21.09.2017
Cinema Moralia – Folge 162

Unsere Wahl­emp­feh­lung

High and Low
Anatol Schusters Film Luft: sehr originell, überaus gelungenen, beim »First Step«-Nachwuchsfilmpreis nominiert
(Foto: Pro-Fun Media)

Wählt das Kino! Aber was heißt das...? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 162. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Geht zur Wahl. Damit die Rechten nicht zu stark werden!«
Nicolas Wacker­barth, Regisseur, am Samstag nach dem Gewinn des Film­kunst­preises in Ludwigs­hafen

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Wir werden Ihnen keine Parteien zur Wahl empfehlen, aber ich werde Ihnen sagen, wen ich nicht wähle. Zum Beispiel die SPD: Denn die SPD muss dafür, dass sie die letzte Große Koalition einging, anstatt ein Minder­heits­ka­bi­nett Merkel zu dulden, bestraft werden, sie muss auf ein Stimmen-Niveau absinken, dass sie zwingt, sich zu erneuern.
Berliner haben einen weiteren Grund, nicht SPD mit der Zweit­stimme zu wählen, aber unbedingt mit der Erst­stimme. Der Grund heißt Tim Renner. Wer den Volks­bühnen-Killer, Peymann-Abwickler und Chris-Dercon-Kumpel nicht im nächsten Parlament haben will, muss dafür sorgen, dass möglichst viele SPD-Direkt­kan­di­daten gewählt werden. Au0er natürlich in Char­lot­ten­burg. Da kandi­diert Renner.

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Wer will, dass die AfD nicht zur dritten Kraft und im wahr­schein­li­chen Fall einer neuen Großen Koalition zur »Oppo­si­tion« werden, der muss die »Linke« wählen. Denn nach Lage der Dinge haben weder FDP, noch GRÜNE eine Chance, die AfD zu über­flü­geln.

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Über epd wurde jetzt ein »Offener Brief zur Zukunft der öffent­lich-recht­li­chen Medien« verbreitet.
Rund 50 Wissen­schaftler und andere Vertreter der Zivil­ge­sell­schaft sprechen sich darin für eine Reform des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks aus. Unter anderem fordern sie, den Online-Auftrag von ARD und ZDF weiter zu fassen und den Archiv­auf­trag zu erweitern.
Das richtet sich auch direkt gegen die AfD, gegen die fana­ti­schen Wutbürger und dummen Bewohner des Tals der Ahnungs­losen, die gern »Staats­funk« sagen und »Zwangs­ge­bühren« – das sind Kampf­be­griffe, die dazu da sind, die öffent­lich-recht­li­chen Medien zu diskre­di­tieren. Als seien ARD und ZDF mit dem Fernsehen der DDR zu verwech­seln.

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Die Unter­zeichner formu­lieren trotz der Realität unseres Fern­seh­pro­gramms kühn das Gegenteil: »Gäbe es den öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk nicht, müsste man ihn gerade jetzt erfinden. Die Demo­kratie benötigt einen offenen Prozess der Meinungs­bil­dung. In diesem Prozess kommt den öffent­lich­recht­li­chen Medien eine unver­zicht­bare Rolle zu. Sie sind auch und gerade in der digitalen Medi­en­welt wichtiger denn je.«
Darum fordert der Brief eine Auswei­tung.

