rein
französischen Liste von Le film français geben dagegen ganz andere Urteile ab. Die Kritikerin von »Le Monde« gibt Jarmusch die schlechteste Wertung. Auch hier führt Toni Erdmann, vor Bruno Dumonts Ma Loute.
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Wo wir gerade bei den lieben Kollegen sind: Es gibt in Cannes zwei Presseräume. Im einen, wo ich immer arbeite, hat der Sponsor HP Computer aufgestellt, es gibt Drucker, Wasser, eine Terrasse. Der andere wird vom Sponsor Orange.fr verantwortet, und ist ein apokalyptischer Ort. Verschmuddelt und hässlich. Da stehen nur helle Holztische à la Ikea, und es gibt Steckdosen. Die Hälfte der Plätze ist unbesetzt, aber reserviert: Mit Taschen, Jacken, oft Laptops und an den Steckdosen stecken herrenlose Ladegeräte. Interessant ist, dass offenbar wenig geklaut wird, sonst würden kaum so viele Leute ihre Laptops sehenlassen.
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Wer einem in diesen Presseräumen mit am meisten begegnet: Der seit über zehn Jahren verrentete Ex-Redakteur eines großen westdeutschen Fernsehsenders, der noch immer auf das Senderticket als Journalist akkreditiert wird, weil sie in Cannes nicht checken, dass er schon seit Jahren nichts mehr mit dem Programm zu tun hat.
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Man hat diese Geschichte schon tausendundeinmal gesehen. Ma Rosa ist bekannt im Viertel. Hier leben arme Leute, vom Slum unterscheidet es trotzdem für philippinische Augen vieles. Eines Tages verhaftet die Polizei Ma Rosa und ihren Mann. Schnell stellt sich raus: Die Polizei ist korrupt, sie wollen diese nicht-ganz-Armen einfach um Geld erpressen. Erst muss Ma Rosa selber einen Drogendealer in die Falle locken, dann wird dessen Frau erpresst, als es immer noch nicht reicht, müssen
die Kinder das fehlende Geld auftreiben. 50.000 – wieviel ist das genau?
Sie brauchen das Geld, sie verkaufen sich, jeder auf seine Weise, ihren Körper oder ihre Seele, ihren Stolz auf jeden Fall. Der Film verweilt im emotionale Druckmoment. Liebe oder Druck, das ist nicht zu unterscheiden.
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Brillante Mendoza inszeniert dies alles in der üblichen Mendoza-Methode: Bewegte Kamera, relativ niedrig angesetzt, grundsätzliche Hektik, dazu ein Naturalismus, Gewitter, Dreck, Armut zu Akteuren macht. Mendoza ist keiner ist wie Bresson, er muss nicht permanent Kontrolle ausüben. Dies ist ein offener Film, trotzdem wohl konstruiert, getragen vom Überfluss an sinnlichen Eindrücken.
Faszinierend, die beiläufigen Eindrücke von der brodelnden, längst völlig aus den Fugen
geratenen Welt.
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Moral: Geld verdirbt den Charakter. Oder doch nicht?
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Man kennt diese nervigen Menschen, die sich alles zueigen machen müssen, auch, wo es sie so gar nichts angeht, sich in alles reinmischen, die nicht loslassen können, selbst dann nicht, wenn man sie darum bittet.
Die zugleich immer genau wissen, was gut und wichtig ist. Die selbstgerecht zu allem eine Meinung haben und deren Benehmen man allmählich als Ausdruck eines Schuldkomplex zu verstehen lernt.
Jenny ist so.
In anderen Ländern würde man solche Leute
totschlagen. Und selbst im Belgien der Dardenne, sind manche kurz davor.
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»To be a good doctor you have to controll your emotions.« Wenn solche Sätze im Kino fallen, erst recht in einem Film der Brüder Dardenne gleich zu Anfang, dann wissen wir: Sie wird ihre Lektion zu lernen haben. Sie wird ihre Suppe bis zum bitteren Ende auslöffeln müssen, und wir Zuschauer mit ihr.
Genauso kommt es in La fille inconnue, dem neuesten Dardenne-Werk.
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Im Zentrum steht eine junge Ärztin, ehrgeizig und gut, die eine Ärztin der Armen ist, und sich im Laufe des Films auch dazu bekennt. Der Weg dahin erfordert allerdings Opfer: eines Tages wird eine junge Frau tot unweit der Praxis aufgefunden. Sie ist das unbekannte Mädchen des Titels, nicht die von dem deutschstämmigen französischen Shootingstar Adele Haenel in der Hauptrolle gespielte Ärztin Jenny .
Es stellt sich heraus, dass die Tote am Vorabend in Jennys Praxis geklingelt
hat. Vielleicht hätte sie gerettet werden können, Jenny verliert die Fassung. Ist das jetzt nicht einfach nur der bürgerliche Schuldkomplex?
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Jenny ist eigentlich ganz nett. Sie ist aber auch so eine etwas unelegante Filmfigur, einfach suboptimal erzählt: Sie hat kein Privatleben irgendeiner Art. Sie lebt allein. Sie zieht irgendwann in die Praxis und wohnt dort, kocht, schläft. Sie hat dafür oft einen roten Pullover an, so wie so viele Helden bei den Dardenne etwas Rotes anhaben.
