70. Filmfestspiele Cannes 2017
Ich möchte auf Dich kotzen, Marion Cotillard |
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Jupiter’s Moon von Kornel Mundruczo – der einzige Film, der zwei Wettstimmen auf sich vereinigen konnte. | ||
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH) |
Inzwischen ist es schon eine Art Tradition – am Abend vor Wettbewerbsbeginn sitzen wir in größerer Runde im »Le Crillon« zusammen, gehen die – diesmal 19 – Filme im Wettbewerb durch, und bewerten nach der Papierform. Keiner hat irgendwas gesehen, die einzigen Indizien sind Trailer und Inhaltsangaben (die ich mir aus Prinzip nicht anschaue, um die Filme möglichst »unschuldig« wahrnehmen zu können), das einzige, was man manchmal hört, ist der übliche Festivalklatsch. Tunc, Verleiher aus der Türkei berichtet, die Erwartungen der Branche seien eher niedrig, es solle kein so gutes Cannes werden.
Schaut man aufs Programm, möchte man anderes annehmen. Es gibt nicht nur die großen Namen im Wettbewerb, sondern auch außer Konkurrenz – Agnes Varda, Takashi Miike, Barbet Schroeder, Hong Sang-soo, James Cameron Mitchell, Claude Lanzmann, André Téchiné, Roman Polanski. Auch Kristin Stewart hat nun einen Film als Regisseurin gemacht. Ihr traut man das auch sofort zu. Oder in »Un Certain Regard«: Valeska Grisebach, Kiyoshi Kurosawa, Laurent Cantet, Santiago Mitre. Die »Quinzaine« wird heute Abend von Claire Denis eröffnet. Außerdem gibt es Filme von Phillippe Garrel, Werner Herzog, Abel Ferrara, Bruno Dumont.
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Drei Filme aus Osteuropa sind im Wettbewerb. Der Ungar Kornel Mundruczo ist vollkommen unberechenbar. Ein Filmemacher der forcierten Didaktik, was nervt, was bei seinen früheren Filmen auch nicht aufgegangen ist, bei seinem letzten, White God allerdings schon. Sergeij Loznitsa, der davon profitiert, dass er von manchen für einen Ukrainer gehalten wird, von anderen für einen Weißrussen, und der postsowjetische Filme macht, mag eigentlich niemand wirklich in der Runde. My Joy Iwar einer der nervigsten Filme, die ich je in Cannes gesehen habe, Im Nebel nicht viel besser, und seine Dokumentarfilme sind mir viel zu tendenziös und ideologisch, dabei immer vage genug, um sich zu keiner Debatte und keinem Problem wirklich irgendetwas Substantielles zu sagen zu haben. Damit bekommt man dann mehr deutsche Filmförderung, als xdie meisten deutschen Regisseure – was nicht nationalistisch gemeint ist, sondern förderkritisch: Es ist nur bezeichnend, dass so ein diffuser Quatsch immer durch alle deutschen Gremien gewunken wird, obwohl hier nun wirklich das gern bemühte Argument der Markttauglichkeit erwiesenermaßen nicht greift, dass der Kunst erst recht nicht.
Einig sind wir uns, dass Andreij Zvyagintsev einer der ganz und gar nicht geheimen Geheimfavoriten in diesem Jahr ist. Leviathan war ein starker Film, und wenn der Russe in dieser Art weitermacht, ist ihm eine Palme sicher.
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Sympathisch ist aber auch Zvyagintsev nicht. Wie leider die allermeisten russischen Regisseure schwitzt er das Bewusstsein der eigenen Bedeutsamkeit aus allen Poren und wirkt hochgradig eingebildet. »He is full of shit, full of himself« heißt das im Cannes-Deutsch. Wo immer man ihn erlebt, gibt er den Großregisseur. Der Schatten Tarkowskijs ist offenbar lang.
Nil berichtet von ihrem Zvyagintsev-Interview vor zwei Jahren: Sobald das Tonband aus war, habe da der Russe über seinen Kollegen/Konkurrenten Alexander Sokurov gelästert. Bei ihm sei es ja nicht so, dass er von der Regierung so leicht Geld bekäme. Sokurov hingegen habe, als ihm bei Faust das Geld ausgegangen sei, einfach nur bei seinem Freund Putin angerufen, der ein paar Oligarchen organisiert habe, und bald habe Sokurov nur so im Geld geschwommen.
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Ist die Filmkunst männlich? Muss wohl so sein, denn von den 19 Filmen stammen nur drei von Regisseurinnen. Mag aber schon sein, dass das ungefähr dem Verhältnis der Filmemacher-Geschlechter entspricht, und gegen Quoten bin ich auch.
