18.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

»Die Zeit des Bildes ist ange­bro­chen!«

Easy Rider auf der Croisette
Heute sind es 70 Jahre- auf diesem Bild erst 22: Die Crew von Easy Rider auf der Croisette, 1969
(Foto: Columbia Pictures)

Klasse statt Masse: Die Filmfestspiele von Cannes sind das stärkste Festival der Welt – heute Abend wird eröffnet; Cannes-Notizen, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Sprache der Bilder ist noch nicht ausge­reift, denn unsere Augen sind noch nicht für sie gemacht. Es gibt noch nicht genug Achtung, noch nicht genug Ehrfurcht vor dem, was die Bilder ausdru­cken. Die Mehrheit des Publikums ist noch nicht bereit. Es benötigt Werke des Übergangs, und so bleiben wir in täglichem, aber frei­wil­ligem Verzicht hinter unseren Wünschen zurück, um die Menge über ihren Unver­stand hinaus­zu­führen.«
Abel Gance, Film­re­gis­seur

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Es ist die passende Begleit­me­lodie für diesen riesen­großen Zoo aus lauter seltsamen, erlesenen, meist sehr schönen Wesen, die in den nächsten knapp zwei Wochen den Nabel der Filmwelt bilden: Der »Karneval der Tiere« vom fran­zö­si­schen Kompo­nisten Camille Saint-Saens leitet seit vielen Jahren jede Film­vor­stel­lung im Festival von Cannes ein.
Heute Abend geht es wieder los, auf dem roten Teppich vor dem Palais du Cinema direkt neben dem Strand der Cote d’Azur – unter dem Blitz­licht­ge­witter der Foto­gra­phen und flankiert von über tausend Beob­ach­tern aus der ganzen Welt.

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Eröffnet wird mit einem der besten fran­zö­si­schen Regis­seure: Les Phantomes d’Ismael heißt der neueste Film von Arnaud Desplechin: Charlotte Gains­bourg, Marion Cotillard und Matthieu Amalric – Dauergast und Alter Ego des Regis­seurs – spielen die Haupt­rollen. Desplechin ist am ehesten der legitime Erbe der Nouvelle Vague, der fran­zö­si­schen Neuen Welle, die immer noch auch über Frank­reich hinaus das Maß aller Dinge im Autoren­kino bildet.
Der Eröff­nungs­film läuft noch außer Konkur­renz. 19 Filme wett­ei­fern danach um die Goldene Palme und die weiteren Preise an der Croisette. Darunter auch ein deutscher Beitrag: Aus dem Nichts von Fatih Akin.

Favoriten gibt es natürlich heute noch keine. Aber alle Augen werden auf Michael Haneke blicken. Mit seinen letzten beiden Wett­be­werbs-Filmen gewann der Öster­rei­cher jeweils die Goldene Palme. Wird es ihm ein drittes Mal gelingen? Das schaffte bisher noch kein Regisseur. Zweimal immerhin gewann unter anderem auch Francis Ford Coppola. Seine Tochter Sofia Coppola gehört auch zu jenen, deren Werke man in diesem Jahr mit beson­derer Spannung erwartet: Vor 11 Jahren war sie erstmals im Wett­be­werb, mit Marie Antoi­nettei. Die Verführten heißt jetzt ihr neuer zweiter Wett­be­werbs­bei­trag.

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Aber der Kampf um die Palmen ist längst nicht alles. Etwa 100 Filme laufen hier insgesamt in den vier Sektionen, das ist zwar nur ein gutes Viertel des Programms der Berlinale – aber mehr als genug. Und vor allem sind es in der Regel die besten und bedeu­tendsten Werke eines Kino­jahr­gangs. Man muss sich nur erinnern, was hier vor einem Jahr gezeigt wurde und seitdem in unser Kino kam: Die neuen Filme von Ken Loach, den Dardenne-Brüdern, von Olivier Assayas, Paul Verhoeven – nicht zu vergessen Toni Erdmann. Dessen Regis­seurin Maren Ade sitzt diesmal in der Jury, wie gleich drei Filme­ma­cher, die im letzten Jahr im Wett­be­werb vertreten waren und wie überhaupt viele Regis­seure, unter Vorsitz eines anderen alten Bekannten: Des Spaniers Pedro Almodóvar. Irgendwie ist Cannes eben auch ein großes Fami­li­en­treffen.

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Zugleich ist es der Hort der ganz einma­ligen, unver­gleich­baren fran­zö­si­schen Film-Tradition. Vor ein paar Monaten ist bei uns eine Antho­logie mit Texten fran­zö­si­scher Intel­lek­tu­eller, Künstler und Film­kri­tiker über das Kino heraus­ge­kommen. Unter dem Titel »Die Zeit des Bildes ist ange­bro­chen!« ist dieser Band im Alexander Verlag in jeder Hinsicht eine Hymne auf jene so ganz andere Kino­kultur, die an den nächsten zwölf Tagen in Cannes tagtäg­lich zele­briert wird – Kino als Lebens­eli­xier und als Fähigkeit »sehr viel unmit­tel­barer und genauer zu denken«, wie es Regisseur Abel Gance in einem Aufsatz ausdrückte – Kino als die »Siebte Kunst« eben, wie man es in Frank­reich so pathe­tisch wie opti­mis­tisch ausdrückt. Diese Tradition ist hier ganz gegen­wärtig.
1946 begründet, feiert die Insti­tu­tion Cannes nun ihren 70. Geburtstag – mit einer phäno­me­nalen Reihe mit Werken aus der eigenen Festival-Geschichte. Das meiste ist längst klassisch geworden, nur weniges längst vergessen.

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Cannes, das ist zugleich immer auch ein bisschen die Aura des Augen­blicks. Zum Beispiel La vie d’Adèle, auf Deutsch: »Blau ist eine warme Farbe«. Vor ein paar Jahren gewann er hier die Goldene Palme, ein gewisser Francois Hollande hatte da gerade die Präsi­dent­schafts-Wahlen gewonnen, und katho­li­sche Funda­men­ta­listen hetzten auf offener Straße gegen gleich­ge­schlecht­liche Liebe. Eine Goldene Palme für eine lesbische Love Story und den ersten fran­zö­si­schen Gewinner-Regisseur mit arabi­schen Wurzeln war da ein Signal für die Gegenwart.

Nun stehen in Frank­reich wieder alle Zeichen auf Aufbruch und auf Neue Ära. Der Puls schlägt schneller... Wer weiß, wer diesmal in knapp zwei Wochen als Sieger über den roten Teppich nach Hause geht?
Bis dahin wartet auf alle Liebhaber der Filmkunst eine wunder­bare Zeit – und viel Spaß im Mekka des Kinos!

(to be continued)