70. Filmfestspiele Cannes 2017
Die Wiederkehr des Nichtverdrängten |
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Stars, Spaß, Ironie & tiefere Bedeutung | ||
(Foto: Magnolia Pictures) |
Nocturama – der Titel dieses großartigen französischen Films, der morgen in Deutschland startet, bezeichnet eine besondere Käfiganlage zur Präsentation nachtaktiver Tiere im Zoo. Eine Analogie nicht nur zum Kino. Ein Nocturama ist auch Cannes. Um so unverständlicher, dass dieser Film von Bertrand Bonello, einer der besten des vergangenen Film-Jahres, nicht nur aus
Frankreich, sondern weltweit, und daher auf vielen Jahresbestenlisten vertreten, letztes Jahr in Cannes abgelehnt wurde, aus rein politischen Gründen – wegen »modernem Dschihadismus«. Vielleicht ist dieses Schwachsinnsetikett Werbung genug für diesen Film, auf dessen Zurückweisung und die Cannes-Auswahlkriterien wir dieser Tage noch zu sprechen kommen.
Jetzt erstmal zu einem Film, der dieses Jahr ausgewählt wurde, wenn auch... Aber der Reihe nach.
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Charlotte Gainsburg, Marion Cotillard und der französische Woody Allen Mathieu Amalric, nicht zu vergessen Monica Belluci, die die illustre Gala zur Eröffnung der 70. Jubiläumsausgabe der Filmfestspiele von Cannes moderierte – als sie alle und die über eintausend übrigen Gäste am Mittwoch-Abend unter dem Blitzlichtgewitter der Photographen über den Roten Teppich mit seinen 24 Stufen das Festivalpalais von Cannes betraten, wussten alle – dieser Abend würde nicht
nur ein Festival-Auftakt werden, sondern auch eine große Selbst-Feier des Autorenkinos, als dessen Heimat sich Frankreich seit jeher fühlt. Die »siebte Kunst« nennt man das Kino hier – Kino ist auch Lebenselixier, das so pathetisch wie optimistisch gefeiert wird.
Und auch der Eröffnungsfilm wurde zu einer Hommage auf das Kino, nicht nur in Frankreich.
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Stars, Spaß, Ironie und tiefere Bedeutung – Les fantômes d’ismaël von Arnaud Desplechin ist ein Film, der vielen etwas zu bieten hat: Feingeister können sich an Verweisen auf Philosophie und die europäische Kunstgeschichte erfreuen, für jene, die gröbere Kinokost bevorzugen, gibt es Sex – und eher unerotische Nacktszenen mit Marion Cotillard –, Liebe, großes Drama und das Spiel mit Genrestoffen, wie dem Spionagefilm und dem
Psychothriller.
Ismael – das ist ein biblischer, ein alttestamentarischer Name, er ist der Sohn Abrahams und dessen Dienerin Agar. Diese biblische Geschichte spielt aber keine Rolle in diesem Film. Die Phantome, die die Hauptfigur heimsuchen, sind seine Familie, sind seine Frauen, ist der Film, den er gerade dreht.
Les fantômes d’ismaël st eine Alptraumkomödie: Im Zentrum steht der Filmregisseur Ismael (Amalric), der mit Sylvia liiert ist, einer Astrophysikerin (Gainsbourg). Eines Tages taucht aus dem Nichts Charlotte wieder auf, Ismaels Ehefrau, die vor 21 Jahren spurlos verschwand und inzwischen für »absent« und damit quasi tot erklärt wurde. Für ihre Abwesenheit hat sie nur vage Erklärungen, jetzt aber will sie den Mann zurück, der sie nie ganz vergessen konnte – die Wiederkehr des Nichtverdrängten.
So entspinnt sich eine turbulente Dreiecksgeschichte, in der der Mann zwischen zwei Frauen steht, und sich gewissermaßen zwischen Gegenwart und Vergangenheit entscheiden muss. Der Film mischt Melodram und Komödie, schwerblütige Melancholie und Screwball und erinnert in seinem Dialogwitz stellenweise an Woody Allen: »Wir wollten uns immer verlassen, aber nie beide zur selben Zeit« erzählt Ismael einmal über seine Exfrau, »und es war praktisch: Es war immer jemand da, der ans Telefon ging.«
Zusätzliche Ebenen bringt die Film-im-Film-Handlung, in der Regisseur Ismael immer in Alpträumen von seinen Filmfiguren heimgesucht wird. Inhaltlich erinnert sie an Desplechins letzten Film, Trois souvenirs de ma jeunesse, in dem ebenfalls ein Erzählstrang vom Kalten Krieg der 80er Jahre und dem französischen Geheimdienst handelte.
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Desplechin probiert in seinen Filmen immer wieder neue Erzählweisen aus. Zugleich strotzt alles von Bezügen: Zu Shakespeare, zur europäischen Kunstgeschichte – die parallele Erfindung der Perspektive an zwei Orten in Europa um 1437 – zur Psychoanalyse, zu seinem Lieblingsphilosoph Stanley Cavell und zu Jacques Lacan – immer wieder stehen Leute vor dem Spiegel, man sieht sie durch Spiegel, wie durch Schleier –, wie auch zu seinen eigenen Filmen: Auch hier geht es wieder nach Roubaix, Desplechins Heimatstadt, die Hauptfigur heißt Daedalus, wie oft, wird einmal mehr von dem wunderbaren Mathieu Amalric gespielt. Als einen immer gestressten, psychisch labilen Künstler. Cotillard spielt eine entsetzliche Figur. Der beste aber ist der von Charlotte Gainsbourg – die das emotionale Zentrum eines Films bildet, der seine Figuren mag, aber sie und ihre sonderbaren Gefühle nie über Gebühr allzu ernst nimmt.
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Zugleich ächzt auch dieses Mekka der Filmkunst unter dem Druck des Kommerz. Vom Eröffnungsfilm existieren schon heute zwei Fassungen – die in Cannes nennt Desplechin die »version francaise«, sie dauert knapp zwei Stunden, der 20 Minuten längere »version originale« läuft ab nächster Woche in ausgewählten Kinos.
In der Zeitung Le monde war zu lesen, das seien zwei ganz unterschiedliche Filme
Bedeutet das, dass auch das Festival in Cannes sich im alten
Kunst-Kommerz-Spannungsverhältnis auf die Kommerzseite geschlagen hat? Die nächsten Tage werden die Antwort geben.
(to be continued)