19.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Wird der Kino­t­empel Cannes noch zum Toten­gräber des Kinos?

Okja
Okja, der erste von zwei Netfix-Filmen in diesem Jahr in Cannes
(Foto: Netflix)

Kampf der Giganten: Netflix gegen das Kino und das Festival von Cannes als trojanisches Pferd auf dem Schlachtfeld der Medien, 4. Folge – von Rüdiger Suchsland

Von Rüdiger Suchsland

»Le present, c'est de la merde!«
Der Regisseur Ismael in Les Fantomes D’Ismael

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Die Meldungen sind wieder einmal voll­kommen über­trieben – und man fragt sich, ob so etwas eigent­lich absicht­lich geschieht, als eine Art Guerilla-Marketing des Film­fes­ti­vals oder der Online-Portale, die auch im Click-Wett­be­werb jeden Anstand verlieren. Oder ob manche deutschen Bericht­erstatter einfach viel zu früh aus dem Kino gegangen sind. Jeden­falls wurde nichts »abge­bro­chen« bei der Pres­se­vor­füh­rung des Films Okja in Cannes am Frei­tag­morgen.
Die Vorfüh­rung wurde kurz nach Anfang nach Zwischen­rufen und Buhs im Saal unter­bro­chen, neu gestartet und dann problemlos zuende gebracht. Ob die Buhrufe wirklich dem Logo von »Netflix« galten, oder nicht einfach dem erkennbar falschen Projek­ti­ons­format, darüber kann jeder seine eigenen Vermu­tungen anstellen.

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Trotzdem berichtet GMX unter Berufung auf Spiegel-Online, die Pres­se­vor­füh­rung von »Okja« sei »abge­bro­chen« worden. Beim Spiegel-Online selbst schreibt zumindest Hannah Pilarzcyk um 16.38 dagegen ganz ausge­wogen. Trotzdem spricht die Schlag­zeile dann von einem »PR-Debakel für Netflix« – wovon im Text an keiner Stelle die Rede ist. Auch bei »Blick­punkt Film« ist von Buhs gegen Netflix die Rede. Aber dieses Medium steht nicht für ernst­hafte Bericht­erstat­tung, sondern für billige Gefäl­lig­keits­texte für die Industrie. Darüber muss man also nicht nach­denken.

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Diese Bericht­erstat­tung und ihre Aufnahme aber passen ins Bild eines nervösen Festivals im sicher­heits­tech­ni­schen Ausnah­me­zu­stand, bei dem so manches aus an den ersten Tagen aus dem Ruder gerät. Die Anti-Terror-Abwehr beim Film­fes­tival von Cannes ist in diesem Jahr noch weiter verstärkt worden: Keine Festi­val­ta­sche, kein Kriti­ker­com­puter kommt ungefilzt ins Festi­val­pa­lais, Geträn­ke­fla­schen müssen wie am Flughafen aus Prinzip abgegeben werden und über dem Festival sollen Poli­zei­drohnen even­tu­elle Angriffe aus der Luft abwehren.

Gegenüber solchen – komplett über­trie­benen, zudem nur als Vorwand im Fall des Falles dienenden (aber zu alldem ein andermal ausführ­li­cher) – Hoch­si­cher­heits­maß­nahmen, die das Festi­val­pa­lais in den letzten Jahren in eine Art Bunker verwan­delt haben, ist das Kino selbst vielerlei Attacken voll­kommen unge­schützt ausge­setzt. An Zuschauer, die Kinokunst auf Handys konsu­mieren, hat man sich ebenso gewöhnt, wie an Pira­ten­seiten, von denen man mit tech­ni­schen Minimal-Kennt­nissen das komplette Filmerbe herun­ter­laden kann, wenn auch in relativ schlechter Bild­qua­lität und gele­gent­lich mit russi­schen Unter­ti­teln. Neu aber sind die Angriffe, die dem Kino jetzt aus dem Herz der Film­in­dus­trie selbst drohen. Sogar das Festival von Cannes, eigent­lich eine Art Vatikan des Autoren­films, ist jetzt halb ungewollt, halb in vollem Bewusst­sein zum Hand­langer jener Internet-Strea­ming­sdienste geworden, die mit Dumping­preisen auf die Billig­men­ta­lität des breiten Publikums zielen, und »Film­pa­kete« per Flatrate anbieten, wie die Baller­mann-Kneipen das Koma­saufen.

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Der Schurke im Spiel heißt Netflix, mit fast 100 Mio. zahlender Kunden Markt­führer unter den Online-Strea­ming­diensten der Welt und gefürchtet von einge­ses­senen Film­stu­dios wie von Fern­seh­sen­dern. Seine servilen Knechte sind Stars wie Tilda Swinton und Dustin Hoffman, Emma Thompson und Jake Gyllen­haal. Sie spielen in den neuen, in den USA gedrehten Filmen des New Yorkers Noah Baumbach und des Koreaners Bong Joon-ho, die im dies­jäh­rigen Wett­be­werb von Cannes gezeigt werden. Und weil das renom­mierte Festival seine Pforten diesen erklärten Feinden des Kinos allem Anschein nach recht unbedacht und wider­standslos geöffnet hat, wird es jetzt selbst von vielen dafür kriti­siert. Ist Cannes mit dieser Auswahl­po­litik nicht am Ende das troja­ni­sche Pferd der ameri­ka­ni­schen Streaming-Dienste? Ande­rer­seits: Warum eigent­lich gibt es jetzt diesen Aufschrei? Denn auch Amazon produ­ziert neben Serien schon seit einiger Zeit auch Spiel­filme – bereits 2016 hatten welche in Cannes Premiere.

