68. Berlinale 2018
Generation 14plus |
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Nicht hier, aber dann bald: Der schönste Kuss im gesamten 14plus-Programm – in Hans Weingartners »303« | ||
(Foto: Hans Weingartner / Berlinale) |
Von Ulrike Seyffarth
Sechzehn Langfilme und eben so viele Kurzfilme waren am Start bei Generation 14plus, der Jugendfilmsektion der Berlinale. Als Bester (Lang-)Film räumte FORTUNA von Germinal Roaux (Schweiz/Belgien 2018) gleich doppelt ab. Er erhielt sowohl den Gläsernen Bären der siebenköpfigen Jugendjury als auch den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preis der Internationalen Jury 14plus (Felipe Bragança, Verena von Stackelberg, Mark Rogers).
In formal strenger Schwarzweiß-Ästhetik erzählt der
Film von der vierzehnjährigen Fortuna aus Äthiopien, die auf der Flucht übers Mittelmeer ihre Eltern verliert, schwanger wird und in einem katholischen Kloster inmitten der Schweizer Berge Zuflucht findet. Bruno Ganz gibt den Ordensvorsteher, der ihr mit christlichem Verständnis zur Seite steht und ihr Recht auf Selbstbestimmung verteidigt. Dazu heißt es in der Begründung der Internationalen Jury: »Dieser Film überwindet religiöse und politische Dogmen und schafft eine
wundervoll realisierte Erzählung von Reinheit und vom Überleben […].« Die Jugendjury lobt »[…] die feinfühlige Darstellung der Hauptcharaktere«, die den Zuschauer »[…] mit Abhängigkeit, Nächstenliebe und gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert.«
Das Programm von 14plus zeichnet sich durch eine große thematische und formale Bandbreite aus. Ob als Road Movie (303), als Dokumentation (What Walaa Wants), als monochrome Animation (Virus Tropical), ob mystisch überhöht (Unicórnio) oder in der städtischen oder ländlichen Realität verortet (Cobain, Retablo u.a.): Die jugendlichen Protagonisten müssen – auf sich selbst gestellt, oft auch in Umkehrung der Rollen anstelle der Erwachsenen – existentielle Entscheidungen treffen und Konsequenzen (er)tragen. Die Suche nach Liebe und Nähe, nach der eigenen Identität und Lebensperspektiven verläuft nie gradlinig. Ein Happy End ist nicht garantiert. Coming of Age bedeutet eben, Grenzen auszuloten und zu überschreiten, oft auch die Grenzen des (ebenfalls für den Zuschauer) Erträglichen. Sämtlichen Filmen, auch den zahlreichen Debüts, ist ein bemerkenswert hohes Qualitätsniveau eigen. Insbesondere beeindrucken die unglaublich starken jungen Darsteller, von denen man hoffentlich viele wiedersehen wird.
Retablo (Peru/Deutschland/Norwegen 2017) von Álvaro Delgado-Aparicio I., 2017 als Bester peruanischer Spielfilm ausgezeichnet, erhielt nun eine Lobende Erwähnung der Jugendjury.
Retablos, zu deutsch: Altarbilder, sind die kunstvollen kleinen Schreine mit bemalten Figuren, für die Segundos Vater im Dorf großes Ansehen als Künstler genießt. Auch Segundo bewundert und verehrt seinen Vater, der ihn in dieser Kunst ausbildet. Ihr Verhältnis ist innig, sein Vater
ist dem Vierzehnjährigen näher als die heftig pubertierenden Gleichaltrigen. Eine zufällig gemachte, schockierende Beobachtung stößt den unfehlbaren Vater vom Sockel. Segundo ist verstört, zornig, sprachlos, stellt alles in Frage. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als das »schmutzige« Geheimnis offenkundig wird und die Dorfgemeinschaft brutal ihre Vorstellung von Recht durchsetzt. Das tragische Ausmaß zwingt Segundo, schnell erwachsen zu werden. Vor der Kulisse der kargen
Berglandschaft Perus zeichnen fein komponierte Bilder die Bezugswelt Segundos, die an den Ereignissen zerbricht.
