19.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Das Kino des schlechten Gewissens

La fille inconnue der Brüder Dardenne
La fille inconnue der Brüder Dardenne ist unwahrscheinliches Sozial-Kino. Aber am Ende fühlen sich trotzdem alle schlecht. Na super!
(Foto: temperclayfilm – Produktion u. Filmverleih f. int. Kino)

Geld verdirbt den Charakter. Oder doch nicht? Der Schuldkomplex und die auszulöffelnde Suppe, Filmkritikerspiegel, neue Filme der Dardennes und von Brillante Mendoza – Cannes-Notizen, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.« –Wand­in­schrift, 1968

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Was jetzt nochmal die Essenz des Kinos ist, werde ich gefragt. Na, Fetischsmus halt. Gucken, nicht reden und lesen.

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»Wenn man Cannes verpasst, ist es als wenn man die ganze Saison verpasst«, sagt Azize Tan, die bis letzten Herbst fast zehn Jahre lang das Film­fes­tival von Istanbul geleitet hat. »Cannes ist ein Muss, nicht allein wegen der Filme, sondern wegen des 'Buzz', der Themen, Gespräche alles.«
Danach reden wir darüber, in welchem Zustand das Gast­ge­ber­land ist: »Die Franzosen sind von gestern«, findet Azize, die sich in diesem Jahr, bevor sie bald etwas Neues anfängt, einmal ohne Druck von außen ganz frei auf dem Festival und im Programm bewegen kann, »sie verlieren den Touch mit Realität, sie haben keine Ahnung von der Zukunft.« Es geht um Digi­ta­li­sie­rung, Netflix und Streaming-Dienste, die schon seit langem das »nächste große Ding« sein sollen, und ein Sargnagel des Kinos sind. Ich wende ein, dass die Franzosen viel­leicht einfach nicht so schnell vor der Zukunft in die Knie gehen, die kommenden Dinge nicht voraus­ei­lend begrüßen, sondern ihnen Wider­stand entge­gen­setzen.

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Kriti­ker­listen gehören zu den großen Vergnü­gungen eines solchen Festivals, gerade weil sie ein Spiel sind, verraten sie etwas, rühren an unser Unbe­wusstes: Das schnelle Urteil, eher aus der Hüfte geschossen ist hier gefragt, daran erinnert mich besonders Frédéric Jaeger, bei dessen critic.de-Liste ich Punkte abgebe, besonders gern in nächt­li­chen E-Mails, wenn ich wieder drei Tage lang keine Punkte abgegeben habe. Für mich persön­lich zählt auch das Setzen von konträren Akzenten: Wenn ein Film aus meiner Sicht insgesamt zu gut wegkommt, korri­giere ich etwas deut­li­cher, als viel­leicht »objektiv« nötig, nach unten – und umgekehrt. Außerdem versuche ich meine Punkte vor allem danach zu geben, was ich persön­lich inter­es­sant und daher auch sehens­wert finde. Es kann in erster Linie nicht um »Objek­ti­vität« gehen, oder gar um hand­werk­li­ches Können. (Schreck­li­ches Kriterium!) Sondern darum: Hat mich der Film inter­es­siert, habe ich ihn gern gesehen, würde ich ihn mir nochmal angucken und Freunden empfehlen, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich dann mit ihnen streiten muss? Sind die Filme, mit anderen Worten, einen Streit wert? Letzteres zumindest gilt auch, wenn eine Wertung dann besonders schlecht ist.
Einziger Nachteil: critic.de lässt für meinen Geschmack etwas zu wenig Diffe­ren­zie­rungen zu, da werden dann Dinge über einen Leisten geschlagen, die nicht die gleiche Qualität haben.

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Die ulti­ma­tive Kriti­ker­liste ist die argen­ti­ni­sche Todas las criticas, die seit Jahren von Diego Lerer gemacht wird. Da finden sich vor allem spanisch­spra­chige Kollegen, erweitert um inter­na­tio­nale Freunde und Bekannte Diegos – daher habe auch ich das Vergnügen.

Was die Seite so toll macht, ist dass hier auto­ma­tisch ein Punk­te­durch­schnitt eines Films wie einer Sektion ermittelt wird, und dass man auch sehen kann, welchen Punk­te­wert jeder Teil­nehmer im Durch­schnitt vergibt: So gibt es eben Leute, die besonders wohl­wol­lend und andere, deren Urteil besonders streng ist. Ich gehöre zu denen, die im Durch­schnitt wohl eher 6 als 5 Punkte (von 10 maximal) vergeben, bei denen also 6 keine gemäßigt positive Wertung ausdrückt, sondern eher Lange­weile.

