20.04.2017
Cinema Moralia – Folge 155

Film­rausch in Berlin...

Filmrausch Berlin
Ein wunderschönes Kino...

Moritz de Hadeln als Berlinale-Ehrenpräsident, und Dieter Kosslick als neuer Ratzinger – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 155. Folge

Von Rüdiger Suchsland

In eigener Sache: Mindes­tens dreimal ist »Hitlers Hollywood« noch in Berlin zu sehen: Jeweils 18 Uhr am 24.4., 25.4. und 26.4.im wieder­eröff­neten »KlickKino« in Char­lot­ten­burg. Am Mittwoch dann mit einem Regis­seurs­ge­spräch. Kommet zuhauf!

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Aus dem Stol­per­netz: Über Erna Samuel ist auf die Schnelle nicht viel zu erfahren. Sie war eine Berliner Lehrerin an der jüdischen Schule in der Rykestraße und am Auer­bach­schen Waisen­haus in der Schön­hauser Allee. Ab 1942 wurden Schü­le­rinnen und Lehre­rinnen der Jüdischen Schule in der Choriner Straße unter­ge­bracht. Samuel wurde 1895 geboren und am 29. November 1942 nach Auschwitz depor­tiert, wo sie ermordet wurde.
Für Ellen Epstein hinge­gegen gibt es einen Wikipedia-Eintrag. Sie war eine erfolg­reiche Pianistin. Geboren 1898 in Breslau spielte sie seit 1920 auf Tourneen und war Teil der Berliner Kunst­szene. Im Oktober 1942 wurde Epstein depor­tiert. Dann verliert sich ihre Spur.
Liest man weiter, stößt man auf ein Mitglied ihres Trans­portes: Der zehn­jäh­rige Gert Rosenthal, der jüngere Bruder von Hans Rosenthal, dem späteren Quiz­master, den meine Gene­ra­tion wohl vor allem als »Dalli-Dalli«-Confe­ren­cier kennt.
Rosenthal, Jahrgang 1925, musste im Dritten Reich Zwangs­ar­beit leisten, unter anderem als Toten­gräber, seine komplette Familie wurde vom Staat ermordet. Im März 1943 tauchte er in einer Berliner Klein­gar­ten­an­lage unter, und lebte zwei Jahre unter ständiger Todes­ge­fahr, mit Hilfe dreier nicht­jü­di­scher Berli­ne­rinnen.

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Nach Erna Samuel und Ellen Epstein sind die beiden Straßen im Gewer­be­ge­biet am Berliner Westhafen benannt, wo sich einst der Moabiter Güter­bahnhof befand, von dem über 32.000 Berliner Juden in die Vernich­tungs­lager depor­tiert wurden. Ich ging die Straßen gestern zum ersten Mal von der S-Bahn-Station »Westhafen« zur Lehrter Straße. Dort liegt der »Film­rausch­pa­last« ein wunder­schönes Kino mit groß­ar­tigem Programm.
Die Leinwand dieses Kinos ist leicht rund geschwungen, es gibt weiche Polster-Sitze für 40 Leute und Stühle zum Aufstellen für den Fall, das mehr kommen. Im Kino wärmt ein Ofen, und vor dem Film bringt einer noch Holz rein.
Es laufen Trailer für Guillermo del Toro. Man zeiht konse­quent Original mit Unter­ti­teln, und mehrfach im Monat 35mm Kopien. Zu Ostern lief »Rocker« und »Mädchen mit Gewalt«

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Viermal trat Ilse Werner in den 70er Jahren bei »Dalli Dalli« auf. Werner war einer der Super­stars des Dritten Reichs. Persön­lich eher naiv und nicht kompro­mit­tiert, schau­spie­le­risch und in ihrer Ausstrah­lung zu Höherem berufen, gehörte sie doch zur ersten Liga der Durch­halte-Schla­ger­sänger. Man wüsste gern, was Hans Rosenthal sich wohl so gedacht hat, und wie sehr ihm zum Mitsummen zumute war.

