69. Filmfestspiele Cannes 2016
Vor dem Erschießungkommando |
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Von Québec-Wunderkind Xavier Dolan läuft in Cannes diesmal Juste la fin du monde. Der Film zeigt ihn fast vorzeitig gealtert. | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Je m'en vais, mais l’etat demeurera toujours.«
– Ludwig XIV., am 26.August 1715, auf seinem Sterbebett zu seinem Nachfolger Ludwig XV.
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»Es war wie vor einem Erschießungskomando zu stehen: Nein, bitte nicht schießen!«, sagt Diego. Mir ging es eher so wie in der ersten Reihe in einem Boulevard-Theater, wo man sich die Ohren zuhalten muss, weil die Leute für die letzte Reihe schreien. Und man dann trotzdem immer noch die Spucke abbekommt. »Ich war mir sicher, als ich aus dem Kino raus ging: Alle hassen den Film. Aber dann gab es doch viele, die meinten, was willst du denn, der ist doch gut, oder zumindest gar nicht schlecht.«
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Klar ist jedenfalls eines: Nach Xavier Dolans Juste la fin du monde (It’s Only the End of the World) sehen die Dardennes mit ihrer La fille inconnue gar nicht so schlecht aus. Denn der ist ein übermelodramatisches, innerlich total leeres Gehäuse.
Lange hat man keine ähnliche Ansammlung von unsympathischen, einen ähnlich kalt lassenden, Figuren gesehen.
Dolan, einer der Darlings des internationalen Festivalbetriebs, erzählt in seinem mit vier französischen Welt-Stars besetzten Film von der Wiedervereinigung einer Familie.
Ein verlorener Sohn kehrt nach zwölf Jahren zurück ins Elternhaus, für einen knappen Tag. Draußen in »der Welt« hat Louis sein Glück gemacht, ist viel gereist und als Autor von Theaterstücken zu Ruhm gekommen. Mit der Familie, der Mutter, der Schwester und vor allem dem verheirateten, ihn in
Rivalität verbundenen Bruder, hat er nur über unzählige Postkarten losen Kontakt gehalten. »Immer nur diese Drei-Worte-Antworten«, wirft ihm die Mutter einmal vor. Sie kann dieses Schweigen nicht verstehen. Denn sie braucht, wie ihre beiden anderen Kinder, für alles weitaus mehr Worte...
»Warum bist Du zurückgekommen?«, wird er darum, auch gefragt. Sie verstehen es nicht. Er hat irgendetwas. Aber was? In der Mitte des Films wird klar: Er muss ihnen etwas sehr Unangenehmes gestehen.
Aber bis zum Schluss kommt er nicht raus mit dem, was er eigentlich hat. Eine tödliche Krankheit, so steht zu vermuten. Denn einfach nur die Frage, wie er seiner Familie sagt, dass er schwul ist, kann es nicht sein.
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Aber jede Möglichkeit eines intimeren Gesprächs wird erstickt vom ständigen Redeschwall, der hier dominiert. Sobald Louis das Elternhaus erreicht hat, prasseln die Worte auf ihn ein: Laut, vulgär, monomanisch nicht auf Antwort hoffend, narzisstisch nur um den jeweils Sprechenden kreisend. Dieses endlose Reden, klar, es ist Konzept, es soll uns nahelegen, uns mit dem Sohn zu identifizieren, der auch darunter leidet, es soll, ganz klar Kommunikationsunfähigkeit ausdrücken.
Aber der Effekt ist, dass alles auf der Stelle tritt, dass man als Zuschauer sich gepeinigt fühlt von den Figuren. Es wäre aber schön, wenn man den einen oder die andere lieben, zumindest schätzen könnte.
Doch selbst Louis (Gaspard Ulliel) kommt einem nicht nahe. Er wiederum ist in seiner Passivität und Schweigsamkeit zu vage, zu sehr in Watte gepackt.
Zur interessantesten Figur wird dann unerwarteterweise ausgerechnet die von Marion Cotillard gespielte Schwägerin Catherine.
Zwar sind es auch hier pure Schauspielmanierismen, wenn sie, die auch unter dem fortwährenden Wortkaskaden leidet, nach Worten sucht, das falsche findet, mit ihnen ringt, sich verspricht, stammelt. Aber immerhin ist das erholsamer... Interessant an der Figur ist auch, dass sofort eine intimere Verbindung zwischen Catherine und Luis klar wird, dass sogar visuell nahegelegt wird, unter anderen Umständen könnten die beiden ein Liebespaar werden – trotzdem Catherine mit Louis'
Bruder verheiratet ist, und vor allem trotzdem Louis wahrscheinlich schwul ist.
Gepasst hätte auf die Rolle übrigens besser Léa Seydoux, die Louis' ein bisschen bedauernswerte Schwester spielt, und das so, dass man sie dauernd – und ganz ohne Hintergedanken – in den Arm nehmen möchte.
Zu einer kleinen Katastrophe gerät der Auftritt von Nathalie Baye als Mutter. Unter der schwarzen Perücke und Zentimetern von Make-up zwar kaum erkennbar; man möchte dennoch schreien,
sie möge endlich den Mund zumachen.