Ein ungelöstes Problem solcher Listen ist die Frage, wie man mit unge­se­henen und mit »zwie­späl­tigen« Filmen umgeht. Ich fand es immer toll, wie früher in der Steadycam zwischen »hat der Kritiker leider nicht gesehen« und »hat sich der Kritiker absicht­lich erspart« diffe­ren­ziert wurde.

Und »zwie­spältig« kann mindes­tens zweierlei bedeuten: »Zwie­spältig, weil nicht ganz geglückt, aber inter­es­sant geschei­tert, und unbedingt sehens­wert« oder »eigent­lich Schrott, aber nicht ganz schlecht, trotzdem inter­es­sant«. Oder auch »der Film hat irgendwas, ich weiß nur noch nicht was.«

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Im Jury Grid, der Kriti­ker­liste von »Screen Inter­na­tional« liegt Toni Erdmann mit einem Punk­te­durch­schnitt von 3.7 (Maximum: 4.0) weiterhin klar in Führung. Was einem aller­dings zu denken geben muss: Zweiter ist Jim Jarmusch (3,5), während der groß­ar­tige Park Chan-wook mit 2.1 Vorletzter ist. Aber das waren andere Sieger auch schon.

Nun sind einige Teil­nehmer der Screen­liste wirklich extrem unin­ter­es­sante Kritiker, und die beiden einzigen wirklich ernst­zu­neh­menden Teil­nehmer kommen aus den USA (Stephanie Zacharek) und aus England (Nick James). Die lang­jäh­rige Teiln­meh­merin Manohla Dargis von der »New York Times« sei aus der Liste raus­ge­flogen, weil sie zu oft vor Ende des Films aus dem Kino gegangen sei, erzählte mir gerade eben noch meine geschätzte Ex-Redak­teurin.
Die Franzosen in der rein fran­zö­si­schen Liste von Le film français geben dagegen ganz andere Urteile ab. Die Kriti­kerin von »Le Monde« gibt Jarmusch die schlech­teste Wertung. Auch hier führt Toni Erdmann, vor Bruno Dumonts Ma Loute.

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Wo wir gerade bei den lieben Kollegen sind: Es gibt in Cannes zwei Pres­seräume. Im einen, wo ich immer arbeite, hat der Sponsor HP Computer aufge­stellt, es gibt Drucker, Wasser, eine Terrasse. Der andere wird vom Sponsor Orange.fr verant­wortet, und ist ein apoka­lyp­ti­scher Ort. Verschmud­delt und hässlich. Da stehen nur helle Holz­ti­sche à la Ikea, und es gibt Steck­dosen. Die Hälfte der Plätze ist unbesetzt, aber reser­viert: Mit Taschen, Jacken, oft Laptops und an den Steck­dosen stecken herren­lose Lade­geräte. Inter­es­sant ist, dass offenbar wenig geklaut wird, sonst würden kaum so viele Leute ihre Laptops sehen­lassen.

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Wer einem in diesen Pres­seräumen mit am meisten begegnet: Der seit über zehn Jahren verren­tete Ex-Redakteur eines großen west­deut­schen Fern­seh­sen­ders, der noch immer auf das Sender­ti­cket als Jour­na­list akkre­di­tiert wird, weil sie in Cannes nicht checken, dass er schon seit Jahren nichts mehr mit dem Programm zu tun hat.

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Man hat diese Geschichte schon tausend­und­einmal gesehen. Ma Rosa ist bekannt im Viertel. Hier leben arme Leute, vom Slum unter­scheidet es trotzdem für phil­ip­pi­ni­sche Augen vieles. Eines Tages verhaftet die Polizei Ma Rosa und ihren Mann. Schnell stellt sich raus: Die Polizei ist korrupt, sie wollen diese nicht-ganz-Armen einfach um Geld erpressen. Erst muss Ma Rosa selber einen Drogen­dealer in die Falle locken, dann wird dessen Frau erpresst, als es immer noch nicht reicht, müssen die Kinder das fehlende Geld auftreiben. 50.000 – wieviel ist das genau?
Sie brauchen das Geld, sie verkaufen sich, jeder auf seine Weise, ihren Körper oder ihre Seele, ihren Stolz auf jeden Fall. Der Film verweilt im emotio­nale Druck­mo­ment. Liebe oder Druck, das ist nicht zu unter­scheiden.