»Der Online-Auftrag muss weiter gefasst werden. ... Dazu gehört, dass der Auftrag von nicht mehr zeit­ge­mäßen Einschrän­kungen befreit wird, die die Erfüllung der Öffent­lich­keit stif­tenden Funktion beein­träch­tigen.
– Daher fordern wir, dass die gesetz­lich vorge­se­hene Lösch­frist für bestimmte öffent­lich-recht­liche Sendungen im Online-Angebot abge­schafft wird. Das Verbot der Pres­seähn­lich­keit entspricht – zumal in der restrik­tiven Inter­pre­ta­tion der Recht­spre­chung – nicht den Bedin­gungen der Content-Aufbe­rei­tung im Internet und muss aufge­hoben werden.
– Dann könnte auch die bisherige Diffe­ren­zie­rung zwischen sendungs­be­zo­genen und nicht sendungs­be­zo­genen Tele­me­dien mitsamt der aufwen­digen Ausweis und Nach­weis­pflicht für den Sendungs­bezug volls­tändig fallen.
– Der eng gefasste Archiv­auf­trag muss erweitert werden. Die Archive des öffent­lich-recht­li­chen Rundfunks stellen einen wert­vollen Teil des kollek­tiven Gedächt­nisses der Bundes­re­pu­blik und der öffent­li­chen Meinungs­bil­dung dar. Die bereits finan­zierten Inhalte müssen lang­fristig im Internet verfügbar sein. Die beste Möglich­keit zur Fort­ent­wick­lung eines zeit­ge­mäßen Online-Auftrags liegt darin, dass der Gesetz­geber diese unzeit­ge­mäßen Vorgaben aufgibt und die Fort­ent­wick­lung des Tele­me­di­en­auf­trags weit­ge­hend in die Hände der Anstalten legt. Der Gesetz­geber sollte sich darauf beschränken, dafür ein Verfahren bereit­zu­stellen, das sowohl die Betei­li­gung Betrof­fener als auch der Öffent­lich­keit gewähr­leistet und – unter Wahrung europäi­scher Vorgaben – deutlich unauf­wen­diger ist als der bisher vorge­se­hene Drei-Stufen-Test.
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– Zur Herstel­lung von mehr Trans­pa­renz und im Hinblick auf die heutige Kultur sollten die Gremien öffent­lich tagen, soweit es nicht um Betriebs- und Geschäfts­ge­heim­nisse geht.
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Die Grenze der Spar­po­litik ist erreicht, wenn Kürzungen auf Kosten der Auftrags­er­fül­lung und hohen Standards gehen. Daher muss die Medi­en­po­litik der vom Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt fest­ge­stellten Finan­zie­rungs­ga­rantie nach­kommen und Sorge tragen, dass die Erfüllung und notwen­dige Fort­ent­wick­lung des Auftrags finan­ziert werden kann. Als öffent­liche Auftrag­geber müssen die Anstalten zudem sicher­stellen, dass die Arbeit der Inhal­te­pro­du­zie­renden, der Urhe­be­rinnen und Urheber, ange­messen bezahlt wird. Wenn immer mehr Inhalte immer länger im Netz verbleiben, müssen diese Rechte entspre­chend vergütet werden.
Im Übrigen ist es notwendig, ange­sichts digitaler Verbrei­tungs­wege und neuer Angebote Einspar­po­ten­ziale aufzu­zeigen und dafür notwen­dige Reformen anzugehen. Kosten­spa­rende Koope­ra­tionen unter den öffent­lich­recht­li­chen Anstalten sind ganz im Sinne sparsamen Wirt­schaf­tens. Bund und Länder müssen aller­dings die (kartell-)recht­li­chen Voraus­set­zungen schaffen, damit die Anstalten die ihnen von der KEF zunehmend abver­langten Koope­ra­tionen auch vornehmen können.
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Die Erhaltung eines Verbrei­tungs­weges neben dem Internet muss gewähr­leistet werden, weil so der Zugang zu den öffent­lich-recht­li­chen Angeboten für Personen sicher­ge­stellt wird, die nicht über einen Inter­net­an­schluss verfügen. Auch unter sicher­heits­re­le­vanten Aspekten ist der terres­tri­sche Ausspielweg notwendig, um im Gefah­ren­fall über eine vom Netz unab­hän­gige Verbrei­tungs­in­fra­struktur zu verfügen.«
Zu den Unter­zeich­nern des Briefs gehören neben vielen Wissen­schaft­lern zwei Poli­ti­ke­rinnen: Julia Reda, Mitglied des Europäi­schen Parla­ments als einzige deutsche Abge­ord­nete der Pira­ten­partei, und Tabea Rößner, Bundes­tags­ab­ge­ord­nete der GRÜNEN.

