Cinema Moralia – Folge 166
Freie Fahrt für freie Filme? |
||
Herr Graf, jetzt aber keine Experimente mehr! | ||
(Foto: ARD, »Tatort« von Dominik Graf, »Der rote Schatten«) |
»Es gibt wenige so hintergedankenreiche Denker, wie die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, ... diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen.«
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Nietzsche Werke Band. 2, S. 1029)
Mehr Aufmerksamkeit verdienen die ineinander verzahnten Debatten um die Ausweitung des Telemedienauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und das Territorialprinzip in Europa. Dazu hier nur ein paar kurze Gedanken – aber auch wenn ich viele Seiten geschrieben hätte, würden manche sagen, dass ich gar nichts verstanden habe.
Arg dramatisch klingt jedenfalls das Gezeter, mit dem die deutschen Lobbys die »uferlose Ausweitung des Telemedienauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zulasten einer vielfältigen Medienlandschaft in Deutschland« beklagen. Der Haken liegt daran, dass die, die da klagen, im Prinzip komplett am Tropf der ach so bösen Fernsehsender hängen, die sie angreifen.
Hinzu kommt, dass schwer zu begreifen ist, warum die Filme, die der Bürger mit seiner Haushaltsabgabe
längst bezahlt hat, denn dann nicht diesen Bürgern in den Mediatheken auch grenzenlos zur Verfügung stehen sollen?
+ + +
Ähnlich schräg ist die Kampagne der deutschen Produzenten gegen die EU, wofür sie sogar FAZ-Autoren instrumentalisieren. Ausgerechnet jene, die immer gegen Quoten fürs europäische Kino waren und das Hohelied der freien Wirtschaft singen, fordern nun Schutzzölle und Barrieren, um deutsche Filme nicht europaweit in den Mediatheken zu haben. Aber warum soll für Filme eigentlich nicht gelten, was für alles andere in Europa gilt?
Nach der Logik der Produzenten, die auf dem Territorialprinzip beharren, könnte man auch folgern: Was der BR alleine produziert hat, soll man auch nur in Bayern sehen dürfen. Die Nordlichter sollen gefälligst extra bezahlen.
Warum gibt es eigentlich kein »Territorialprinzip« für Bayern und für das Saarland, Hessen nicht zu vergessen?
Weil Kleinstaaterei Unsinn ist! Genau!! Und die EU gibt es, um die Kleinstaaterei in Europa abzuschaffen.
+ + +
Grundsätzlich gilt einmal: Dem Bürger gehört, was er bezahlt hat. In den deutschen Filmdebatten liegt die Lösung der Funktionäre aber immer nur in einer Einschränkung der Freiheit. Im Erhalt des Status quo statt Visionen.
Die Frage darf nicht sein, wie man den freien Filmverkehr und Filmgenuss in Europa (der auch dem Zusammenhalt dienen könnte) möglichst stark weiterhin einschränken kann, die Frage müsste sein, wie die Produzenten in Zukunft im vereinigten Europa genug und
angemessenes Geld verdienen. Fällt da den deutschen Funktionären nicht etwas anders ein als Grenzen und digitaler Stacheldaht?
+ + +
Politische Hygiene überall. Kaum ist etwas interessant, muss es eingefangen werden: Tatsächlich ist die ARD ausgerechnet in den Wochen der Debatten über Gebührenverwendung und Ausweitung der Mediathekennutzung durch die Zuschauer dumm genug, sich gleich mehrere Blößen zu geben. »Schluss mit den Experimenten« lautete der Marschbefehl für die Zukunft. Offiziell begründet wurde die Order mit »Tatorten«, bei denen kein Täter überführt wurde, oder gar wie im Horrorfilm Geister auftreten. Denn diese »experimentellen« Tatort-Folgen sorgen immer wieder für Diskussionen – weshalb sie zukünftig auf zwei pro Jahr reduziert werden sollen.