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Brillante Mendoza insze­niert dies alles in der üblichen Mendoza-Methode: Bewegte Kamera, relativ niedrig angesetzt, grund­sätz­liche Hektik, dazu ein Natu­ra­lismus, Gewitter, Dreck, Armut zu Akteuren macht. Mendoza ist keiner ist wie Bresson, er muss nicht permanent Kontrolle ausüben. Dies ist ein offener Film, trotzdem wohl konstru­iert, getragen vom Überfluss an sinn­li­chen Eindrü­cken.
Faszi­nie­rend, die beiläu­figen Eindrücke von der brodelnden, längst völlig aus den Fugen geratenen Welt.

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Moral: Geld verdirbt den Charakter. Oder doch nicht?

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Man kennt diese nervigen Menschen, die sich alles zueigen machen müssen, auch, wo es sie so gar nichts angeht, sich in alles rein­mi­schen, die nicht loslassen können, selbst dann nicht, wenn man sie darum bittet.
Die zugleich immer genau wissen, was gut und wichtig ist. Die selbst­ge­recht zu allem eine Meinung haben und deren Benehmen man allmäh­lich als Ausdruck eines Schuld­kom­plex zu verstehen lernt.
Jenny ist so.
In anderen Ländern würde man solche Leute totschlagen. Und selbst im Belgien der Dardenne, sind manche kurz davor.

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»To be a good doctor you have to controll your emotions.« Wenn solche Sätze im Kino fallen, erst recht in einem Film der Brüder Dardenne gleich zu Anfang, dann wissen wir: Sie wird ihre Lektion zu lernen haben. Sie wird ihre Suppe bis zum bitteren Ende auslöf­feln müssen, und wir Zuschauer mit ihr.
Genauso kommt es in La fille inconnue, dem neuesten Dardenne-Werk.

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Im Zentrum steht eine junge Ärztin, ehrgeizig und gut, die eine Ärztin der Armen ist, und sich im Laufe des Films auch dazu bekennt. Der Weg dahin erfordert aller­dings Opfer: eines Tages wird eine junge Frau tot unweit der Praxis aufge­funden. Sie ist das unbe­kannte Mädchen des Titels, nicht die von dem deutschs­täm­migen fran­zö­si­schen Shoo­ting­star Adele Haenel in der Haupt­rolle gespielte Ärztin Jenny .
Es stellt sich heraus, dass die Tote am Vorabend in Jennys Praxis geklin­gelt hat. Viel­leicht hätte sie gerettet werden können, Jenny verliert die Fassung. Ist das jetzt nicht einfach nur der bürger­liche Schuld­kom­plex?

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Jenny ist eigent­lich ganz nett. Sie ist aber auch so eine etwas unele­gante Filmfigur, einfach subop­timal erzählt: Sie hat kein Privat­leben irgend­einer Art. Sie lebt allein. Sie zieht irgend­wann in die Praxis und wohnt dort, kocht, schläft. Sie hat dafür oft einen roten Pullover an, so wie so viele Helden bei den Dardenne etwas Rotes anhaben.
Sie macht sich den Fall der Toten zueigen, ermittelt parallel zur Polizei, und versucht als eine Art belgische Miss Marple die Identität der Toten heraus­zu­finden. Dafür geht sie von Haus zu Haus, klingelt, so wie Marion Cotillard in Zwei Tage, eine Nacht, dem letzten Dardenne-Film, und zeigt allen das Foto der Toten. Für einige von ihnen wird sie, wie schon für ihre Patienten, zur Beicht­schwester. Sie ist für alle da, nur nicht für sich selbst.

Mögli­cher­weise ist aber das alles, das Unper­sön­liche, Über­mensch­liche an ihr ist gerade der Sinn der Sache: Denn ihr Nachname ist Devin – und das klingt schon fast wie »devine«, »göttlich«.
Viel­leicht ist diese göttliche Frau Doktor gar nicht von dieser Welt, sondern eine himm­li­sche Tochter, ein Engel der Armen, eine Leer­stelle, die sich mit den Sorgen der Anderen anfüllt?

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Darin, wie nett und selbstlos die Haupt­figur ist, wie sie sich freut, wenn es anderen gut geht, darin wie nett auch die Leute sind, wie liebens­wert, wie groß die Soli­da­rität der Klassen und der Rassen (bei der Unter­schicht) ist, erkennt man eine gewisse Schön­fär­berei und Idea­li­sie­rung der Unter­schicht, die sonst nur bei Ken Loach zu finden ist.