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Zwei Filmtipps für Berliner, die den Weg nicht nach Moabit finden: Beim jetzt begin­nenden Festival »Achtung Berlin«, das vor allem den Programm­kinos Konkur­renz macht, laufen mindes­tens zwei inter­es­sante Filme: Der eine ist der Spielfilm Mandy – das Sozi­al­drama, das Debüt von Aron Craemer. Er hat am Samstag den 22. um 19.45 im Babylon Mitte seine Welt-Premiere.
Darin geht es um eine Regis­seurin, die einen Low Budget Film drehen will: »Sie castet einen Stab, der sich ohne Bezahlung für nichts zu schade ist. Mandy selbst spielt im Film eine junge Frau aus dem Ghetto. Sie braucht Geld, um für sich, ihre behin­derte Schwester Jaqueline, ihre türkische Freundin Nurgül und ihren drogen­dea­lenden Lover Matratze ein neues Leben zu ermög­li­chen: am Meer! Doch genauso wie hinter den Kulissen muss Mandy hart und mit allen Taschen­spie­ler­tricks für ihren Traum kämpfen …Mandy – Das Sozi­al­drama ist eine böse Komödie. Ein No-Budget-Monu­men­tal­film mit Gesang, Tanz und Martial Arts. Ein Film, der gleich­zeitig Spaß macht und weh tut.« (Produk­ti­ons­mit­tei­lung)
Im Doku­men­tar­film­wett­be­werb läuft der beein­dru­ckende »Dil Leyla« von Aslı Özarslan, der bereits auf der IDFA in Amsterdam und in Saar­brü­cken beim Max-Ophüls-Festival lief. Der Film erzählt die Geschichte der deutsch-türkisch-kurdi­schen Poli­ti­kerin Leyla Imret, die mit 26 Jahren die jüngste Bürger­meis­terin der Türkei wurde. Derzeit wurde sie, wie viele kurdische Akti­visten von der Türkei unter Haus­ar­rest gestellt und ist nicht zu erreichen.
Die Regis­seurin beglei­tete Leyla aus Deutsch­land in die Türkei, beob­ach­tete ihren Wahlkampf, ihre Arbeit als Bürger­meis­terin bis zu ihrer Verhaf­tung und der brutalen Zers­törung ihrer Heimat­stadt Cizre durch die türkische Armee. Ein exzel­lentes Portrait über die derzei­tige depri­mie­rende Lage in der post-demo­kra­ti­schen Türkei. »Dil Leyla« ist Asli Özarslans Diplom­film an der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg.

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Going in Style – so heißt ein Film, der letzte Woche in die Kinos kam. Einen Abgang mit Stil würde man auch dem derzei­tigen Direktor der Berlinale wünschen. Drei Wochen ist es jetzt her, da meldete die Berliner Presse, dass das Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium derzeit über einen neuen Berlinale-Leiter verhan­delt. Dieter Kosslicks Abgang schien beschlos­sene Sache, dessen Bekannt­gabe nur noch eine Frage von Stunden zu sein.
Das bleierne Schweigen seitdem erregt Verdacht. Offenbar klammert sich Dieter Kosslick an seinen Posten und mobi­li­siert noch einmal all seine Batail­lone, die ihm dabei helfen können.
Allein diese Gerüchte zeigen es: Zur Stil- und Geschmack­lo­sig­keit, die die Berlinale seit Jahren immer deut­li­cher prägt, kommt persön­liche Scham­lo­sig­keit: Kosslick kann und will einfach nicht loslassen, und ist darin so hart­nä­ckig, dass die schwachen Funk­ti­onäre, mit denen er es in der Regel zu tun hat, einfach die Geduld verlieren.