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Pira­ten­partei? Gibts die noch? Oh ja. In Island stellen sie die Regierung, in anderen Ländern sind sie eine relevante Größe. Die Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung nennt sie »links­li­beral«. Das schreibt die BpB weder über die FDP noch über die GRÜNEN.
Unab­hängig vom derzeit geringen Macht­faktor drückt die Pira­ten­partei ein Lebens­ge­fühl aus, das durchaus verbreitet ist.
Und die Piraten-Abge­ord­nete Julia Reda hat Erfolge zu verbuchen. Gemeinsam mit 70 Kollegen des Euro­pa­par­la­ments hat sie einen Antrag einge­reicht, um das ziemlich unsinnige, und viele Urheber enteig­nende Leis­tungs­schutz­recht zu streichen. Dieses erschwert inno­va­tive Geschäfts­mo­delle, die die Artikel mehrerer Verlage zusam­men­bringen. Eine Reform des Urhe­ber­rechts ist von höchster Bedeutung für die nächsten zehn Jahre – sie muss und wird kommen.

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Im Berliner Tages­siegel nimmt Chris­tiane Peitz Partei für Monika Grütters. Das hört sich dann so an: »Sie kann verdammt stur sein. Und zäh. Manche nennen es auch Ungeduld. Für eine Bilanz ihrer vier Jahre als Kultur­staats­mi­nis­terin nimmt sich Monika Grütters in diesen Tagen weniger Zeit als für die Diskus­sion der Baustellen. Dazu gehören das Mammut­pro­jekt einer Struk­tur­re­form der Stiftung Preußi­scher Kultur­be­sitz, die Intendanz des Humboldt-Forums nach der Eröffnung des Schlosses und das Projekt eines zentralen Film­hauses in Berlin.
... Grütters vereint Program­matik und Pragmatik; der Gegensatz zu ihrem unmit­tel­baren Vorgänger und CDU-Partei­kol­legen Bernd Neumann könnte kaum größer sein. ... Neumann beherrschte die Kunst des Kompro­misses, suchte den Konsens. ... Grütters tickt anders. Seit Beginn ihrer Amtszeit im Dezember 2013 verfolgt die 55-Jährige eine eigene Agenda, bezieht Stellung, agitiert, argu­men­tiert, mischt sich ein. Eine Über­zeu­gungs­tä­terin. ... Seit Dezember 2016 macht sie als Berliner CDU-Landes­vor­sit­zende eher eine unglück­liche Figur, handelt oft zögerlich, wider­sprüch­lich. Umso deut­li­cher ihre Entschlos­sen­heit bei der Kultur, sie ist ihr Terrain, ihre Welt.«
Es geht um alles Mögliche in dem Text, nur um Film­po­litik geht es kaum. Auch das hat seine Gründe.

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Erste Schritte, letzte Schritte. Am Montag wurden in Berlin die »First Steps«-Preise verliehen. Seitdem spätes­tens wissen wir, dass Aylin Tezel als Mode­ra­torin ein Natur­ta­lent ist. Aber wissen wir auch, wo der deutsche Film­nach­wuchs wirklich steht?

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Echtes Kino voller Luft und Sonne, zwei junge Frauen und ihre Geschichte, die ganz und gar in Bildern erzählt wird, in erlesenem Farb­de­sign mit Musik Es geht um die Suche nach der wahren Liebe. Man kann diesen Film einfach nur spüren und genießen. Man kann mit ihm mitschwingen und sich mit jeder Pore von ihm durch­dringen lassen. Er ist ein großes Wunder, das man bestaunen muss. So entschieden schiebt er alles beiseite, was man sonst von einem Film erwartet. Ein Film wie ein Gedicht, das komplexe Zustände unseres Lebens auf die Leinwand bringt, mit allen Geschichten, Farben, Klängen und Struk­turen. Kino, das mit ganz wenig unglaub­lich viel bewegt.
Anatol Schusters Film Luft ist ein sehr origi­neller, überaus gelun­gener Film und – mit sehr wenig Etat im Saarland und in Frank­reich in pracht­voller Natur gedreht – auch eine gigan­ti­sche Produk­ti­ons­leis­tung der Münchner Film­stu­dentin Isabelle Bertolone, die für diesen Abschluss­film am Montag beim Nach­wuchs­film­preis »First Steps« nominiert war.
Ein zweites Beispiel: Julia Langhofs Lomo – ein mitunter witziges, souverän insze­niertes und sehr stil­be­wusstes Jugend­me­lo­dram ums Erwach­sen­werden, über das Netz und was es mit uns allen tut. In einer Art Coming-of-Age-Matrix führt ein Abitu­rient ein Doppel­leben als Internet-Idol und gefällt sich als Wahr­heits­ge­ne­rator für seine Umgebung. Auch Nina Vukovics Studen­ten­film Detour und das Drama Die beste aller Welten von Adrian Goiginger sind ausge­zeich­nete Beispiele für die Fähig­keiten der Nach­wuchs­filmer. Und es scheint, als ob junge, in Deutsch­land arbei­tende – aber nicht immer deutsche – Filme­ma­cher gerade unterwegs seien zu etwas Neuem. Wer wäre nicht diskret angeödet von den Dilet­tan­tismus-Etüden des soge­nannten »deutschen Mumb­le­core«, vom Lang­sam­keits­fe­ti­schismus mancher älterer Filme­ma­cher und von der Ästhetik der »Tatorte« und Fernseh-Serien – die eher Honig­fallen für Talente sind, als Start­rampen.
Es sind zum Teil ausge­zeich­nete Filme, die für die »First Steps«-Awards nominiert waren.

