69. Filmfestspiele Cannes 2016
Brain manoeuvres in the dark |
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Der Vater und seine Tochter: Bacalaureat von Cristian Mungiu | ||
(Foto: Filmcoopi Zürich (Schweiz)) |
Mich hat es immer schon, seitdem ich überhaupt begriffen hatte, was eine Musikgruppe ist, und was sie tut, also etwa seit ich acht oder zehn war, fasziniert, dass es da eine gab, die sich »Orchestral Manoeuvres in the Dark« nannte. Ziemlich bald, ohne vom einen oder anderen etwas zu verstehen, war ich auf der richtigen Fährte: Horror und Intellekt, Esoterik und Genie. Wenn Albert Einstein ein Rockmusiker gewesen wäre, hätte er solche Musik gemacht.
Ich kann mich auch noch genau
erinnern, wie ELP mal in einer deutschen Fernsehshow auftraten, meine Mutter den Kopf schüttelte und ich es cool fand. Vielleicht auch nur wie der Moderator – oder war es »Disco«, also Ilja Richter? – das voller Pathos in den Saal rief: »Emerson! Lake!! and Pal-mer!!!«
Warum ich das hier hinschreibe? Hat keinen Grund, außer dem, dass es mir heute morgen eingefallen ist. Cannes ruft die merkwürdigsten Erinnerungen wach – brain manoeuvres in the dark.
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Wie jeden Morgen ist auch heute wieder der dicke, nein, richtig fette Däne da, der immer im Lumière in einer der ersten drei Reihen sitzt, auch auf der linken Seite, wo ich gern sitze, und nie allein, immer im Gefolge.
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Bacalaureat heißt der neue Film von Cristian Mungiu, der 2007 die Goldene Palme gewann. Ich habe Mungiu bisher nie besonders gemocht – dieser Film gefiel mir gut. Es ist der interessanteste des Regisseurs, dessen Werk im Unterschied zu seinen Landsleuten immer ein Element von Exploitation besaß und zum Moralisieren neigte.
Eine der Hauptrollen in diesem Film spielt die deutsche Schauspielerin Maria Dragus. Dragus, deren Familie rumänische Wurzeln hat, weswegen sie die Landessprache hervorragend beherrscht. Dragus, die zur Premiere direkt aus Wien eingeflogen kam – dort hat sie die Hauptrolle in Licht abgedreht, dem neuen Film von Barbara Albert, auf den wir uns schon ganz besonders freuen.
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Das erste Bild zeigt einen Plattenbau, daneben eine Baustelle, eine Grube wird gegraben. Wir sehen das alles durch ein Autofenster – und damit zeigt uns der Film schon: Hier guckt ein Mensch, und wir sehen mit seinen Augen.
Dann sind wir in einer Wohnung, und plötzlich fliegt ein Stein durch das Fenster. Die Drohung eines Unbekannten. So setzt der Film sich und seine Protagonisten von Beginn an in eine Stimmung von ungreifbarer Bedrohung und ungerichteter Angst, von
Paranoia.
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Die Hauptfigur und Opfer des Steinwurfs ist der Arzt Romeo, der mit Frau und fast erwachsener Tochter Eliza in der Universitätsstadt Cluj lebt. Die Tochter, gespielt von Dragus, steht kurz vor der wichtigen Abiturprüfung. Deren Notendurchschnitt wird darüber entscheiden, ob sie ein begehrtes Stipendium für das Auslandsstudium in England erhält.
Romeo hat auch eine Geliebte, die ein bisschen aussieht, wie seine Tochter, und die deren Englischlehrerin ist. Als er bei ihr ist, bekommt er einen Anruf: Die Tochter sei angegriffen worden. Im Krankenhaus erfährt er von einem Vergewaltigungsversuch, einer der Polizisten ist ein Freund von Romeo – und schon hier verstehen wir: Man muss Freunde haben in diesem Land – wer weiß, wozu sie gut sind. Denn auf die Institutionen allein ist kein Verlass.