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Sobald die Figuren mal nicht reden, wird der Film besser, mitunter sogar gut. Aber das passiert so selten. Es ist ein Paradox: Dass Xavier Dolan ein sehr talentierter, sehr visuell denkender Filmemacher ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber dem Wunderkind ist der Ruhm zu Kopf gestiegen. Zu einfach macht er sich die Dinge, zu schlampig rotzt er seine Filme hin, zu viel verlässt er sich auf Worte, zu inkoherent sind die Bilder und Inszenierungsstrategien.
Denn immer wieder
gibt es den erkennbaren Versuch, aus dem Dialoggefängnis auszubrechen und den Film visuell aufzupeppen. Das sieht dann allerdings zu oft aus wie Werbefernsehen: Schnell geschnitten und clean. Wenn dann noch die Sprachmaniersmen von Doland Dialoginszenierungen dazu kommen, die Hysterie der Charaktere, ist es kaum zu aushalten.
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Szene reiht sich an Szene, Auftritt an Auftritt. Das Theaterstück von Jean-Luc Lagarce, das die Vorlage bildet, ist reine Mechanik, es klappert gleichförmig so dahin, ohne dramaturgischen Bogen, rechts geht eine Tür auf, links eine zu oder umgekehrt, Auftritt auf Auftritt – und so ist es irgendwann einfach zuende, könnte aber auch noch weitergehen, oder schon früher aufgehört haben.
So hat Juste la fin du monde nur dann ein paar wenige Reize, wenn Léa Seydoux ein paar Sekunden lang Airobic macht, oder wenn man den Film als Trash-Version von Ozons Die Zeit die bleibt begreift, der im Übrigen seinerzeit nur in »Un Certain Regard« lief.
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»It’s a test«, sagt lachend der Sicherheitsmann. Gerade hat man eine dritte Variante des Betretens des »Grand Théâtre Lumiere« ausprobiert. Im »Salle Debussy«, dem anderen großen Kino für Pressevorführungen, ist es ähnlich. Während man Cannes vieles jahrelang per Autopilot erledigen konnte, ist diesmal alles anders. Fast jeden Tag ist der Weg zu den Kinos ein neuer. Schon seit Jahren glich er einem Hindernisparcours. Denn »Betreten« muss man hier in Anführungsstriche
schreiben: Man steht zunächst einmal Schlange, von wenigen Sekunden bis zu vielen Minuten lang. Dann muss der persönliche Code gelesen und die Akkreditierung überprüft werden. Dann werden die Taschen genau kontrolliert. Man darf ins Kino nichts zu essen mitnehmen, auch keinen Apfel für den Dreistundenfilm. Und nichts zu trinken. Auch kein Wasser des Sponsors. Schließlich wird man selber gescannt.
Trotzdem weiß jeder hier, der nicht ganz neu ist, wie man kaum kontrolliert ins Innere
des Palais hineinkommt.
Man kann sich das, glaube ich, alles gar nicht vorstellen, wenn man nicht hier ist, und die Fülle der Zumutungen mit stoischem Gleichmut hinnimmt, und dem inneren Gefühl, mach nur voran, ich weiß, dass ich kein Terrorist bin, keine Bombe dabei habe, ich weiß, dass ich heute noch nicht mal Wasser hineinschmuggle...
Vielleicht ist das alles ja wirklich nur ein Test, der der Aufmerksamkeitssteigerung der Filmkritik dient.
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Die ist in diesem Fall für After the Storm vom normalerweise großartigen Japaner Hirokazu Kore-eda, der schon oft im Wettbewerb lief. Ein Schriftsteller bekommt nach frühem Ruhm sein Leben nicht mehr auf die Reihe, versucht einen Neuanfang. Ein sehr humanes Werk über zwei Familien, über Alter und unterdrückte Gefühle. Ein Taifun wird zum Katalysator ihres Ausbruchs.
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Ein sehr menschlicher, und trotz grundsätzlicher Ironie warmherziger Film, ist La mort de Louis XIV vom Spanier Albert Serra. Vor zehn Jahren war Serra der hippste aller Autorenfilmer, der Darling und Männerbund-Kumpel des seinerzeitigen genialen »Quinzaine«-Leiters Olivier Père. Alle sind da um ihn herumscharwenzelt – ein kleiner König von Cannes, der dicke Ringe trug, klug
und lakonisch daherredete, mit deutschen Kritikern, zum Beispiel über Fassbinder, und viel trank. Sein Momentum ist ihm darüber abhanden gekommen, und jetzt ist Serra plötzlich nicht mehr interessant, sondern führt bei vielen nur zu Augenrollen.
Vielleicht kommt dieser Zustand aber der Konzentration auf das Eigentliche, die Filme zugute. Kein Geringerer als Nouvelle-Vague-Star Jean-Pierre Léaud spielt den alten Sonnenkönig: Mit zehn verschiedenen Perücken, altersmildem
Gesichtsausdruck.
Historisch genau recherchiert ist Serras Film über den letzten Monat im Leben dieses Mannes, der Frankreich 72 Jahre lang regierte, großartiges, zugleich bescheidenes Ausstattungskino, und nicht nur für historisch Interessierte reizvoll. Ohne eine einzige Totale, ohne Establishing-Shots, rückt Serra seinen Figuren sehr nahe, belauscht das Geflüster hinter dem Rücken des Monarchen, und beäugt den Kampf der zwei Körper des Königs, des sterblichen, kranken und
des symbolischen, dem auch Ludwigs XIV. Geist gehört.
(to be continued)