25.02.2018
68. Berlinale 2018

Gene­ra­tion 14plus

303
Nicht hier, aber dann bald: Der schönste Kuss im gesamten 14plus-Programm – in Hans Weingartners »303«
(Foto: Hans Weingartner / Berlinale)

Von Grenzüberschreitungen, Realitäten und anderen Fantasien

Von Ulrike Seyffarth

Sechzehn Langfilme und eben so viele Kurzfilme waren am Start bei Gene­ra­tion 14plus, der Jugend­film­sek­tion der Berlinale. Als Bester (Lang-)Film räumte FORTUNA von Germinal Roaux (Schweiz/Belgien 2018) gleich doppelt ab. Er erhielt sowohl den Gläsernen Bären der sieben­köp­figen Jugend­jury als auch den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preis der Inter­na­tio­nalen Jury 14plus (Felipe Bragança, Verena von Stackel­berg, Mark Rogers).
In formal strenger Schwarz­weiß-Ästhetik erzählt der Film von der vier­zehn­jäh­rigen Fortuna aus Äthiopien, die auf der Flucht übers Mittel­meer ihre Eltern verliert, schwanger wird und in einem katho­li­schen Kloster inmitten der Schweizer Berge Zuflucht findet. Bruno Ganz gibt den Ordens­vor­steher, der ihr mit christ­li­chem Vers­tändnis zur Seite steht und ihr Recht auf Selbst­be­stim­mung vertei­digt. Dazu heißt es in der Begrün­dung der Inter­na­tio­nalen Jury: »Dieser Film über­windet religiöse und poli­ti­sche Dogmen und schafft eine wunder­voll reali­sierte Erzählung von Reinheit und vom Überleben […].« Die Jugend­jury lobt »[…] die fein­füh­lige Darstel­lung der Haupt­cha­rak­tere«, die den Zuschauer »[…] mit Abhän­gig­keit, Nächs­ten­liebe und gesell­schaft­li­chen Struk­turen konfron­tiert.«

Das Programm von 14plus zeichnet sich durch eine große thema­ti­sche und formale Band­breite aus. Ob als Road Movie (303), als Doku­men­ta­tion (What Walaa Wants), als mono­chrome Animation (Virus Tropical), ob mystisch überhöht (Unicórnio) oder in der städ­ti­schen oder länd­li­chen Realität verortet (Cobain, Retablo u.a.): Die jugend­li­chen Prot­ago­nisten müssen – auf sich selbst gestellt, oft auch in Umkehrung der Rollen anstelle der Erwach­senen – exis­ten­ti­elle Entschei­dungen treffen und Konse­quenzen (er)tragen. Die Suche nach Liebe und Nähe, nach der eigenen Identität und Lebens­per­spek­tiven verläuft nie gradlinig. Ein Happy End ist nicht garan­tiert. Coming of Age bedeutet eben, Grenzen auszu­loten und zu über­schreiten, oft auch die Grenzen des (ebenfalls für den Zuschauer) Erträg­li­chen. Sämt­li­chen Filmen, auch den zahl­rei­chen Debüts, ist ein bemer­kens­wert hohes Quali­täts­ni­veau eigen. Insbe­son­dere beein­dru­cken die unglaub­lich starken jungen Darsteller, von denen man hoffent­lich viele wieder­sehen wird.