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Die Veran­stal­tung selbst und der etwas billige Glitter drumherum hat mit einem Nach­wuchs­preis hingegen sehr wenig zu tun und befrie­digt eher die Geschmä­cker der älteren Funk­ti­onäre.
Ein »Mercedes-Benz Driving Event« für die Nomi­nierten lockte bereits am Sonntag, nach dem »Networ­king Dinner« gab es dann noch eine »Beauty-Lounge« – kann man das eigent­lich auch anders, als auf Ameri­ka­nisch ausdrü­cken? – und einen Empfang der GALA – bestimmt ein Heft, das jeder Jung­re­gis­seur unterm Kopf­kissen liegen hat.
Mit jungen Lebens­welten hat das alles wenig zu tun, eher schon mit der Abrich­tung für ein deutsches Pseu­do­hol­ly­wood, für eine Glamour­welt, die zu den nomi­nierten Filmen in himmel­schrei­enden Wider­spruch steht.
Die wirk­li­chen Probleme beginnen ysowieso erst jetzt, nach den Preisen und nach dem aller­ersten Kinofilm.
Denn den Anfängern geht es relativ gut im deutschen Film – wirklich schwierig wird es auch für erfolg­reiche Jung­filmer, ihren nächsten Kinofilm zu stemmen, und nicht nur eine Kino-Eintags­fliege zu bleiben, sondern sich in der deutschen Filmszene zu etablieren.

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Es ist schon mehr als paradox, es ist geradezu pervers, dass immer mehr Film­hoch­schule-Plätze und Nach­wuchs­för­der­pro­gramme und -preise für viel Geld aus dem Boden gestampft werden – und die bundes­deut­sche Film­för­der­an­stalt FFA erklärt nicht einmal mehr hinter vorge­hal­tener Hand, dass es ihr am liebsten wäre, wenn viele Filme gar nicht erst gemacht würden.
Die meisten der gestern nomi­nierten Filme könnten unter normalen, nicht anfän­ger­be­güns­ti­genden deutschen Förder­be­din­gungen gar nicht entstehen, weil die Besser­wisser und Schlau­meier in den Gremien sie nicht fördern und statt­dessen in seiten­langen Papieren erklären, warum solche Filme angeblich kein Publikum finden.
Hier müsste die Noch-Staats­mi­nis­terin für Kultur, Monika Grütters ansetzen, wollte sie ihren regel­mäßigen Jubel-Pres­se­mit­tei­lungen zum deutschen Film wirklich Taten folgen lassen. Oder eine neue, hoffent­lich bessere Kultur­staats­mi­nis­terin.
Bis jetzt wird anspruchs­volles Kino schon von der Kultur­po­litik erdros­selt, und ist nurmehr unter prekären Bedin­gungen überhaupt möglich.
Man kann daher allen Wählern nur raten sich am Sonntag zu überlegen, welche der Parteien wenigs­tens ein bisschen was an der Lage des deutschen Kinos verbes­sert... Und wenn man keine findet, sollte man viel­leicht wenigs­tens die nicht wählen, die in den den letzten vier Jahren nichts besser gemacht haben.

(to be continued)