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Wie der deutsche Papst will Kosslick gehen, um zu bleiben. Der neue Direktor ist noch nicht entschieden, aber er weiß schon: Der Alte bleibt, und wird ihm auf der Nase herum­tanzen.
Es sagt alles über Kosslicks charak­ter­liche Struktur, dass er sich auch dafür nicht zu schade ist.
Aber stellen wir uns nur mal vor: Hätte Kosslick akzep­tiert, dass Moritz de Hadeln zu seinem Amts­an­tritt zum Berlinale-Ehren­präi­dent ernannt worden wäre?

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Es ist wie bei Merkel und Erdogan: Der türkische Minis­ter­prä­si­dent ist ein Aufsteiger mit der Härte seiner Klasse, ein Straßen­junge, der nur die Sprache der Gangs versteht. Wenn ihm gegenüber einer einen Schritt nachgibt, geht er einen weiteren Schritt voran. Darum beißt sich Merkel an ihm die Zähne aus. Nur Putin kann mit Erdogan ange­messen umgehen.
Man sollte sich deshalb auch nicht allzu sehr grämen über das zu erwar­tende »Ja« beim türki­schen Refe­rendum. Hätte es ein »Nein« gegeben, hätte Erdogan die Abstim­mung in den nächsten Monaten eben wieder­holt, und vorher noch weitere Verhaf­tungen und Haus­ar­reste vorge­nommen – bis zum erwünschten Resultat.

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Was man von den Konser­va­tiven lernen kann, ob Erdogan, Seehofer, Kosslick oder zuletzt Theresa May: Selbst­be­wusst­sein, machen, Mut haben, einfach tun, nicht zuviel abwägen, nicht Kompro­misse, nicht den Konsens suchen, nicht labern, sondern entscheiden.

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Der »Verband der deutschen Film­kritik« nahm das mutmaß­liche Auslaufen des Vertrags jetzt zum Anlass für eine Anregung: »Die Neube­set­zung der Direktion des wich­tigsten deutschen Film­fes­ti­vals bietet die seltene Möglich­keit, die Diskus­sion über die Zukunft der Berlinale zu öffnen. Eine ideale Gele­gen­heit, durch die Einbe­zie­hung verschie­denster Gruppen, die sich für die Film­kultur in Deutsch­land und der Welt enga­gieren, das künst­le­ri­sche Profil der Berlinale zu schärfen und ihre Veran­ke­rung in der inter­na­tio­nalen wie natio­nalen Filmszene zu verbes­sern.
Daher sollte eine solche Diskus­sion ohne Zeitdruck und nach einem für die Öffent­lich­keit trans­pa­renten Verfahren geführt werden.
Zudem wäre es wünschens­wert, die Kriterien zu über­prüfen, nach denen die Berlinale-Direktion besetzt wird: Ist ihr aktueller Zuschnitt noch zukunfts­taug­lich? Andere Film­fes­ti­vals wie Cannes, Venedig oder Locarno zeigen, dass eine Auftei­lung der Direktion in eine künst­le­ri­sche Leitung mit entspre­chend cine­philer Bildung und eine Geschäfts­füh­rung erfolg­ver­spre­chend sein kann.
Die Fragen, was eine gute Berlinale-Direktion ausmacht und worin die Aufgabe einer Insti­tu­tion wie der Berlinale in Zukunft besteht, verdienen eine offene und viel­stim­mige Diskus­sion und könnten den handelnden Kultur­po­li­ti­ke­rinnen und -poli­ti­kern wie der kriti­schen Öffent­lich­keit uner­war­tete Perspek­tiven aufzeigen. Einer solchen Chance darf man sich nicht ohne Not verschließen.«

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Wir sind gespannt. Der Kampf geht weiter. Der »Tages­spiegel« zitierte kürzlich Kosslicks taktische Rezepte: »Ein Netzwerk ist für mich etwas Virtu­elles, das man real anwenden muss. Man hat 500 Tele­fon­num­mern und aus diesen kann man etwas kreieren. Aber es ist jedes Mal etwas anderes.«

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(to be continued)