Lobend erwähnt und lobens­wert

Retablo (Peru/Deutsch­land/Norwegen 2017) von Álvaro Delgado-Aparicio I., 2017 als Bester perua­ni­scher Spielfilm ausge­zeichnet, erhielt nun eine Lobende Erwähnung der Jugend­jury.
Retablos, zu deutsch: Altar­bilder, sind die kunst­vollen kleinen Schreine mit bemalten Figuren, für die Segundos Vater im Dorf großes Ansehen als Künstler genießt. Auch Segundo bewundert und verehrt seinen Vater, der ihn in dieser Kunst ausbildet. Ihr Verhältnis ist innig, sein Vater ist dem Vier­zehn­jäh­rigen näher als die heftig puber­tie­renden Gleich­alt­rigen. Eine zufällig gemachte, scho­ckie­rende Beob­ach­tung stößt den unfehl­baren Vater vom Sockel. Segundo ist verstört, zornig, sprachlos, stellt alles in Frage. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als das »schmut­zige« Geheimnis offen­kundig wird und die Dorf­ge­mein­schaft brutal ihre Vorstel­lung von Recht durch­setzt. Das tragische Ausmaß zwingt Segundo, schnell erwachsen zu werden. Vor der Kulisse der kargen Berg­land­schaft Perus zeichnen fein kompo­nierte Bilder die Bezugs­welt Segundos, die an den Ereig­nissen zerbricht.

Eine Lobende Erwähnung der Inter­na­tio­nalen Jury gab es für Pooya Badkoo­behs Lang­film­debüt Dressage (Iran 2018), das mit seinem »intel­li­genten Story­tel­ling ebenso wie mit der komplexen und unvor­her­seh­baren Entwick­lung der Charak­tere […]« überzeugt. Ein durchaus kriti­sches Bild der irani­schen Gesell­schaft wird hier gezeichnet, wenn gelang­weilte Töchter und Söhne aus der oberen Mittel­schicht nur für den Adre­na­lin­kick einen Laden über­fallen – und es anschließend auch den Eltern nur darum geht, wie man die Tat am besten aus der Welt schafft (zum Beispiel mit Geld). Dass sie beim Überfall den Kassierer schwer verletzt haben, viel­leicht sogar tödlich, beun­ru­higt die Freunde weitaus weniger als die Tatsache, dass sie die Video­auf­zeich­nung im Laden vergessen haben. Die Clique bestimmt Golsa, das Video zu holen – viel­leicht ist sie ohnehin Außen­sei­terin innerhalb der Gruppe, da ist immerhin ihre große Leiden­schaft für Pferde, die sie mit niemandem teilt. Statt das belas­tende Video auszu­hän­digen, versteckt sie es. Je größer der Druck von allen Seiten auf sie wird, desto entschlos­sener wider­setzt sie sich. Hoch­in­ter­es­sant die psycho­lo­gi­sche Dynamik und gesell­schaft­li­chen Verflech­tungen: Niemand stellt hier die Frage nach Schuld, Gerech­tig­keit oder Strafe. Erst recht nicht die Eltern, die mehr um ihren guten Ruf und ihre Existenz fürchten als um die Moral ihrer Spröss­linge, und mit Erpres­sung und Bestechung eingreifen. Golsa ist die einzige, die mit der Zeit überhaupt so etwas wie Reue oder Schuld­be­wusst­sein empfindet und zur Sühne bereit ist.

Von verlo­renen Müttern und starken Söhnen

ADAM (Deutsch­land/Island/USA/Mexiko 2018) ist taubstumm. Das macht ihn zwar zum Außen­seiter, aber ausge­stattet mit viel Selbst­ver­trauen und einem Riesen­vorrat an Instant­nu­deln kommt er ganz gut allein klar. Seine Mutter, einst feste Größe in der Berliner Tech­no­szene, ist nun in Spätfolge der Drogen- und Alko­hol­ex­zesse ein Pfle­ge­fall. Besser wird es nicht mehr, wie die Sozi­al­ar­bei­terin Adam unmiss­ver­s­tänd­lich klarmacht. Das ist der schlimmst­mög­liche Fall, für den seine Mutter Adam ein Verspre­chen abge­nommen hat: So will sie nicht leben… Was tun? Adam sucht nach Lösungen. Er sucht und findet seinen Vater, der ihm keine Hilfe ist. Adam findet sogar die Liebe. Aber die Entschei­dung, wie er mit dem Ster­be­wunsch seiner Mutter umgehen soll, kann ihm niemand abnehmen. Der Film der islän­di­schen Regis­seurin und Wahl­ber­li­nerin Maria Solrun berührt durch seine unprä­ten­tiöse Erzähl­weise, die sich ernsthaft und auch mit einer Prise Humor mit dem Thema Ster­be­hilfe ausein­an­der­setzt.