Auch bei uns Kritikern saßen diesmal fast nur Männer. Gewettet wird dann auf die Goldene Palme, 5 Euro in den Topf, the winner takes it all. Die Wetten haben wieder keine klaren Favoriten. Ich wette auf den schwedischen Beitrag von Ruben Östlund. Dieser
Regisseur ist gleichzeitig intelligent und sehr humorvoll, eine seltene Kombination – und ihm könnte eine Überraschung gelingen. Frédéric Jaeger wettet auf Haneke. Ich hätte nichts dagegen, dass der dann für eine ganze Weile der einzige Regisseur mit drei goldenen Palmen sein würde. Michael Kienzl setzt auf Coppola. Der einzige Filmemacher, der zwei Wett-Stimmen auf sich vereint, ist der Ungar Kornel Mundrucso. Ich fand dessen Filme bisher immer zu prätentiös, und kann auch
nicht glauben, dass das eher uninteressante Filmland Ungarn, jetzt nach dem lucky punch der Berlinale gleich einen zweiten internationalen Hauptpreis gewinnen wird.
Worauf ich mich freue, ist auch so eine Frage. Freuen tue ich mich auf einige Filme: Im Wettbewerb besonders auf Sofia Coppola, auf Naomi Kawase, auf Ruben Ostlund, und auf den neuen Haneke ganz besonders.
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Worum sich die Gespräche dann auch noch drehen: Irgendwie kommt das Gespräch auf den Segen der Zweierbeziehung. Ist Zweierbeziehung romantisch, weil sie den Glauben an die eine, gültige Liebesbeziehung ausdrückt, oder ist das Romantische nicht gerade die Absage an die Zweierbeziehung, die Utopie vieler gleichzeitiger Liebesbeziehungen, und ihrer Möglichkeit. Utopie ist sie, weil dies kaum gelebt wird. Lukas zitierte Luhmann und wirft die Frage in die Luft: »Sollten wir uns vielleicht von er Romantik verabschieden? Weil der Code nicht mehr zu unseren Leben passt?« Das sind mal Fragen, ziemlich früh bei diesem Festival.
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Weit weniger romantisch ist dann das naheliegende Reden über die Berlinale. Nicht ob Cannes jetzt besser ist, das wissen wir, sondern wie man Dieter Kosslick endlich loswerden kann, obwohl der sich mit allen Mitteln an den Job klammert. Es gibt, jenseits von uns Filmkritikern auch unter den Filmemachern in Berlin ein ziemliches Gären und Rumoren über die offene Frage der Kosslick-Nachfolge. Pläne werden geschmiedet. Aber wie das so ist in Deutschland, werden sie bisher nicht ausgeführt, und nach meiner Erfahrung ist die Gefahr groß, dass sich »der deutsche Film« wieder mal verheddert, und nichts passiert, während die Gegner – Dieter Kosslick und seine Verbündeten unter den Funktionären – längst Nägel mit Köpfen machen. Statt einfach offen zu sagen, dass man Kosslick loswerden will, und dauerhaft unüberhörbar zu protestieren und öffentlich an den Politikerpforten herumzulärmen, treiben ein paar Westentaschen-Machiavellis ihre Hinterzimmerpolitik, immer bedacht eigene Positionen nicht zu gefährden und womöglich selber Kosslicks Nachfolger zu werden. So spielt man dem Gegner in die Hände.
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Gottlob kann man im Raumschiff Cannes aber die Mühen der Ebene der deutschen Filmpolitik wenigstens ein paar Tage vergessen. Einen interessanten Einfall hatten dieses Jahr die Freunde vom Filmkrant, dem besten niederländischen Filmmagazin. In der erste Ausgabe ihres Cannes-Blogs. Da listen die drei Kritiker Filme nach drei Kategorien: 1. Die höchsten Erwartungen, 2. die niedrigsten Erwartungen, und 3. Der neue »Raw«, also die neue Entdeckung, so wie es im letzten Jahr der Semaine-Film von Julia Decourneau gewesen ist.
Die höchsten Erwartungen gelten Haneke und Coppola – das ist kaum überraschend; dem Griechen Yiorgos Lathimos und dem Schweden Ruben Östlund – das verstehe ich gut; und Lynn Ramsey, was ich schon sehr erstaunlich finde. Die niedrigsten Erwartungen hat das Filmkrant-Team für Rodin von Jacques Doillon, Begründung: Filme über Künstler sind selten gut. Das stimmt, denken wir nur
an den Reinfall mit Paula in Locarno. Und französische Filme seien wie Deutsche in Berlin und italienische in Venedig. Das kann man meiner Meinung nach nicht miteinander vergleichen. Über Italiener in Venedig geht nix. Dann Aus dem Nichts von Fatih Akin. Begründung: Der Reinfall mit The Cut. Von Tschick haben Ronald und Kees offenbar nichts gehört. Auch von Abel Ferrara und Michel Hazanavizius versprechen sich die Holländer nichts.
