21.02.2018
68. Berlinale 2018

Akti­vismus kann fröhlich sein

Dana LInssen Jan Pieter Ekker
Frau? Mann? Was soll das alles? Man ist doch, was man sein will...

Identitätsspiele: Eindrücke vom lateinamerikanischen Kinokontinent – Berlinale-Tagebuch, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

Es ist nicht viel los in Argen­ti­nien, auf der endlosen Pampa. Mal ein Wolf, der Rinder reißt, mal ein Sturm, ansonsten endlose Sommer­hitze. Hier liegt der Wilde Westen Argen­ti­niens: Mächtig ist, wer viele Rinder hat, und wer »ein richtiger Mann« ist.
Marcos ist genau das nicht, nicht im Sinne der Einhei­mi­schen jeden­falls, oder seiner Eltern. Denn der schüch­terne Jüngling lebt ein Doppel­leben – tagsüber schuftet er auf der elter­li­chen Farm, aber nachts schminkt er sich heimlich, zieht sich Perücken an, und zum Karneval geht er als sch öne Frau, die den Männern den Kopf verdreht.

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Marilyn heißt das Debüt des Argen­ti­niers Martín Rodríguez Redondo – er erzählt mit Ruhe und Zärt­lich­keit für seine Figuren in kontem­pla­tiven Bildern das intime Portrait einer Eman­zi­pa­tion. Marcos ringt seinem Alltag immer wieder kleine und größere Inseln der Freiheit ab, und der Karneval wird für ihn nicht nur zum kurz­fris­tigen Exzess, sondern zur Initia­tion.
»Marilyn« ist ein poli­ti­scher Film, denn in einem Land des Machismo ist dieser leicht­hän­dige Umgang mit Geschlechter-Iden­ti­täten eine Provo­ka­tion.

Akti­vismus kann fröhlich sein – das beweisen diese Filme.

Noch deut­li­cher als Marilyn ist das der Fall bei Bixa Travesty. Der Doku­men­tar­film der Brasi­lia­nerin Claudia Priscilla im Berlinale-Panorama portrai­tiert Linn da Quebrada, eine schwarze Transfrau aus den armen Peri­phe­rien São Paulos. Linn ist ein lokaler Pop-Star geworden, und erhebt ihre Stimme für die Queers of Colour der Favelas.
Der Film zeigt Auftritte, zeigt Kostüme und viel Lebens­freude. Vor allem aber löst er normative Geschlech­ter­ord­nungen auf, und zwar nicht nur die der Weißen und der Heteros.
Man erlebt Linn auch privat, oder mit Freunden und Freun­dinnen oder mit ihrer Mutter. Sie spricht im Film viel über Liebe, Rassismus und Armut. Musik, radikale Nacktheit und kultu­relle Provo­ka­tion sind hier Mittel zur Unter­wan­de­rung von Gender­rollen aller Art. Linn will nämlich gar keine Trans-Frau sein, sondern »eine Frau mit Penis«, deren Gender­iden­tität nicht an Geni­ta­lien gebunden, sondern im stetigen Wandel begriffen ist.
So ist dies ein sprach­ge­wal­tiger Film über die Auflösung von Identität. Ein Beitrag zu allen Debatten über Gender- und Geschlech­ter­ver­hält­nisse.

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Identität gibt es nicht, das macht uns dieser Film klar, bezie­hungs­weise ist Identität absolut nichts, außer einer sozialen Konstruk­tion. Linn selbst hat sowieso eine verzü­ckend einfache Weltsicht: »Es gibt Menschen, die mich begehren. Und es gibt Menschen, die mich noch nicht kennen.«

Auffal­lend oft fragen in diesem Jahr latein­ame­ri­ka­ni­sche Filme nach Iden­ti­täten, poli­ti­schen, regio­nalen, vor allem aber sexuellen. Aus einer Region, in der die Geschlech­ter­rollen klarer und tradi­tio­neller verteilt scheinen, als in Europa, kommt auch deren Infra­ge­stel­lung mit mehr Verve.
Während man in Europa und den USA – siehe Me Too – über die Gleich­stel­lung von Frauen gegenüber Männern debat­tiert, gehen manche latein­ame­ri­ka­ni­schen Filme längst weiter, entfes­seln das Spiel der Iden­ti­täten und fragen: Was ist das überhaupt: Frau? Mann? Was soll das alles? Man ist doch, was man sein will.

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Los Debiles, zu deutsch etwa: »Die Schwach­köpfe«, im Forum ist dagegen auf andere Weise prak­ti­scher, konkreter: Ein Spielfilm über Gangs in Mexiko: in einem archai­sches Drama über Gewalt, Tod und Rache – und über die univer­sale Dummheit der Menschen.
Aufregend und beklem­mend – wir sehen die Welt als Hölle und als Paradies.