Den aus dem Osten stammenden Berliner Kollegen Matthias Dell – »Der 'Tatort' wird genauso grau und mutlos werden, wie der größte Teil der vor sich routinierenden ARD-Filme und Serien schon ist« – erinnerte dies gleich an das blutige Erbe des Stalinismus. Ich würde da eher von Populismus sprechen, das ist ja fast noch schlimmer. Denn die Zuschauer in ein Umerziehungslager zu stecken, aus dem sie gehirngewaschen mit besserem Geschmack wieder herauskommen, das wäre doch etwas. ARD-Programmdirektor Volker Herres dagegen schlägt sich in seiner Presseerklärung auf die Seite all der Couch-Potatos, die schon vier Helle intus haben, wenn bei der Tagesschau die Wetterkarte kommt, sich dann wundern, wenn sie den »Tatort«-Ermittlungen nicht folgen können, und darum nur noch den Münsteraner Tatort mit Liefers und Prahl lustig finden. Oder die gleich derart grenzdebil sind, dass sie auch der Bildschirmtext in »leichter Sprache« überfordert. »Wir wollen«, so Herres »den 'Tatort' nicht kreativ beschneiden und eindampfen. Aber er muss den Markenkern des Sonntagskrimis aufrechterhalten und darf sich nicht in Spielereien verirren, die kein Zuschauer mehr versteht.«
Derartiges beweist wieder, dass die ARD selbst den »Tatort« und seinen Erfolg nicht begreift. »Tatort« war immer Experiment: Kressin, Haferkamp, Schimanski waren zu ihrer Zeit Provokationen. Es beweist auch, wie extrem kunstfern die Leitungsgremien der ARD sind – und leider finanzieren die gleichen Leute der ARD-Sender ja auch das deutsche Kino mit.
+ + +
Manches, »wovon man in Deutschland peinlicherweise immer noch glaubt, es sei 'experimentell'«, gehöre längst zur internationalen Filmsprache, sagte auch Regisseur Dominik Graf, der eine neue Langeweile befürchtet. Um Filme und Qualität beurteilen zu können, brauche es »sehr viel Kinoerfahrung und sehr präzises, objektives Stilgefühl«.
+ + +
Ob es nicht andere Gründe für den Kontrollwahn der ARD-Oberen gibt? Dominik Grafs Stuttgarter »Tatort« Der rote Schatten drehte sich um die RAF und die bekannten Spekulationen und Verschwörungstheorien, nach denen die Stammheimer Häftlinge vor vierzig Jahren vom Staat ermordet wurden.
In der »Bild«-Zeitung schimpfte Stefan Aust, nicht weniger populistisch als Herres: »Ich kann nicht verstehen, dass zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen so ein gefährlicher Unsinn verbreitet werden kann.« Mit anderen Worten: Aust versteht nicht, warum der Graf-»Tatort« nicht zensiert wurde. Um Zensur nämlich geht es. Wieder mal, wie immer bei guter Zensur, im Namen des Volkes, im Namen der Zuschauer, die die Handlung nicht verstehen oder sie moralisch, politisch nicht akzeptieren.