Entdeckungen vermuten sie gleich dreimal in der Semaine. Man versteht holländisch ganz gut, wenn man es laut liest und in diesem Fall lohnt auch die
radebrechende Übersetzungshilfe im Netz.
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Mit in der Holländer-WG wohnt auch noch Berent Johan, der kurz über den Eröffnungsfilm lästerte und dann mit mir lieber über Fußball redet: Nach 18 Jahren ist sein (und mein niederländischer) Lieblingsclub Feyenoord Rotterdam am Samstag endlich wieder niederländischer Fußballmeister geworden. »Trotzdem« so Berent Johan, »müssen wir nächsten Mittwoch Fußball gucken und Ajax Amsterdam im EuroLeague-Finale gegen Manchester United unterstützen. Wir sind ein so kleines Land, da müssen wir auch mit dem Erzfeind Amsterdam, dem holländischen Bayern München, zusammenhalten.«
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Einen verlässlichen, in der Orientierung an Qualität klar überdurchschnittlich guten Querschnitt des Festivals, bieten alle Jahre wieder zwei großartige, einander ergänzende, ebenso bewährte, wie unnachahmliche Kritikerspiegel, bei denen ausgewählte Kollegen mit Punkten oder Kreuzchen Schnellwertungen abgeben. Bei beiden mache ich auch selber mit. Das ist natürlich eher ein Spiel, freilich ein ernstes, und ersetzt auf keinen Fall echte Filmkritik. Die Beurteilung der Filme mag sich auch im Rückblick schon nach Stunden nochmal ändern. Das nur als Warnung an alle Leser, es nicht zu ernst zu nehmen. Aber unsere Wertungen geben all jenen, die nicht hier dabei sein können, doch eine erste Orientierung, wie die Filme ankommen.
Bei critic.de sind es in erster Linie deutschsprachige Kollegen, bei »todaslascriticas«, das der Argentinier Diego Lerer organisiert, sind es mehr Teilnehmer und viele sind internationaler verteilte. Die allermeisten aber kommen aus Spanien und Lateinamerika, sind also spanische Muttersprachler. Und nicht alle hier sind Filmkritiker.
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Dass ich Marion Cotillard nicht mal zehn Prozent so attraktiv finde, wie viele anderen, das fällt wahrscheinlich noch unter Geschmack. Dass alle, die mit ihr persönlich zu tun haben, immer nur das gleiche berichten, nämlich, dass sie eine extrem anstrengende, unangenehme Person ist, das finde ich, kann man sehen. Es fällt aber unter zu viel Insiderwissen. Dass Cotillard aber keine gute Schauspielerin ist, ist eine objektive Tatsache. Man sieht es einfach.
Im gestrigen Eröffnungsfilm von Arnaud Desplechin spielt sie die verschollene Frau des Titelhelden, die nach 21 Jahren aus dem Reich der Toten wiederkehrt.
Marion Cotillard ist ganz passend für die Rolle der Carlotta, das Schöne an diesem Auftritt ist, dass sie eine entsetzliche Figur spielt, und allein wenn man in die voller Entsetzen aufgerissenen Augen schaut, mit der Charlotte Gaisbourg hier mehr als einmal auf sie blickt, fragt man sich, ob dass der Figur gilt, oder nicht
doch eher der Schauspielerin.
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Mag der Regisseur seine Schauspielerin, oder hat Arnaud Desplechin die Cotillard hier trickreich eingesetzt. »Ich muss kotzen, wenn ich sie sehe.« »Ich möchte auf Dich kotzen.« – mindestens dreimal sagt das jemand im Film zu Cotillards Figur, einmal erzählt sie über ihren Ex-Mann »He vomitted on me, he vomitted blood.« Es wird gesagt, dass sie schlecht rieche. Wenn wir ans Kino als an eine Sprache des Unbewussten glauben, ist Derartiges in seiner Häufung nicht
bedeutungslos.
Wenn man Desplechins Filme kennt, dann kann man nicht glauben, dass der Regisseur es nicht affektiert findet, wenn sie mit breitem, »verträumten« Grinsen in der Wohnung tanzt, dass die Figur nicht nerven soll, wenn sie in das Leben von Ismael und Sylvia eindringt, und es beinahe zerstört.
Ich gebe zu, ich kann nicht davon absehen, dass ich diese Schauspielerin einfach nicht ertrage.
(to be continued)