69. Filmfestspiele Cannes 2016
Leichen schwimmen im Fluss |
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Michael O’Sheas The Transfiguration: Reminiszenzen zuhauf an Vampir-Filme | ||
(Foto: Xenix (Schweiz)) |
»If we dont know the past, future does not look very interesting.«
Nicholas Winding Refn 2016 in Cannes
Meine nicht mehr ganz jungen Augen sind heute, am Samstagmorgen, um acht schon in einem Zustand, in dem sie normalerweise nicht vor 11 Uhr abends sind. Elf Stunden Ruhezeit sind nach Nachtdreharbeiten vorgeschrieben. Davon kann in Cannes natürlich keine Rede sein. Denn nach dem Nachtschreiben oder Nachtgesprächen über Filme, Drogen, wann man mit dem Rauchen angefangen hat, und die Funktion eines Festivals, wie diesem, hat man oft nur drei, vier Stunden Ruhezeit und nach dem Nachtfeiern auch.
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Heute Abend gibt es keine neuen Filme mehr, darum gucken die sympathischten aus der internationalen Filmkritikerschar heute das deutsche Pokalfinale. Nachdem dann hoffentlich der BVB Guardiolas Abschied verdirbt, gibt es vielleicht am Sonntag noch etwas zu feiern.
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Schmatzgeräusche auf dem Klo. Dann entsteigt ihm ein schöner schwarzer Jüngling, wischt sich den Mund. Alles klar denkt man, bliebe der andere nicht, wo er ist, regungslos, um irgendwann die Klofrau zu erschrecken.
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Vampire haben sich in Cannes schon immer wohl gefühlt. Trouble Every Day lief seinerzeit im Wettbewerb, Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula ebenso wie Neil Journan’s Interview with the
Vampire.
Jetzt also The Transfiguration. Michael O’Sheas Film im »Un Certain Regard«-Programm kann mit solchen Meisterwerken nicht mithalten, auch wenn er sie immerfort zitiert.
Beim ersten Date geht Milo, das ist der junge Mann der ersten Szene, mit dem unbekannten Mädchen, das neu in seinen Wohnblock gezogen ist, und sein Interesse erregt hat, in Murnaus Nosferatu. Blut trinkt er nur einmal im Monat, ansonsten isst er noch Cornflakes und geht dem Tageslicht auch keineswegs aus dem Weg. Es sind eben allerlei Vorurteile über Vampire im Umlauf.
Der Film zitiert des Weiteren Thirst, Last Days und Dracula Untold, hat aber zu wenig Substanz, um für sich genommen zu interessieren. Es geht um den Platz der Vampire im Leben und um Elternverlust, aber ganz vage.
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Dieser Film sei »true art«, sagt Nicholas Winding Refn mit der ihm eigenen besonderen Intensität im Bunuel-Saal: »It is the movie, Ridley Scott literally stole to make Alien.«
Gemeint ist Planet of the Vampires von Mario Bava, der restauriert in den Cannes-Classics läuft. Refns Aussagen sind völliger
Unsinn, aber davon ungeachtet ist Bavas Film ein großartiger Trash-Science-Fiction aus eigenem Recht. Am meisten Bestand haben Produktionsdesign, Musik und Eastman Color – ansonsten ist zum Beispiel Barbarella dann doch der bessere SF-Film und man möchte schon wissen, was man sich seinerzeit so gedacht hat mit so einem Film.
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»What do you think of Toni Erdmann«, fragt mich Clarence aus Hongkong. Meine Antwort: »Great film, but the hype is too much.«
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Das findet auch Viennale-Director Hans Hurch. Den treffe ich nach dem Screening von Refns eigenem Film The Neon Demon (über den ich später noch schreiben werde) und wir überlegen, was dieser Film noch ist, außer zynisch und kindisch. »Kann ein Kind zynisch sein?« frage ich, Hurch verneint und sagt dann: »Ich glaube in jedem Fall, dass Refn ein Zyniker ist.« Ich dagegen: »Wenn er das
wäre, hätte er nach Drive immer wieder solche Filme gemscht und wäre heute bei Drive 5. Denn ob er mit so etwas wie seinen letzten zwei Filmen Geld verdient, weiß ich nicht.« »Vielleicht wäre das ehrlich«, meint Hurch dazu.
Sein Lieblingsfilm ist Toni Erdmann: »Die Maren Ade,
die will uns nichts aufdrücken, lässt uns mit diesen Figuren zusammen sein, bewertet nicht, sagt nicht was gut und was böse ist.« Und weiter: »Ade muss gut recherchiert haben. Da sieht man mal, wie schlecht diese anderen deutschen Filme sind, die sich auf Farocki berufen, die seine Wirtschaftsdokumentationen ausschlachten.«
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Die Preisspekulationen nehmen zu. Ade ist Favoritin, der rumänische Film von Puiu folgt. Ich glaube, dass sowohl Jim Jarmusch, dessen Paterson ich langweilig finde, als auch Andrea Arnolds American Honey, den ich schrecklich finde, Chancen haben.
Denn in 14 Jahren Cannes haben wir schon
viele Leichen von Favoriten den Fluss hinunterschwimmen sehen.
(to be continued)