70. Filmfestspiele Cannes 2017
Wird der Kinotempel Cannes noch zum Totengräber des Kinos? |
||
Okja, der erste von zwei Netfix-Filmen in diesem Jahr in Cannes | ||
(Foto: Netflix) |
»Le present, c'est de la merde!«
Der Regisseur Ismael in Les Fantomes D’Ismael
+ + +
Die Meldungen sind wieder einmal vollkommen übertrieben – und man fragt sich, ob so etwas eigentlich absichtlich geschieht, als eine Art Guerilla-Marketing des Filmfestivals oder der Online-Portale, die auch im Click-Wettbewerb jeden Anstand verlieren. Oder ob manche deutschen Berichterstatter einfach viel zu früh aus dem Kino gegangen sind. Jedenfalls wurde nichts »abgebrochen« bei der Pressevorführung des Films Okja in Cannes am
Freitagmorgen.
Die Vorführung wurde kurz nach Anfang nach Zwischenrufen und Buhs im Saal unterbrochen, neu gestartet und dann problemlos zuende gebracht. Ob die Buhrufe wirklich dem Logo von »Netflix« galten, oder nicht einfach dem erkennbar falschen Projektionsformat, darüber kann jeder seine eigenen Vermutungen anstellen.
+ + +
Trotzdem berichtet GMX unter Berufung auf Spiegel-Online, die Pressevorführung von »Okja« sei »abgebrochen« worden. Beim Spiegel-Online selbst schreibt zumindest Hannah Pilarzcyk um 16.38 dagegen ganz ausgewogen. Trotzdem spricht die Schlagzeile dann von einem »PR-Debakel für Netflix« – wovon im Text an keiner Stelle die Rede ist. Auch bei »Blickpunkt Film« ist von Buhs gegen Netflix die Rede. Aber dieses Medium steht nicht für ernsthafte Berichterstattung, sondern für billige Gefälligkeitstexte für die Industrie. Darüber muss man also nicht nachdenken.
+ + +
Diese Berichterstattung und ihre Aufnahme aber passen ins Bild eines nervösen Festivals im sicherheitstechnischen Ausnahmezustand, bei dem so manches aus an den ersten Tagen aus dem Ruder gerät. Die Anti-Terror-Abwehr beim Filmfestival von Cannes ist in diesem Jahr noch weiter verstärkt worden: Keine Festivaltasche, kein Kritikercomputer kommt ungefilzt ins Festivalpalais, Getränkeflaschen müssen wie am Flughafen aus Prinzip abgegeben werden und über dem Festival sollen Polizeidrohnen eventuelle Angriffe aus der Luft abwehren.
Gegenüber solchen – komplett übertriebenen, zudem nur als Vorwand im Fall des Falles dienenden (aber zu alldem ein andermal ausführlicher) – Hochsicherheitsmaßnahmen, die das Festivalpalais in den letzten Jahren in eine Art Bunker verwandelt haben, ist das Kino selbst vielerlei Attacken vollkommen ungeschützt ausgesetzt. An Zuschauer, die Kinokunst auf Handys konsumieren, hat man sich ebenso gewöhnt, wie an Piratenseiten, von denen man mit technischen Minimal-Kenntnissen das komplette Filmerbe herunterladen kann, wenn auch in relativ schlechter Bildqualität und gelegentlich mit russischen Untertiteln. Neu aber sind die Angriffe, die dem Kino jetzt aus dem Herz der Filmindustrie selbst drohen. Sogar das Festival von Cannes, eigentlich eine Art Vatikan des Autorenfilms, ist jetzt halb ungewollt, halb in vollem Bewusstsein zum Handlanger jener Internet-Streamingsdienste geworden, die mit Dumpingpreisen auf die Billigmentalität des breiten Publikums zielen, und »Filmpakete« per Flatrate anbieten, wie die Ballermann-Kneipen das Komasaufen.
+ + +
Der Schurke im Spiel heißt Netflix, mit fast 100 Mio. zahlender Kunden Marktführer unter den Online-Streamingdiensten der Welt und gefürchtet von eingesessenen Filmstudios wie von Fernsehsendern. Seine servilen Knechte sind Stars wie Tilda Swinton und Dustin Hoffman, Emma Thompson und Jake Gyllenhaal. Sie spielen in den neuen, in den USA gedrehten Filmen des New Yorkers Noah Baumbach und des Koreaners Bong Joon-ho, die im diesjährigen Wettbewerb von Cannes gezeigt werden. Und weil das renommierte Festival seine Pforten diesen erklärten Feinden des Kinos allem Anschein nach recht unbedacht und widerstandslos geöffnet hat, wird es jetzt selbst von vielen dafür kritisiert. Ist Cannes mit dieser Auswahlpolitik nicht am Ende das trojanische Pferd der amerikanischen Streaming-Dienste? Andererseits: Warum eigentlich gibt es jetzt diesen Aufschrei? Denn auch Amazon produziert neben Serien schon seit einiger Zeit auch Spielfilme – bereits 2016 hatten welche in Cannes Premiere.