Ein weiterer Teenager, der viel zu früh erwachsen sein muss und Verant­wor­tung für seine Mutter übernimmt, ist Cobain im gleich­na­migen Film von Nanouk Leopold (Nieder­lande/Belgien/Deutsch­land 2017). Schon mit dem Namen hat ihm seine Mutter Mia keinen Gefallen getan. Wer wird schon nach einem benannt, der sich erschossen hat? Mütter­liche Gefühle? Fehl­an­zeige. Mia ist ein Junkie, dröhnt sich zu, raucht und trinkt. Ihre Schwan­ger­schaft ändert daran nichts und ist bloß lästig. Cobain kann gar nicht anders als sich um sie zu sorgen, egal wie oft sie ihn enttäuscht und zurück­weist. Die in Aussicht gestellte Pfle­ge­fa­milie ist keine Option für den Fünf­zehn­jäh­rigen, so lange er Mia nicht sicher unter­ge­bracht weiß. In seinem Schau­spiel­debüt ist Bas Keizer als intro­ver­tierter, verletz­li­cher und zorniger Cobain eine echte Entde­ckung. Man leidet, bangt und hofft mit ihm, die radikale Zuspit­zung der Ereig­nisse ist kaum auszu­halten, aber konse­quent.

Von Tauben, roten Kühen und Einhör­nern

Ebenfalls sehr sehens­wert ist das Lang­film­debüt der türki­schen Regis­seurin Banu Sivaci: GüvercinThe Pigeon (Türkei 2018) erzählt von der außer­ge­wöhn­li­chen Verbin­dung zwischen einem sensiblen jungen Mann und seinen Tauben. Es ist durchaus Liebe, wenn Yusuf sich seine Lieb­lings­taube Maverdi auf die Schulter setzt und sanft zu ihr spricht. Beide sind sie Einzel­gänger, halten sich abseits von ihren Artge­nossen. Das Dach mit dem Tauben­schlag ist Yusufs Rück­zugsort, doch die harte und brutale Welt lässt sich nicht einfach so aussperren: Tauben dienen als Drogen­ku­riere, sein eigener Bruder zwingt ihn zur Arbeit in einer zwie­lich­tigen Werkstatt. Ausbeu­tung, Krimi­na­lität und Gewalt sind an der Tages­ord­nung. Herz­zer­reißend die Szene, in der Yusuf zu seinen Tauben heimkehrt. Wie Yusuf an dieser Realität nahezu zerbricht und sich schließ­lich behauptet, ist mit viel Gespür und Wärme in wunder­baren Bildern erzählt. Ein Neuanfang scheint möglich, heißt es doch, wo Tauben sind, fliegen Tauben zu.

PARA ADUMA – Red Cow (Israel 2018) Das Lang­film­debüt der Regis­seurin Tsivia Barkai Yacov gibt inter­es­sante Einblicke in das glei­cher­maßen moderne und tradi­ti­ons­ge­prägte Leben der Jugend­li­chen in Ostje­ru­salem. Es erzählt vom Begehren und Aufbe­gehren der sieb­zehn­jäh­rigen Benny, die bei ihrem streng gläubigen Vater aufwächst, einer bekannten und unbe­quemen Autorität in der jüdischen Gemeinde. Für ihre Eman­zi­pie­rung vom Vater ebenso hilfreich wie fatal ist das Auftau­chen der schönen Yael, mit der sich Benny in eine leiden­schaft­liche amour fou stürzt. Nicht zufällig gleichen Bennys rote Haare dem Fell des Kälbchens, das die ersehnte Heilige Kuh werden soll, deren Opfer die Errich­tung eines jüdischen Tempels anstelle der Al-Aksa-Moschee auf dem Heiligen Berg prophe­zeit.

