68. Berlinale 2018
Das Testament des Hu Bo |
||
Ende einer Flucht: Show-down über den Gleisen nach Manzhouli | ||
(Foto: Arsenal Institut / Forum Berlinale) |
Von Dunja Bialas
Endlich. Der beste Film der Berlinale. Nach mühsamen Stunden im Quasi-Schlafsaal der Forum-Pressescreenings ein Film, bei dem alle hellwach blieben. Und dies vier Stunden lang. Vielleicht war es die Ehrfurcht vor dem tragischen Lebensende des chinesischen Regisseurs Hu Bo, der sich letztes Jahr mit 29 Jahren das Leben genommen hat. Da war sein Film mit dem betörenden Titel An Elephant Sitting Still, sein erster und auch tragischerweise letzter, gerade fertig gestellt. Ein Film mit einer großen und doch stillen Wucht, ein Film, der zum Testament wurde. Es geht tatsächlich auch immer wieder um Suizid in diesem Film. Ein Mann schläft mit der Frau eines Freundes, dieser kommt hinter den Betrug, bringt sich um. Das klingt vielleicht ein bisschen platt und kurzschlussmäßig. Hu Bo aber bettet seine Handlung in ein durch und durch miserables und hoffnungsloses China größter Armut. Der Gestank des nicht abtransportieren Mülls dringt durch die schlecht isolierten Fenster der Wohnungen. Niemals ist der Himmel zu sehen, ein hellgrauer Schleier liegt über der Stadt. Wir sind in Nordchina.
Der Film erzählt im Figurenensemble, mehrere Geschichten laufen nebeneinander, werden abwechselnd fokussiert, bis sie sich verdichten, die Stränge unweigerlich zusammenlaufen. Ihr Zielpunkt: die Stadt Manzhouli, in der ein eigenartiges Kuriosum die Attraktion ist. Ein Elefant, der einfach nur dasitzt und seine Umgebung ignoriert, selbst wenn ihm Futter gebracht wird. Eine Trost spendende Anschauung inmitten der Verzweiflung, die das Leben bereithält. Und vielleicht auch role model für das Aushalten der widrigen Umstände. Hu Bos Film ist in diesem Sinne auch ein Aufbegehren gegen die Hoffnungslosigkeit, und ein Plädoyer fürs Überleben.
Bu, dessen Geschichte das Zentrum im Ensemble der anderen Erzählungen bildet, ist ein Schüler, der einen Mitschüler die Treppe hinuntergeschubst hat. Der liegt jetzt im Krankenhaus, er wird es nicht schaffen. Die Zuschauer wissen: es war Notwehr. Die Angehörigen des Schüler jedoch sprechen von Mord. Was er machen würde, fragt ihn der Bruder des Verstorbenen, als er Bu, der sich auf den Weg nach Manzhouli gemacht hat, findet, wenn er auf dem Dach eines Hochhauses stünde. Die einzige richtige Antwort wäre: Hinunterspringen. Bu aber entscheidet sich für den philosophischen Ausweg: »Nach etwas anderem suchen.« Hu Bos hat viele solcher geistesgegenwärtigen Momente.
Da gibt es noch andere Geschichten. Ohne sie jetzt alle aufzuzählen, sei gesagt, dass sie einen unrepräsentativen Querschnitt durch die chinesische Mittelklasse zeigen, der es gnadenlos schlechter geht. Ein Großvater, der ins Zweibettzimmer-Altersheim abgeschoben werden soll, damit mehr Platz für die Familie ist. Eine (fast erwachsene) Schülerin, die sich auf einen Liebschaft mit ihrem Lehrer einlässt, weil dort Ruhe ist, sie von dem Chaos zu Hause entkommt. Der Mann, der mit der Freundin seines Freundes schläft. Er ist der Bruder von Bu, der eine entscheidende Rolle spielen wird, in dem großartigen Showdown mit Blick über die Gleise, die nach Manzhouli und zum sitzenden Elefanten führen.
Hu Bo hatte vor seinem Film Romane geschrieben, und die romanhafte Erzählweise dringt in den Filmraum hinein. Vier Stunden nimmt er sich Zeit, um die einzelnen Stränge zum Leuchten zu bringen. Es ist wie ein kinematographisches Fade-in, das ganz allmählich eine Erzählung zu erkennen gibt. Die erste Stunde – die einzige Stunde, in der sich das Publikum entschied, den Film zu mögen oder rauszugehen, danach gab es nur noch gebanntes Sitzenbleiben – lotet das Labyrinth der Gassen aus. Wir folgen den Protagonisten, die Hu Bo, wie es Gus Van Sant etabliert hat, von hinten filmt, durch die Winkel der unverputzen Häuser, erkennen die Schäbigkeit der Umgebung, finden uns langsam zurecht. Es sind lange Wege, die sie zu Fuß zurücklegen, hastig, schon ist viel passiert: der Unfall, ein toter Hund, ein aufgedeckter Ehebruch. Hu Bo arbeitet dabei mit Unschärfe, wie es selten im digitalen Kino zu finden ist und am ehesten noch bei Lav Diaz, der Unschärfe mit verlorengegangener Tiefenschärfe substituiert, um nicht in die Falle des Überscharfen zu tappen, wie es oft im Digitalen zu sehen ist: überscharf und damit flach, „flatness“ statt Tiefe. Im unscharfen Hintergrund platziert Hu Bo Figuren, die mit dem Protagonisten im Vordergrund in Interaktion treten werden, mit denen es einen Zusammenprall geben wird, oder eine tragische Verwicklung wie im Showdown.
Nach diesem langen Fade-in entfaltet sich der Film, nimmt immer mehr Vitalität und erzählerische Kraft an, um in der letzten Stunde komplett da zu sein. Da neigt sich auch schon das Tageslicht: Hu Bo lässt die Handlung an einem einzigen Tag passieren, und in dem Maße, wie die Figuren sich zu erkennen gegeben haben, blendet sich das Licht aus: Fade Out.
Wir hoffen, dass das Arsenal Institut An Elephant Sitting Still in sein Verleihprogramm aufnehmen wird. Und das Glück, das dieser erste und letzte Film des chinesischen Regisseurs darstellt, damit weiterreicht.