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Die Tote war eine Schwarze, später kommt heraus, dass sie aus Gabun stammt, mit falschem Pass einreiste, und so bringen die Dardenne, wenn auch sehr en passant, das Migra­tions- und Flucht­thema hinein in dieses Festival.

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La fille inconnue, dessen offene Fragen am Ende alle säuber­lich gelöst werden, ist in mehr­fa­chem Sinn ein ideo­lo­gi­scher Film.
Ideo­lo­gisch ist etwa, wie hier der Staat gezeichnet wird. Es funk­tio­niert nämlich irgendwie alles. Die Poli­zisten sind nett. Und auf dem Amt... In einer Szene ruft Dr. Devin für einen armen Patienten, dem man das Gas abgedreht hat, beim Amt an. Zwei, drei Sätze und alles ist geregelt. Da muss also nur mal Frau Doktor anrufen, und schon flutscht die Sache. Kein Call-Center, keiner fragt nach Sozi­al­ver­si­che­rungs­num­mern, keiner sagt, so geht das aber nicht... Einfach ein Anruf, und alles prima.

Ken Loach hätte das niemals so erzählt – in punkto sozialer Realismus ist I, Daniel Blake ungleich besser, filmisch kann er aller­dings nicht mithalten.
Denn wenn auch ihre Mittel höchst einfach sind, und immer wieder die gleichen, inzwi­schen auch sehr über­ra­schungslos und lang­weilig, wissen die Dardenne doch, wie man erzählt. Wie man Spannung aufbaut, sei die Story auch noch so banal. Dies ist ohne Frage so ein typischer »man nehme« – Film, ein Film nach Rezept. Aber das Rezept ist gut, das muss man aner­kennen.
Es ist alles so tricky, es ist alles so berechnet, aber es funk­tio­niert, und das ist dann auch toll anzusehen.

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Die Buhrufe, die sich am Ende in den Applaus mischten, galten eher dem Sozi­al­me­lo­dram. Im Unter­schied zu Loachs Sozi­al­melo ist La fille inconnue eher ein Gleichnis und die Darstel­lung eines mora­li­schen Konflikts. Es geht um den Schuld­kom­plex des Westens gegenüber der Dritten Welt (der auch dann nicht besser wird, wenn wir sie die »Länder des globalen Südens« nennen, liebe Jule), gegenüber den Herkunfts­län­dern der Migranten, es geht um den Schuld­kom­plex der Reichen gegenüber der Armen. Ist so ein Schuld­kom­plex gut? Ich bin nicht sicher, aber viel­leicht. Ihm zwei Stunden einfach beizu­wohnen, ohne dass irgend­etwas ein wenig wider­sprüch­lich wird, nervt aller­dings.

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Und es bleibt eine mora­li­sche wie ästhe­ti­sche Frage: Sollen wir wirklich mit einer jungen Ärztin mitleiden, die sich den Luxus erlaubt, ihre privi­le­gierte Position in einem Kran­ken­haus wegzu­werfen, um sich in einer Armen­praxis aufzu­reiben? Das wird sie konkret ein bisschen moralisch erleich­tern, an den Verhält­nissen ändert es nichts.
Auch das ist ideo­lo­gisch, dass hier eine Lösung sugge­riert wird, die aus der konkreten Moral stammt.

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Die Dardenne-Brüder scheinen solche Einwände unein­ge­standen zu spüren: Anders ist mir nicht zu erklären, dass sie gegen Ende eine drama­tur­gisch/ästhe­tisch voll­kommen miss­glückte, weil viel zu dick aufge­tra­gene Szene eingebaut haben, in der eine Frau, die Dr. Devin zuvor einmal getroffen und befragt hatte, in der Praxis auftaucht, und sich als die Schwester der Toten zu erkennen gibt. Die sagt der milde vers­tänd­nis­voll blickenden Ärztin: »Because you came, I felt ashamed and made my mind up.« Mit solchen Dialog­zeilen gibt der Film seinen Figuren recht, baut einen Vertei­di­gungs­wall auf, weil die Regis­seure die Schwäche ihrer Position spüren.
Trotzdem fühlt Dr. Devin sich schuldig. Wie die Schwester. Wie der andere Patient, vor dem die Tote weglief. Alle fühlen sich schuldig. Na super!

(to be continued)