Kommen wir zu meinem visuellen Favoriten: Unicórnio (Brasilien 2017). Unmöglich, die Bildäs­thetik zu beschreiben, ohne zu schwelgen: Was für Farben! Land­schaften! Tableaus! Das Ganze in einem extrem hori­zon­talen Format (Cine­ma­scope), in sehr langsamen Kame­ra­fahrten immer wieder die Panoramen und Still­leben der Hütten-Inte­ri­eurs abtastend. Über­sät­tigte Farben verfremden und lassen Details und Gesichter leuchten, zauber­haft und mystisch ist die Atmo­sphäre – na klar gibt es hier ein Einhorn! Worum aber geht es inhalt­lich? Da wird es schon kniff­liger. Ein Versuch: Marie ist dreizehn und lebt mit ihrer Mutter in einer einsamen Block­hütte, umgeben von Bergen und Wald, im Einklang mit der Natur. In dieses karge, aber intakte Idyll bricht ein Ziegen­hirte ein, der sich ganz in der Nähe mit seiner Herde nieder­lässt. Das löst in Mutter und Tochter heftige, viel­leicht sehr ähnliche Gefühle aus und bringt die Ordnung gefähr­lich durch­ein­ander. Im umge­kehrten Schnee­witt­chen-Motiv ist die Tochter eifer­süchtig auf die Schönheit ihrer Mutter. Auch der vergif­tete Apfel spielt hier eine nicht zu kleine Rolle. In hartem Kontrast stehen Szenen in einem klinisch-weißen, sterilen Raum, in dem Marie und ihr Vater sitzen. Eine Heil­an­stalt? Ihre Dialoge sind aus dem Off zu hören, geben aber mehr Rätsel auf als sie lösen. Auch die Chro­no­logie bleibt unklar. Laut Regisseur Eduardo Nunes ist das gewollt. Es geht weniger ums Verstehen als vielmehr um das Imagi­nieren des »Unaus­ge­spro­chenen«. Um das Gefühl, dass etwas Bedeut­sames passiert ist… Dann also nicht weiter nach einem alles erklä­renden Sinn suchen, sondern einfach eintau­chen und die über­wäl­ti­gende Magie der Bilder wirken lassen!

… Und zum Schluss ein Kuss

Und zwar der schönste Kuss im gesamten 14plus-Programm, für den es sogar Szenen­ap­plaus gab! In seinem Roadmovie 303 (Deutsch­land 2018), das den 14plus-Wett­be­werb eröffnete, schickt Regisseur Hans Wein­gartner (Die fetten Jahre sind vorbei) seine beiden Prot­ago­nisten auf große Fahrt. Der Zufall macht aus Jule und Jan eine Fahr­ge­mein­schaft. In Jules altem Wohnmobil, dem Titel gebenden Mercedes 303, geht es von Berlin bis nach Portugal – da ist viel Zeit zum Nach­denken, zum Disku­tieren, über Gott und die Welt, über den Kapi­ta­lismus und über die Liebe, natürlich. Viel Zeit nimmt sich der Film auch für die allmäh­liche Annähe­rung der beiden jungen Menschen, die aus ganz unter­schied­li­chen Beweg­gründen unterwegs sind. Grandiose Land­schafts­auf­nahmen markieren die geogra­phi­schen Stationen der Reise, an deren Ende beide auch bei sich selbst ange­kommen sind. Dass das glaub­würdig und ohne viel äußere Action geschieht, liegt auch an der groß­ar­tigen Besetzung: Ungekün­s­telt wirken Spiel und Dialoge, zwischen Jule (Mala Emde) und Jan (Anton Spieker) stimmt einfach die Chemie. Das geht völlig ohne Kitsch und roman­ti­sche Verklärung und ist auch nach 144 Minuten noch wunder­schön und beglü­ckend.