Der Unter­schied ist aller­dings eklatant: Denn während die Amazon-Filme vor ihrer Verfüg­bar­keit im Internet ganz normal im Kino ausge­wertet werden, was bedeutet, dass sie in Frank­reich nach dem Kinostart drei Jahre lang (!!), 36 Monate nicht in legalen Online-Portalen jeder Art gezeigt werden dürfen, möchte Netflix seine Filme gar nicht im Kino zeigen, sondern »noch dieses Jahr auf Netflix verfügbar« machen, wie die Hofschranzen der Pres­se­stelle jubi­lieren.

Die Gefahr, die dem Kino damit droht, ist klar: Mit immer attrak­ti­veren Angeboten im Netz will man die Zuschauer abziehen; sie sollen den Kino­be­such verlernen, und die Spielstätte Kino austrocknen. Hier geht es also nicht etwa um die Weh-Klagen einge­ses­sener Mono­po­listen gegen einen neuen pfiffigen Konkur­renten, auch nicht um freien Wett­be­werb innerhalb eines bestimmten Mediums, sondern darum, dass hier das eine Medium durch ein anderes bekämpft wird – macht sich der Kino­t­empel Cannes damit nicht zum Toten­gräber des Kinos?

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Der Pres­se­krieg tobt schon seit ein paar Tagen. Und Netflix zieht alle Register: Kurz vor der Cannes-Premiere hat Bong Joon-hoo jetzt wie auf Bestel­lung die Zusam­men­ar­beit mit Netflix und die künst­le­ri­sche Freiheit gelobt. Aller­dings auf eine verrä­te­ri­sche Weise, die für Netflix zum subtilen PR-Debakel geraten ist: Es habe nur eine einzige Bedingung der Netflix-Geldgeber gegeben: »Eigent­lich wollten mein Kame­ra­mann Darius Khondji und ich den Film auf 35mm drehen,« erzählte Bong dem US-Bran­chen­ma­gazin Variety, »aber Netflix insis­tierte darauf, dass alle Netflix-Originale ausschließ­lich digital auf 4k gedreht und archi­viert werden müssten.« So viel zur künst­le­ri­schen Freiheit.

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Es geht bei diesem Thema aller­dings auch nur nebenbei um künst­le­ri­sche Freiheit für jene paar Filme­ma­cher, die für derartige Pres­ti­ge­pro­jekte jetzt von Netflix para­die­si­sche Produk­ti­ons­be­din­gungen erhalten – für solche Bedin­gungen braucht übrigens gerade Bong kein Netflix; der heiß gehan­delte Koreaner könnte mit jedem Film­studio der Welt arbeiten.

Es geht darum, was Netflix mit solchen Projekten bewirken möchte. Nutzen sie dem Kino? Bringen sie Menschen dazu, sich für dieses Medium und seine Geschichte zu begeis­tern? Oder wollen sie nur das neue Massen­me­dium Streaming attraktiv machen, und das Publikum zu einem Abon­ne­ment bewegen. Dieses Monats­abon­ne­ment kostet weniger als eine einzige Kinokarte. Wer sich für fairen Kaffee, ein Biosiegel bei der Milch und regionale Produk­tion beim Entrecote inter­es­siert kann vernünf­ti­ger­weise auch nicht guten Gewissens ein Netflix-Abon­ne­ment abschließen.

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Immerhin kündigen Netflix-Manager seit Jahren dem Kino den Krieg an, und behaupten, man müsse, um gute Filme zu sehen, nicht mehr außer Haus gehen. Kino und Fernsehen seien dem Untergang geweiht, verkün­dete Netflix-Chef Reed Hastings höhnisch bei einem Auftritt 2015. Inzwi­schen ist er vorsich­tiger. Aber weiterhin sieht Hastings sich als Führer einer »Medien-Revo­lu­tion«.

Die Erfahrung lehrt, dass von Revo­lu­tionen dieser Art nichts Gutes kommt. Die Partei, die es heute für nötig hält Leit­kultur-Debatten zu führen, hat die vorhan­dene Kultur der deutschen Gesell­schaft durch die Einfüh­rung des Privat­fern­se­hens einem konti­nu­ier­li­chen Nieder­gangs­prozeß ausge­setzt.

Das Festival von Cannes möchte in dieser Revo­lu­tion jeden­falls nicht die sturm­reife Bastille spielen – bereits vor ein paar Tagen hat man die Aufnah­me­re­geln in Cannes verschärft. Im kommenden Jahr dürfen nur noch Filme auf dem Festival laufen, die sich zu einem regulären Kinostart verpflichten.

(to be continued)