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Eine Szene zeigt ein Gespräch Romeos mit seiner alten Mutter darüber, ob Eliza ins Ausland gehen solle: »Whats so good about there?« – »There you dont need connections. Whats so good about here?«
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Doch der Überfall bringt nicht nur Eliza und ihre ganze Umgebung durcheinander, sondern er gefährdet das Projekt des Auslandsstudiums: Es wird nie ganz klar, wie sehr dieses vor allem der Plan von Eltern ist, die wollen, dass es ihr Kind »einmal besser hat«, und deren Wunsch obsessive Züge annimmt.
Also kommt der Vater, im Prinzip ein angesehener, integerer Arzt, auf den Gedanken, den Noten seiner Tochter etwas nachzuhelfen.
Und das sind die Passagen, in denen der Film am
besten ist: Dies ist ein Lehrstück, mit hochinteressanten Debatten über Korruption. Denn wo geht sie los? Die Idee: man hilft sich gegenseitig, eine Hand wäscht die andere, ist ja auch sehr menschlich. Wir sehen diesen Mann im Stress, er bekommt Druck von der Gattin, der Geliebten, der Mutter, der Tochter, den Verhältnissen. Wir fragen uns: Sollen wir ihn mögen? Ist er nett?
Wir sehen, wie alle daran verzweifeln, dass »Freier Markt« und »Demokratie« längst zur Chiffre für die »Gesetze des Dschungels« geworden sind, von Verhältnissen, in denen jeder nur noch an sich denkt.
Und zumindest ich verstehe Vater Romeo komplett, wenn er seiner moralisierenden, verwöhnten Tochter klarzumachen versucht: »This is the world we live in. And sometimes we have to use their weapons.« »It’s so easy to say you should not have done it.« In zehn Jahren
werde sie ihren Puritanismus bereuen.
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So wird Bacalaureat untermalt von der Musik Händels und Purcells zu einem universalen Drama über menschliche Sünden, und Korruption. Zugleich ist dies auch eine rumänische Version von Michael Hanekes großartigem Caché, der eine eindeutige Referenz darstellt, wie überhaupt hier – auch in der Figur des kleinen Sohns der Geliebten, der ständig eine Wolfsmaske trägt, und in der Besetzung mit Maria Dragus – das Werk Hanekes überdeutlich präsent ist. Es geht um Paranoia, um Überwachung, um moralische Korruption, um die Unmöglichkeit, Fehler zu korrigieren und um einen Mann jenseits des Nervenzusammenbruchs. Wie Daniel Auteuil in Caché muss auch Romeo irgendwann bitterlich schluchzen.
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Für Dragus' Eliza ist dies eine Reifeprüfung anderer Art, ein Abschied von der Kindheit, ein Abschied von den Eltern. Sie hat die Dinge selbst in die Hand genommen.
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Es ist erstaunlich, wie gut das Kino aus Rumänien gegenwärtig ist. Auch Cristi Puius Sieranevada, der zweite rumänische Wettbewerbsfilm, ist ein universales Drama über die kleinen und größeren Sünden der Menschen. Beide Filme belegen, dass Rumänien das einzige postkommunistische Land ist, dessen Filme sich der Vergangenheit wirklich stellen, sie gegenwärtig behandeln, ohne zu verklären oder zu ignorieren. Alle anderen, wie Polen, Ungarn, Russland tun im Kino gern so, als ginge sie dieser Teil der Vergangenheit nichts an. Sie sind ja nur Opfer, wie die Polen, die von außerirdischen Kommunisten wider Willen 50 Jahre besetzt gehalten wurde.
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»That’s no corruption. That’s human life«, sagt Ugo Busaporco aus Verona, als wir nach dem Kino über den Film sprechen, und ich das Wort Korruption benutze: »In Italien haben wir Korruption: Mafia, die politischen Parteien, die Immoblilienbranche. Aber sich einen Gefallen zu tun, das ist das normale Leben. Leben ohne Gefallen, das ist kein Leben.«
(to be continued)