21.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Leichen schwimmen im Fluss

The Transfiguration
Michael O’Sheas The Transfiguration: Reminiszenzen zuhauf an Vampir-Filme
(Foto: Xenix (Schweiz))

Vampire und Preisspekulationen – Cannes-Notizen, 12. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»If we dont know the past, future does not look very inte­res­ting.«
Nicholas Winding Refn 2016 in Cannes

Meine nicht mehr ganz jungen Augen sind heute, am Sams­tag­morgen, um acht schon in einem Zustand, in dem sie norma­ler­weise nicht vor 11 Uhr abends sind. Elf Stunden Ruhezeit sind nach Nacht­dreh­ar­beiten vorge­schrieben. Davon kann in Cannes natürlich keine Rede sein. Denn nach dem Nacht­schreiben oder Nacht­ge­sprächen über Filme, Drogen, wann man mit dem Rauchen ange­fangen hat, und die Funktion eines Festivals, wie diesem, hat man oft nur drei, vier Stunden Ruhezeit und nach dem Nacht­feiern auch.

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Heute Abend gibt es keine neuen Filme mehr, darum gucken die sympa­thischten aus der inter­na­tio­nalen Film­kri­ti­ker­schar heute das deutsche Pokal­fi­nale. Nachdem dann hoffent­lich der BVB Guar­diolas Abschied verdirbt, gibt es viel­leicht am Sonntag noch etwas zu feiern.

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Schmatz­geräu­sche auf dem Klo. Dann entsteigt ihm ein schöner schwarzer Jüngling, wischt sich den Mund. Alles klar denkt man, bliebe der andere nicht, wo er ist, regungslos, um irgend­wann die Klofrau zu erschre­cken.

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Vampire haben sich in Cannes schon immer wohl gefühlt. Trouble Every Day lief seiner­zeit im Wett­be­werb, Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula ebenso wie Neil Journan’s Interview with the Vampire.
Jetzt also The Trans­fi­gu­ra­tion. Michael O’Sheas Film im »Un Certain Regard«-Programm kann mit solchen Meis­ter­werken nicht mithalten, auch wenn er sie immerfort zitiert.
Beim ersten Date geht Milo, das ist der junge Mann der ersten Szene, mit dem unbe­kannten Mädchen, das neu in seinen Wohnblock gezogen ist, und sein Interesse erregt hat, in Murnaus Nosferatu. Blut trinkt er nur einmal im Monat, ansonsten isst er noch Corn­flakes und geht dem Tages­licht auch keines­wegs aus dem Weg. Es sind eben allerlei Vorur­teile über Vampire im Umlauf.
Der Film zitiert des Weiteren Thirst, Last Days und Dracula Untold, hat aber zu wenig Substanz, um für sich genommen zu inter­es­sieren. Es geht um den Platz der Vampire im Leben und um Eltern­ver­lust, aber ganz vage.

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Dieser Film sei »true art«, sagt Nicholas Winding Refn mit der ihm eigenen beson­deren Inten­sität im Bunuel-Saal: »It is the movie, Ridley Scott literally stole to make Alien
Gemeint ist Planet of the Vampires von Mario Bava, der restau­riert in den Cannes-Classics läuft. Refns Aussagen sind völliger Unsinn, aber davon unge­achtet ist Bavas Film ein groß­ar­tiger Trash-Science-Fiction aus eigenem Recht. Am meisten Bestand haben Produk­ti­ons­de­sign, Musik und Eastman Color – ansonsten ist zum Beispiel Barba­rella dann doch der bessere SF-Film und man möchte schon wissen, was man sich seiner­zeit so gedacht hat mit so einem Film.

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»What do you think of Toni Erdmann«, fragt mich Clarence aus Hongkong. Meine Antwort: »Great film, but the hype is too much.«

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Das findet auch Viennale-Director Hans Hurch. Den treffe ich nach dem Screening von Refns eigenem Film The Neon Demon (über den ich später noch schreiben werde) und wir überlegen, was dieser Film noch ist, außer zynisch und kindisch. »Kann ein Kind zynisch sein?« frage ich, Hurch verneint und sagt dann: »Ich glaube in jedem Fall, dass Refn ein Zyniker ist.« Ich dagegen: »Wenn er das wäre, hätte er nach Drive immer wieder solche Filme gemscht und wäre heute bei Drive 5. Denn ob er mit so etwas wie seinen letzten zwei Filmen Geld verdient, weiß ich nicht.« »Viel­leicht wäre das ehrlich«, meint Hurch dazu.
Sein Lieb­lings­film ist Toni Erdmann: »Die Maren Ade, die will uns nichts aufdrü­cken, lässt uns mit diesen Figuren zusammen sein, bewertet nicht, sagt nicht was gut und was böse ist.« Und weiter: »Ade muss gut recher­chiert haben. Da sieht man mal, wie schlecht diese anderen deutschen Filme sind, die sich auf Farocki berufen, die seine Wirt­schafts­do­ku­men­ta­tionen ausschlachten.«

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Die Preis­spe­ku­la­tionen nehmen zu. Ade ist Favoritin, der rumä­ni­sche Film von Puiu folgt. Ich glaube, dass sowohl Jim Jarmusch, dessen Paterson ich lang­weilig finde, als auch Andrea Arnolds American Honey, den ich schreck­lich finde, Chancen haben.
Denn in 14 Jahren Cannes haben wir schon viele Leichen von Favoriten den Fluss hinun­ter­schwimmen sehen.

(to be continued)