01.03.2018
68. Berlinale 2018

Psycho­gramm als Diagnose

Las Herederas
Öffnet Fenster auf ein neues Kino: Las herederas
(Foto: Luxbox / Berlinale)

Zwei lateinamerikanischen Filme im Wettbewerb der Berlinale erhielten gleich drei Preise – aber nur Las Herederas aus Paraguay konnte überzeugen

Von Wolfgang Lasinger

Paraguay ist als Filmland so gut wie nicht existent, lediglich die Regis­seurin Paz Encina ist mit zwei solitären Filmen in den letzten Jahren auf Festivals aufge­fallen. Marcelo Marti­nessi ist bislang nur mit Kurz­filmen hervor­ge­treten. Las herederas ist sein Lang­film­debüt, zugleich eine inter­na­tio­nale Kopro­duk­tion, was aber die originäre Hand­schrift dieses Werks nicht weiter beein­träch­tigt, wurde jetzt aber mit dem Alfred-Bauer-Preis für neue Perspek­tiven des Kinos ausge­zeichnet. Seine Haupt­dar­stel­lerin Ana Brun erhielt den Preis als beste Schau­spie­lerin.

Blickt in die Zukunft des Kinos: Las herederas

Las herederas hält sich ganz und gar in dem abge­schot­teten privaten Bezirk des gehobenen Bürger­tums in Asunción, der Haupt­stadt Paraguays, auf. Dieses Bürgertum ist Träger eines poli­ti­schen Systems einer nach dem Diktator Stroessner immer noch nicht stabi­li­sierten Demo­kratie, die weiterhin die indif­fe­rente Trägheit einer unbe­weg­li­chen sozialen Schicht tradiert. Die Sedierung und die Schock­starre aus der Zeit der Diktatur sind ihr zur zweiten Natur geworden. Das private Universum, auf das sich der Film über­zeu­gend und konse­quent beschränkt, ist das der vom offi­zi­ellen gesell­schaft­li­chen Leben ausge­schlos­senen Frauen. Männer kommen in diesem Film nur als Statisten vor.

Der Film beginnt mit einem Blick durch den Türspalt: Chela, die seit über 30 Jahren mit ihrer Lebens­ge­fährtin Chiquita im von ihrer Familie ererbten Haus lebt, mag nicht wirklich dabei sein, wenn im großen Salon Bestand­teile des Besitzes an Fremde verkauft werden. Sie zieht es vor, im Hinter­grund zu bleiben, eine Haltung, die ihr ganzes Leben prägte. Doch sie wird im Verlauf des Films gezwungen, ihre Distanz zur Wirk­lich­keit abzulegen. Denn auch ihre Partnerin hat sich verschuldet und muss darum sogar ins Gefängnis. Wie Chela nun über die Besuche im Gefängnis und durch Fahrten für ihre Nach­ba­rinnen langsam aus ihrem gewohnten Umfeld heraus­tritt, sich dann gar in eine jüngere Frau verliebt, das ist im Grunde die ganze Geschichte des Films.

Das wirkt nicht spek­ta­kulär, das kann und will der Film auch nicht sein, denn die Beschrän­kungen, die er sich in Form und Inhalt auferlegt, sind eine ästhe­ti­sche Entschei­dung. Die Kamera hält sich konse­quent an die Sicht Chelas, es ist jedoch keine subjek­tive Kamera, sie nimmt nicht Chelas optischen Stand­punkt ein, sondern zeigt, wie sie sich in dem schmalen, sie umge­benden Welt­aus­schnitt zögerlich, fast nur tastend voran­be­wegt. Was sich in größerer Ferne von ihr befindet, bleibt häufig unscharf. Die Kamera erhält im Zuge der von Chela unter­nom­menen Erkun­dungen ihrer Umwelt eine raum­er­schließende Funktion.

Der verzagte Blick durch den Türspalt, mit dem der Film beginnt, erweitert sich so nach und nach auf ein kleines Stück Welt weiter draußen. Zunächst scheint er nicht viel zu zeigen von der para­gu­ay­ischen Gesell­schaft. Aber dieser Blick ist präzise verortet. Und die Beschränkt­heit dieses Blicks sagt als Symptom wiederum sehr viel über diese Gesell­schaft und ihre langsam aushöh­lende Erstar­rung aus. Der unpro­duk­tiven, ganz aufs Private fixierten Schicht des Bürger­tums, der die von ihrem Erbe zehrende Chela angehört, kommen die bislang gültigen Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten abhanden. Die sche­men­hafte Welt darum herum nimmt Gestalt an.