Der Unterschied ist allerdings eklatant: Denn während die Amazon-Filme vor ihrer Verfügbarkeit im Internet ganz normal im Kino ausgewertet werden, was bedeutet, dass sie in Frankreich nach dem Kinostart drei Jahre lang (!!), 36 Monate nicht in legalen Online-Portalen jeder Art gezeigt werden dürfen, möchte Netflix seine Filme gar nicht im Kino zeigen, sondern »noch dieses Jahr auf Netflix verfügbar« machen, wie die Hofschranzen der Pressestelle jubilieren.
Die Gefahr, die dem Kino damit droht, ist klar: Mit immer attraktiveren Angeboten im Netz will man die Zuschauer abziehen; sie sollen den Kinobesuch verlernen, und die Spielstätte Kino austrocknen. Hier geht es also nicht etwa um die Weh-Klagen eingesessener Monopolisten gegen einen neuen pfiffigen Konkurrenten, auch nicht um freien Wettbewerb innerhalb eines bestimmten Mediums, sondern darum, dass hier das eine Medium durch ein anderes bekämpft wird – macht sich der Kinotempel Cannes damit nicht zum Totengräber des Kinos?
+ + +
Der Pressekrieg tobt schon seit ein paar Tagen. Und Netflix zieht alle Register: Kurz vor der Cannes-Premiere hat Bong Joon-hoo jetzt wie auf Bestellung die Zusammenarbeit mit Netflix und die künstlerische Freiheit gelobt. Allerdings auf eine verräterische Weise, die für Netflix zum subtilen PR-Debakel geraten ist: Es habe nur eine einzige Bedingung der Netflix-Geldgeber gegeben: »Eigentlich wollten mein Kameramann Darius Khondji und ich den Film auf 35mm drehen,« erzählte Bong dem US-Branchenmagazin Variety, »aber Netflix insistierte darauf, dass alle Netflix-Originale ausschließlich digital auf 4k gedreht und archiviert werden müssten.« So viel zur künstlerischen Freiheit.
+ + +
Es geht bei diesem Thema allerdings auch nur nebenbei um künstlerische Freiheit für jene paar Filmemacher, die für derartige Prestigeprojekte jetzt von Netflix paradiesische Produktionsbedingungen erhalten – für solche Bedingungen braucht übrigens gerade Bong kein Netflix; der heiß gehandelte Koreaner könnte mit jedem Filmstudio der Welt arbeiten.
Es geht darum, was Netflix mit solchen Projekten bewirken möchte. Nutzen sie dem Kino? Bringen sie Menschen dazu, sich für dieses Medium und seine Geschichte zu begeistern? Oder wollen sie nur das neue Massenmedium Streaming attraktiv machen, und das Publikum zu einem Abonnement bewegen. Dieses Monatsabonnement kostet weniger als eine einzige Kinokarte. Wer sich für fairen Kaffee, ein Biosiegel bei der Milch und regionale Produktion beim Entrecote interessiert kann vernünftigerweise auch nicht guten Gewissens ein Netflix-Abonnement abschließen.
+ + +
Immerhin kündigen Netflix-Manager seit Jahren dem Kino den Krieg an, und behaupten, man müsse, um gute Filme zu sehen, nicht mehr außer Haus gehen. Kino und Fernsehen seien dem Untergang geweiht, verkündete Netflix-Chef Reed Hastings höhnisch bei einem Auftritt 2015. Inzwischen ist er vorsichtiger. Aber weiterhin sieht Hastings sich als Führer einer »Medien-Revolution«.
Die Erfahrung lehrt, dass von Revolutionen dieser Art nichts Gutes kommt. Die Partei, die es heute für nötig hält Leitkultur-Debatten zu führen, hat die vorhandene Kultur der deutschen Gesellschaft durch die Einführung des Privatfernsehens einem kontinuierlichen Niedergangsprozeß ausgesetzt.
Das Festival von Cannes möchte in dieser Revolution jedenfalls nicht die sturmreife Bastille spielen – bereits vor ein paar Tagen hat man die Aufnahmeregeln in Cannes verschärft. Im kommenden Jahr dürfen nur noch Filme auf dem Festival laufen, die sich zu einem regulären Kinostart verpflichten.
(to be continued)