Eine Lobende Erwähnung der Internationalen Jury gab es für Pooya Badkoobehs Langfilmdebüt Dressage (Iran 2018), das mit seinem »intelligenten Storytelling ebenso wie mit der komplexen und unvorhersehbaren Entwicklung der Charaktere […]« überzeugt. Ein durchaus kritisches Bild der iranischen Gesellschaft wird hier gezeichnet, wenn gelangweilte Töchter und Söhne aus der oberen Mittelschicht nur für den Adrenalinkick einen Laden überfallen – und es anschließend auch den Eltern nur darum geht, wie man die Tat am besten aus der Welt schafft (zum Beispiel mit Geld). Dass sie beim Überfall den Kassierer schwer verletzt haben, vielleicht sogar tödlich, beunruhigt die Freunde weitaus weniger als die Tatsache, dass sie die Videoaufzeichnung im Laden vergessen haben. Die Clique bestimmt Golsa, das Video zu holen – vielleicht ist sie ohnehin Außenseiterin innerhalb der Gruppe, da ist immerhin ihre große Leidenschaft für Pferde, die sie mit niemandem teilt. Statt das belastende Video auszuhändigen, versteckt sie es. Je größer der Druck von allen Seiten auf sie wird, desto entschlossener widersetzt sie sich. Hochinteressant die psychologische Dynamik und gesellschaftlichen Verflechtungen: Niemand stellt hier die Frage nach Schuld, Gerechtigkeit oder Strafe. Erst recht nicht die Eltern, die mehr um ihren guten Ruf und ihre Existenz fürchten als um die Moral ihrer Sprösslinge, und mit Erpressung und Bestechung eingreifen. Golsa ist die einzige, die mit der Zeit überhaupt so etwas wie Reue oder Schuldbewusstsein empfindet und zur Sühne bereit ist.
ADAM (Deutschland/Island/USA/Mexiko 2018) ist taubstumm. Das macht ihn zwar zum Außenseiter, aber ausgestattet mit viel Selbstvertrauen und einem Riesenvorrat an Instantnudeln kommt er ganz gut allein klar. Seine Mutter, einst feste Größe in der Berliner Technoszene, ist nun in Spätfolge der Drogen- und Alkoholexzesse ein Pflegefall. Besser wird es nicht mehr, wie die Sozialarbeiterin Adam unmissverständlich klarmacht. Das ist der schlimmstmögliche Fall, für den seine Mutter Adam ein Versprechen abgenommen hat: So will sie nicht leben… Was tun? Adam sucht nach Lösungen. Er sucht und findet seinen Vater, der ihm keine Hilfe ist. Adam findet sogar die Liebe. Aber die Entscheidung, wie er mit dem Sterbewunsch seiner Mutter umgehen soll, kann ihm niemand abnehmen. Der Film der isländischen Regisseurin und Wahlberlinerin Maria Solrun berührt durch seine unprätentiöse Erzählweise, die sich ernsthaft und auch mit einer Prise Humor mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzt.
Ein weiterer Teenager, der viel zu früh erwachsen sein muss und Verantwortung für seine Mutter übernimmt, ist Cobain im gleichnamigen Film von Nanouk Leopold (Niederlande/Belgien/Deutschland 2017). Schon mit dem Namen hat ihm seine Mutter Mia keinen Gefallen getan. Wer wird schon nach einem benannt, der sich erschossen hat? Mütterliche Gefühle? Fehlanzeige. Mia ist ein Junkie, dröhnt sich zu, raucht und trinkt. Ihre Schwangerschaft ändert daran nichts und ist bloß lästig. Cobain kann gar nicht anders als sich um sie zu sorgen, egal wie oft sie ihn enttäuscht und zurückweist. Die in Aussicht gestellte Pflegefamilie ist keine Option für den Fünfzehnjährigen, so lange er Mia nicht sicher untergebracht weiß. In seinem Schauspieldebüt ist Bas Keizer als introvertierter, verletzlicher und zorniger Cobain eine echte Entdeckung. Man leidet, bangt und hofft mit ihm, die radikale Zuspitzung der Ereignisse ist kaum auszuhalten, aber konsequent.
Ebenfalls sehr sehenswert ist das Langfilmdebüt der türkischen Regisseurin Banu Sivaci: Güvercin – The Pigeon (Türkei 2018) erzählt von der außergewöhnlichen Verbindung zwischen einem sensiblen jungen Mann und seinen Tauben. Es ist durchaus Liebe, wenn Yusuf sich seine Lieblingstaube Maverdi auf die Schulter setzt und sanft zu ihr spricht. Beide sind sie Einzelgänger, halten sich abseits von ihren Artgenossen. Das Dach mit dem Taubenschlag ist Yusufs Rückzugsort, doch die harte und brutale Welt lässt sich nicht einfach so aussperren: Tauben dienen als Drogenkuriere, sein eigener Bruder zwingt ihn zur Arbeit in einer zwielichtigen Werkstatt. Ausbeutung, Kriminalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Herzzerreißend die Szene, in der Yusuf zu seinen Tauben heimkehrt. Wie Yusuf an dieser Realität nahezu zerbricht und sich schließlich behauptet, ist mit viel Gespür und Wärme in wunderbaren Bildern erzählt. Ein Neuanfang scheint möglich, heißt es doch, wo Tauben sind, fliegen Tauben zu.