Sie macht sich den Fall der Toten zueigen, ermittelt parallel zur Polizei, und versucht als eine Art belgische Miss Marple die Identität der
Toten herauszufinden. Dafür geht sie von Haus zu Haus, klingelt, so wie Marion Cotillard in Zwei Tage, eine Nacht, dem letzten Dardenne-Film, und zeigt allen das Foto der Toten. Für einige von ihnen wird sie, wie schon für ihre Patienten, zur Beichtschwester. Sie ist für alle da, nur nicht für sich selbst.
Möglicherweise ist aber das alles, das Unpersönliche, Übermenschliche an ihr ist gerade der Sinn der Sache: Denn ihr Nachname ist Devin – und das klingt schon fast wie »devine«, »göttlich«.
Vielleicht ist diese göttliche Frau Doktor gar nicht von dieser Welt, sondern eine himmlische Tochter, ein Engel der Armen, eine Leerstelle, die sich mit den Sorgen der Anderen anfüllt?
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Darin, wie nett und selbstlos die Hauptfigur ist, wie sie sich freut, wenn es anderen gut geht, darin wie nett auch die Leute sind, wie liebenswert, wie groß die Solidarität der Klassen und der Rassen (bei der Unterschicht) ist, erkennt man eine gewisse Schönfärberei und Idealisierung der Unterschicht, die sonst nur bei Ken Loach zu finden ist.
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Die Tote war eine Schwarze, später kommt heraus, dass sie aus Gabun stammt, mit falschem Pass einreiste, und so bringen die Dardenne, wenn auch sehr en passant, das Migrations- und Fluchtthema hinein in dieses Festival.
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La fille inconnue, dessen offene Fragen am Ende alle säuberlich gelöst werden, ist in mehrfachem Sinn ein ideologischer Film.
Ideologisch ist etwa, wie hier der Staat gezeichnet wird. Es funktioniert nämlich irgendwie alles. Die Polizisten sind nett. Und auf dem Amt... In einer Szene ruft Dr. Devin für einen armen Patienten, dem man das Gas abgedreht hat, beim Amt
an. Zwei, drei Sätze und alles ist geregelt. Da muss also nur mal Frau Doktor anrufen, und schon flutscht die Sache. Kein Call-Center, keiner fragt nach Sozialversicherungsnummern, keiner sagt, so geht das aber nicht... Einfach ein Anruf, und alles prima.
Ken Loach hätte das niemals so erzählt – in punkto sozialer Realismus ist I, Daniel Blake ungleich besser, filmisch kann er allerdings nicht mithalten.
Denn wenn auch ihre Mittel höchst einfach sind, und immer wieder die gleichen, inzwischen auch sehr überraschungslos und langweilig, wissen die Dardenne doch, wie man erzählt. Wie man Spannung aufbaut, sei die Story auch noch so banal.
Dies ist ohne Frage so ein typischer »man nehme« – Film, ein Film nach Rezept. Aber das Rezept ist gut, das muss man anerkennen.
Es ist alles so tricky, es ist alles so berechnet, aber es funktioniert, und das ist dann auch toll anzusehen.
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Die Buhrufe, die sich am Ende in den Applaus mischten, galten eher dem Sozialmelodram. Im Unterschied zu Loachs Sozialmelo ist La fille inconnue eher ein Gleichnis und die Darstellung eines moralischen Konflikts. Es geht um den Schuldkomplex des Westens gegenüber der Dritten Welt (der auch dann nicht besser wird, wenn wir sie die »Länder des globalen Südens« nennen, liebe Jule), gegenüber den Herkunftsländern der Migranten, es geht um den Schuldkomplex der Reichen gegenüber der Armen. Ist so ein Schuldkomplex gut? Ich bin nicht sicher, aber vielleicht. Ihm zwei Stunden einfach beizuwohnen, ohne dass irgendetwas ein wenig widersprüchlich wird, nervt allerdings.
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Und es bleibt eine moralische wie ästhetische Frage: Sollen wir wirklich mit einer jungen Ärztin mitleiden, die sich den Luxus erlaubt, ihre privilegierte Position in einem Krankenhaus wegzuwerfen, um sich in einer Armenpraxis aufzureiben? Das wird sie konkret ein bisschen moralisch erleichtern, an den Verhältnissen ändert es nichts.
Auch das ist ideologisch, dass hier eine Lösung suggeriert wird, die aus der konkreten Moral stammt.
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Die Dardenne-Brüder scheinen solche Einwände uneingestanden zu spüren: Anders ist mir nicht zu erklären, dass sie gegen Ende eine dramaturgisch/ästhetisch vollkommen missglückte, weil viel zu dick aufgetragene Szene eingebaut haben, in der eine Frau, die Dr. Devin zuvor einmal getroffen und befragt hatte, in der Praxis auftaucht, und sich als die Schwester der Toten zu erkennen gibt. Die sagt der milde verständnisvoll blickenden Ärztin: »Because you came, I felt ashamed and made
my mind up.« Mit solchen Dialogzeilen gibt der Film seinen Figuren recht, baut einen Verteidigungswall auf, weil die Regisseure die Schwäche ihrer Position spüren.
Trotzdem fühlt Dr. Devin sich schuldig. Wie die Schwester. Wie der andere Patient, vor dem die Tote weglief. Alle fühlen sich schuldig. Na super!
(to be continued)