Willi Winkler spottete dazu angemessen im Deutschlandfunk: »Herr Aust … hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die
Vorlage geliefert für den Baller-Film Der Baader Meinhof Komplex. Also: Wer ist er, um das zu sagen?«
+ + +
Gegen die ARD-Ideen protestiert auch Michael Kötz, einst Filmkritiker und seit langem Direktor des Festivals von Mannheim-Heidelberg und des »Festival des deutschen Films« in Ludwigshafen (für die ich arbeite, um das nicht ungesagt zu lassen), fordert »Freiheit für den Tatort!« gegen »diese Haltung der Indoktrination des Publikums«, gegen die Absicht der ARD, die Freiheit der Kunst zu beschneiden und eine Obergrenze einzuführen. »Es steht in einer ganz schlechten politischen Tradition, wenn der ARD-Koordinator Jörg Schönenborn, Politologe und Journalist, mit seinem ›Kontrollkommitee‹ festlegen möchte, wann ein 'Tatort' zu experimentell sei für den Zuschauer und wie oft man ihm dies zumuten könne. Der ›Tatort‹ ist Kunst und keine soziologische Reportage. … Schönenborn … und die Koordinationsrunde der ARD werden damit zu Mithelfern einer konservativen gesellschaftlichen Rückwärtsbewegung, die sie politologisch vermutlich zugleich beklagen würden. Denn sie bestärken die Menschen darin, fremdartige ästhetische Erfahrungen so wenig zuzulassen wie manche die Fremdartigkeit zugewanderter Menschen ablehnen.«
+ + +
Zu solchen Versuchen der Kontrolle, der Zensur, der Indoktrination gehört auch ein Vorgang bei der kleinen feinen Bavaria. Gegängelt werden soll in diesem Fall zunächst die Presse, dann, mittelbar dadurch, die Öffentlichkeit. Durch das, was im Jargon »Embargo-Regelung« genannt wird.
Nachfolgendes Dokument wurde zunächst an die Pressevertreter geschickt, dann nach Protesten zurückgezogen. Aber es illustriert, welcher Geist in PR-Etagen zu oft waltet:
»Ich, [NAME EINSETZEN], nehme hiermit zur Kenntnis, dass die Inhalte aller Interviews, die am Tag des Set Visits / Pressetags für DAS BOOT geführt werden, nur in Absprache mit BAVARIA FICTION und zu einem im Vorfeld vereinbarten Termin veröffentlicht werden dürfen. Dazu zählen sowohl Roundtable-Gespräche
als auch die an diesem Tag geführten Einzelinterviews mit dem Cast und Produktionsteam.
Ohne schriftlich eingeholte Erlaubnis der BAVARIA FICTION werde ich weder Zitate, noch andere Teile der Interviews, an andere Publikationen oder Journalisten weltweit weitergeben oder verkaufen.
Weiterhin nehme ich zur Kenntnis, dass vor Ort aufgenommenes Bildmaterial nicht veröffentlicht oder verkauft werden darf. Offizielle Pressefotos werden von BAVARIA FICTION zur Verfügung
gestellt.
Ich garantiere hiermit die Einhaltung der oben genannten Punkte.«
+ + +
Lauter gute Nachrichten: In Leipzig haben sie beim Dok-Festival eine Frauenquote eingeführt. Nur für deutsche Filme. Ob das hilft? Tatsächlich geht es bei der Frage der Gleichberechtigung von Frauen nicht um Extraplätze für Frauen, egal was für schlechte Filme sie auch gedreht haben mögen (das heißt nämlich »Quote« im Klartext), sondern um viel profaners: Geld.
Einen interessanten Text schrieb dazu Gary Susman im amerikanischen »Rolling Stone«: »Where Are All the Female Filmmakers?«, fragte er. Nur neun Prozent der einnahmeträchtigsten Filme in Hollywood stammen von Frauen – ein unglaubliches Ungleichgewicht.
Regisseurinnen, so der Autor, können Produzenten gar nicht mit ihren
Erfolgen an der Kasse beeindrucken, weil sie das Geld nicht bekommen, um solche Erfolge zu erzielen.
+ + +
Wer jetzt an dieser Stelle eine weitere Fortführung der von der „Me-too-Debatte“ zur „Sexismus-Debatte“ gewordenen „Weinstein-Debatte“ erwartet, den muss ich enttäuschen. Oder zumindest vertrösten. Natürlich juckt es mich, auf die liebevollen Zeilen der »Frau von artechock« letzte Woche postwendend zu antworten. Kommt schon noch. Aber die Frau findet ja auch, dass es Wichtigeres gibt, und erstmal soll sie meinetwegen das letzte Wort haben. Sonst heißt es ja wieder…
Beruhigen können wir allerdings jenen bangen Leser, der wissen wollte, ob es wirklich nur eine einzige Frau bei artechock gäbe? Nein, es gibt mehrere Autorinnen. Und vielleicht sollten wir bald mit geschlechtsneutralen Pseudonymen arbeiten, oder ich mich Theodora Tigerin und sie sich Pedro Panther nennen, um die Leser ein wenig zu verwirren. Denn Verwirrung, da verstehe man mich nicht falsch, ist ein guter Zustand. Er hält das Hirn in Bewegung.