PARA ADUMA – Red Cow (Israel 2018) Das Langfilmdebüt der Regisseurin Tsivia Barkai Yacov gibt interessante Einblicke in das gleichermaßen moderne und traditionsgeprägte Leben der Jugendlichen in Ostjerusalem. Es erzählt vom Begehren und Aufbegehren der siebzehnjährigen Benny, die bei ihrem streng gläubigen Vater aufwächst, einer bekannten und unbequemen Autorität in der jüdischen Gemeinde. Für ihre Emanzipierung vom Vater ebenso hilfreich wie fatal ist das Auftauchen der schönen Yael, mit der sich Benny in eine leidenschaftliche amour fou stürzt. Nicht zufällig gleichen Bennys rote Haare dem Fell des Kälbchens, das die ersehnte Heilige Kuh werden soll, deren Opfer die Errichtung eines jüdischen Tempels anstelle der Al-Aksa-Moschee auf dem Heiligen Berg prophezeit.
Kommen wir zu meinem visuellen Favoriten: Unicórnio (Brasilien 2017). Unmöglich, die Bildästhetik zu beschreiben, ohne zu schwelgen: Was für Farben! Landschaften! Tableaus! Das Ganze in einem extrem horizontalen Format (Cinemascope), in sehr langsamen Kamerafahrten immer wieder die Panoramen und Stillleben der Hütten-Interieurs abtastend. Übersättigte Farben verfremden und lassen Details und Gesichter leuchten, zauberhaft und mystisch ist die Atmosphäre – na klar gibt es hier ein Einhorn! Worum aber geht es inhaltlich? Da wird es schon kniffliger. Ein Versuch: Marie ist dreizehn und lebt mit ihrer Mutter in einer einsamen Blockhütte, umgeben von Bergen und Wald, im Einklang mit der Natur. In dieses karge, aber intakte Idyll bricht ein Ziegenhirte ein, der sich ganz in der Nähe mit seiner Herde niederlässt. Das löst in Mutter und Tochter heftige, vielleicht sehr ähnliche Gefühle aus und bringt die Ordnung gefährlich durcheinander. Im umgekehrten Schneewittchen-Motiv ist die Tochter eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Mutter. Auch der vergiftete Apfel spielt hier eine nicht zu kleine Rolle. In hartem Kontrast stehen Szenen in einem klinisch-weißen, sterilen Raum, in dem Marie und ihr Vater sitzen. Eine Heilanstalt? Ihre Dialoge sind aus dem Off zu hören, geben aber mehr Rätsel auf als sie lösen. Auch die Chronologie bleibt unklar. Laut Regisseur Eduardo Nunes ist das gewollt. Es geht weniger ums Verstehen als vielmehr um das Imaginieren des »Unausgesprochenen«. Um das Gefühl, dass etwas Bedeutsames passiert ist… Dann also nicht weiter nach einem alles erklärenden Sinn suchen, sondern einfach eintauchen und die überwältigende Magie der Bilder wirken lassen!
Und zwar der schönste Kuss im gesamten 14plus-Programm, für den es sogar Szenenapplaus gab! In seinem Roadmovie 303 (Deutschland 2018), das den 14plus-Wettbewerb eröffnete, schickt Regisseur Hans Weingartner (Die fetten Jahre sind vorbei) seine beiden Protagonisten auf große Fahrt. Der Zufall macht aus Jule und Jan eine Fahrgemeinschaft. In Jules altem Wohnmobil, dem Titel gebenden Mercedes 303, geht es von Berlin bis nach Portugal – da ist viel Zeit zum Nachdenken, zum Diskutieren, über Gott und die Welt, über den Kapitalismus und über die Liebe, natürlich. Viel Zeit nimmt sich der Film auch für die allmähliche Annäherung der beiden jungen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Beweggründen unterwegs sind. Grandiose Landschaftsaufnahmen markieren die geographischen Stationen der Reise, an deren Ende beide auch bei sich selbst angekommen sind. Dass das glaubwürdig und ohne viel äußere Action geschieht, liegt auch an der großartigen Besetzung: Ungekünstelt wirken Spiel und Dialoge, zwischen Jule (Mala Emde) und Jan (Anton Spieker) stimmt einfach die Chemie. Das geht völlig ohne Kitsch und romantische Verklärung und ist auch nach 144 Minuten noch wunderschön und beglückend.