68. Berlinale 2018
Aktivismus kann fröhlich sein |
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Frau? Mann? Was soll das alles? Man ist doch, was man sein will... |
Es ist nicht viel los in Argentinien, auf der endlosen Pampa. Mal ein Wolf, der Rinder reißt, mal ein Sturm, ansonsten endlose Sommerhitze. Hier liegt der Wilde Westen Argentiniens: Mächtig ist, wer viele Rinder hat, und wer »ein richtiger Mann« ist.
Marcos ist genau das nicht, nicht im Sinne der Einheimischen jedenfalls, oder seiner Eltern. Denn der schüchterne Jüngling lebt ein Doppelleben – tagsüber schuftet er auf der elterlichen Farm, aber nachts schminkt er sich
heimlich, zieht sich Perücken an, und zum Karneval geht er als sch öne Frau, die den Männern den Kopf verdreht.
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Marilyn heißt das Debüt des Argentiniers Martín Rodríguez Redondo – er erzählt mit Ruhe und Zärtlichkeit für seine Figuren in kontemplativen Bildern das intime Portrait einer Emanzipation. Marcos ringt seinem Alltag immer wieder kleine und größere Inseln der Freiheit ab, und der Karneval wird für ihn nicht nur zum kurzfristigen Exzess, sondern zur
Initiation.
»Marilyn« ist ein politischer Film, denn in einem Land des Machismo ist dieser leichthändige Umgang mit Geschlechter-Identitäten eine Provokation.
Aktivismus kann fröhlich sein – das beweisen diese Filme.
Noch deutlicher als Marilyn ist das der Fall bei Bixa Travesty. Der Dokumentarfilm der Brasilianerin Claudia Priscilla im Berlinale-Panorama portraitiert Linn da Quebrada, eine schwarze Transfrau aus den armen Peripherien São Paulos. Linn ist ein lokaler Pop-Star geworden, und erhebt ihre Stimme für die Queers of Colour der Favelas.
Der
Film zeigt Auftritte, zeigt Kostüme und viel Lebensfreude. Vor allem aber löst er normative Geschlechterordnungen auf, und zwar nicht nur die der Weißen und der Heteros.
Man erlebt Linn auch privat, oder mit Freunden und Freundinnen oder mit ihrer Mutter. Sie spricht im Film viel über Liebe, Rassismus und Armut. Musik, radikale Nacktheit und kulturelle Provokation sind hier Mittel zur Unterwanderung von Genderrollen aller Art. Linn will nämlich gar keine Trans-Frau sein, sondern
»eine Frau mit Penis«, deren Genderidentität nicht an Genitalien gebunden, sondern im stetigen Wandel begriffen ist.
So ist dies ein sprachgewaltiger Film über die Auflösung von Identität. Ein Beitrag zu allen Debatten über Gender- und Geschlechterverhältnisse.
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Identität gibt es nicht, das macht uns dieser Film klar, beziehungsweise ist Identität absolut nichts, außer einer sozialen Konstruktion. Linn selbst hat sowieso eine verzückend einfache Weltsicht: »Es gibt Menschen, die mich begehren. Und es gibt Menschen, die mich noch nicht kennen.«
Auffallend oft fragen in diesem Jahr lateinamerikanische Filme nach Identitäten, politischen, regionalen, vor allem aber sexuellen. Aus einer Region, in der die Geschlechterrollen klarer und traditioneller verteilt scheinen, als in Europa, kommt auch deren Infragestellung mit mehr Verve.
Während man in Europa und den USA – siehe Me Too – über die Gleichstellung von Frauen gegenüber Männern debattiert, gehen manche lateinamerikanischen Filme längst
weiter, entfesseln das Spiel der Identitäten und fragen: Was ist das überhaupt: Frau? Mann? Was soll das alles? Man ist doch, was man sein will.
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Los Debiles, zu deutsch etwa: »Die Schwachköpfe«, im Forum ist dagegen auf andere Weise praktischer, konkreter: Ein Spielfilm über Gangs in Mexiko: in einem archaisches Drama über Gewalt, Tod und Rache – und über die universale Dummheit der Menschen.
Aufregend und beklemmend – wir sehen die Welt als Hölle und als Paradies.