+ + +
Vorvorige Woche war »das Thema« dann zunächst Sujet bei »Maischberger«, nachdem die ARD die ungemein geschmackvolle Idee hatte, einen recht dünnen Fernsehfilm über einen Mann auszustrahlen, der zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt wird und daran zugrunde geht. Zu Unrecht! Das gibt es, aber was hatte das mit »Me Too« zu tun? Hannes Jaenecke spielte das Opfer und gab dann bei Maischberger den gaaanz verständnisvollen Mustermann, der seinen Geschlechtsgenossen mal so richtig die Meinung geigte. Da rutschten dann mehrere Frauen in der Runde schon etwas nervös auf den Ledersesseln.
Bei Anne Will erlebte man Freundin und Filmkritiker-Kollegin Heike-Melba Fendel, großartig wie immer und um Differenzierung bemüht, aber leider so heiser, dass sie von der ihr intellektuell nicht ebenbürtigen Sitznachbarin immer wieder unterbrochen und talkshowmäßig niedergeredet werden konnte – eine Illustration, dass Macht, nicht Testosteron böse macht.
Wenn dann so eine wie Ursula Schele (Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) dann mit ihrem halbgarem, intellektuell unterlegenen Ressentiment ein Monopol auf den Begriff »Feministin« erheben darf, dann müssen wir alle doch aufpassen, dass Feminismus nicht zum Wort wird für verbitterte, verbiesterte Männerfeindlichkeit und Verachtung aller Frauen, deren Selbstbestimmung den selbsterklärten Hohepriesterinnen der Frauenrechte nicht in den Kram passt.
Nachdem ich die Sendungen gesehen habe, verstehe ich die Wut und den Charakter des Protests schon wieder ein bisschen besser – allein die Einladungsliste, Anmoderation der Gäste und die Fragen sprachen in ihrer offenen Tendenz Bände. Und über die Kamera-Bewegungen entlang der Beine von Verona Pooth haben schon alle geschrieben. Nur waren halt für beide Sendungen Frauen leitend verantwortlich. Immerhin lädt man Alice Schwarzer nicht mehr ein, vermutlich weil sie die Talk-Shows
dann in eine Plattform für antiislamische Hetze umfunktionieren würde.
Die Tatsache, dass der von Harvey Weinstein ausgelöste öffentliche Aufruhr nun auch die ARD-Talkshows erreicht hat, zeigt aber vor allem, wie es um diese Debatte steht. Maischberger und Anne Will binnen einer Woche – das ist das Ende.
+ + +
Inhaltlich hat das »artechock – Pro&Contra« der Vorwoche zum Kinofilm Fikkefuchs ja schon alles gesagt. Im Zuge der neuesten Aufregungen erscheint der Film aber in nochmal neuem Licht: In Frankfurt und München darf nämlich mit dem dazugehörigen Filmplakat nicht geworben werden. »Zu sexistisch« heißt es.
Denn das Plakat ist eine recht abstrakte Zeichnung, die dennoch
deutlich die Konturen eines Fuchs im Schoß einer Dame zeigt.
Das ist politisch offenbar nicht korrekt genug für die Stadt Frankfurt sowie die SWM/MVG München. Beide Institutionen weigern sich, das Filmplakat auf ihren Werbeflächen zu platzieren. Motiv und Filmtitel verstoßen angeblich gegen »die guten Sitten«. Der Filmverleih Alamode Film verweist auf die Freiheit der Kunst und will das Verbot nicht akzeptieren. Bei dem Film handle es sich um ein künstlerisches Projekt und somit
Kulturgut.
(to be continued)