Die Wahr­neh­mung dieses Films als vorwie­gend psycho­lo­gisch zu verste­hende Geschichte einer indi­vi­du­ellen Eman­zi­pa­tion innerhalb der lesbi­schen Beziehung eines Paares jenseits der Fünfzig ist sicher nicht von der Hand zu weisen (und als Thema in diesem gesell­schaft­li­chen Kontext höchst beacht­lich). So recht­fer­tigt sich auch die Auszeich­nung der Haupt­dar­stel­lerin Ana Brun in der Rolle der Chela. Dass der Film darüber hinaus­reicht, das wird mit dem Alfred-Bauer-Preis gewürdigt. Las herederas befindet sich damit in illustrer Gesell­schaft, zum Beispiel in der der Argen­ti­nierin Lucrecia Martel, deren Film La Ciénaga – Morast diesen Preis 2001 bekommen hat. Und eine gewisse Gemein­sam­keit teilen die beiden Filme bei allen Unter­schieden der visuellen Gestal­tung auch: Wie Lucrecia Martel gelingt es auch Marcelo Marti­nessi, ohne alle­go­risch zu werden, ein privates Psycho­gramm als Diagnose einer poli­ti­schen Stagna­tion lesbar zu machen.

Museo: Bemühte Mixtur

Der andere latein­ame­ri­ka­ni­sche Wett­be­werbs­film, Museo von Alonso Ruiz­pa­la­cios aus Mexiko, erhielt den Preis für das beste Drehbuch. Aller­dings über­zeugte die bemühte Mixtur aus Heist- und Roadmovie weniger, zumal sich der Film letztlich eher als Vater-Sohn-Drama entpuppt. Der mexi­ka­ni­sche Star­schau­spieler Gael García Bernal, der mit zu den ausfüh­renden Produ­zenten dieses Films zählt, gibt in seiner Rolle als die Familie nervender verbum­melter Lang­zeit­stu­dent Juan eine recht unter­halt­same, immer wieder ins Komö­di­an­ti­sche abdrif­tende Perfor­mance, ruft aber ein bisschen zu routi­niert bewährte Gesten und Formeln früherer Auftritte ab.

Die Heist-Handlung verspricht zunächst einiges an Origi­na­lität: Zusammen mit seinem Kumpel Wilson bricht Juan am Weih­nachts­abend in das anthro­po­lo­gi­sche Natio­nal­mu­seum Mexikos ein, um wertvolle Artefakte der Maya-Kultur zu stehlen. Der spek­ta­kuläre Coup gelingt tatsäch­lich (das Drehbuch beruft sich hier im Übrigen auf einen authen­ti­schen Überfall dieser Art aus dem Jahr 1985); als es darum geht, die natio­nalen Kultur­güter Mexikos weiter­zu­ver­kaufen, machen sich die beiden auf den Weg nach Acapulco und führen so ins Roadmovie über. Da der poten­ti­elle Inter­es­sent die viel zu berühmten Muse­ums­stücke als unver­käuf­lich zurück­weist, geraten die beiden Prot­ago­nisten etwas aus dem Tritt; und mit ihren verliert auch der Film zusehends an Drive und Konzen­tra­tion.Unver­rich­teter Dinge fahren die beiden wieder nach Hause. Die abschließende Konfron­ta­tion zwischen Juan und seinem Vater verpufft dann ebenso mit lautem Knall­ef­fekt wie manche groß­tue­ri­sche Insze­nie­rungs­geste der Regie.

Jedoch wirft der Film, und hierin dürfte tatsäch­lich die Haupt­qua­lität seines prämierten Drehbuchs bestehen, die für die mexi­ka­ni­sche Identität sehr wichtige Frage nach dem ange­mes­senen Umgang mit dem indigenen Erbe aus der Mayazeit auf. Bei Juan und Wilson geht die Berufung darauf mit einer trotzigen Protest­geste gegenüber dem US-Impe­ria­lismus einher. Sie nutzen ihr Wissen von dieser Kultur aber auch für ein insi­de­ri­sches Nerd­ge­baren, über das sie ihre Freund­schaft defi­nieren. So schwärmen sie etwa über die Filmmusik zu dem trashigen Mythen­melo »La noche de los Mayas« von dem Viel­filmer Chano Urueta aus dem Jahr 1939. Diese Musik, eine Orches­ter­suite gleichen Titels, »La noche de los Mayas«, stammt von dem Kompo­nisten Silvestre Revueltas, der als mexi­ka­ni­scher Stra­winsky gelten kann und der indigenes kultu­relle Erbe als Inspi­ra­ti­ons­quelle für seine Programm­musik verar­bei­tete.

Die nationale Aufregung, die der Raub der Artefakte bei den offi­zi­ellen Stellen und bei dem sich patrio­tisch gebär­denden Vater des Prot­ago­nisten auslöst, findet im Film eine viel­sa­gende Entlar­vung als rheto­ri­sches Lippen­be­kenntnis, wenn die kontrol­lie­rende Mili­tär­po­lizei das Diebesgut nicht erkennt und als bloß kunst­hand­werk­li­chen Nippes einstuft, wie man es an Touristen verscher­belt. Doch nach diesen viel­ver­spre­chenden Ansätzen wird die Frage nicht weiter­ver­han­delt, sie dient in Form des Diebes­guts nur als Plot­ele­ment und erscheint am Ende als bloßer MacGuffin, der dem Vater-Sohn-Konflikt eine größere Dimension und mehr Tief­grün­dig­keit verleihen soll.