68. Berlinale 2018
Psychogramm als Diagnose |
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Öffnet Fenster auf ein neues Kino: Las herederas | ||
(Foto: Luxbox / Berlinale) |
Paraguay ist als Filmland so gut wie nicht existent, lediglich die Regisseurin Paz Encina ist mit zwei solitären Filmen in den letzten Jahren auf Festivals aufgefallen. Marcelo Martinessi ist bislang nur mit Kurzfilmen hervorgetreten. Las herederas ist sein Langfilmdebüt, zugleich eine internationale Koproduktion, was aber die originäre Handschrift dieses Werks nicht weiter beeinträchtigt, wurde jetzt aber mit dem Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven des Kinos ausgezeichnet. Seine Hauptdarstellerin Ana Brun erhielt den Preis als beste Schauspielerin.
Las herederas hält sich ganz und gar in dem abgeschotteten privaten Bezirk des gehobenen Bürgertums in Asunción, der Hauptstadt Paraguays, auf. Dieses Bürgertum ist Träger eines politischen Systems einer nach dem Diktator Stroessner immer noch nicht stabilisierten Demokratie, die weiterhin die indifferente Trägheit einer unbeweglichen sozialen Schicht tradiert. Die Sedierung und die Schockstarre aus der Zeit der Diktatur sind ihr zur zweiten Natur geworden. Das private Universum, auf das sich der Film überzeugend und konsequent beschränkt, ist das der vom offiziellen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Frauen. Männer kommen in diesem Film nur als Statisten vor.
Der Film beginnt mit einem Blick durch den Türspalt: Chela, die seit über 30 Jahren mit ihrer Lebensgefährtin Chiquita im von ihrer Familie ererbten Haus lebt, mag nicht wirklich dabei sein, wenn im großen Salon Bestandteile des Besitzes an Fremde verkauft werden. Sie zieht es vor, im Hintergrund zu bleiben, eine Haltung, die ihr ganzes Leben prägte. Doch sie wird im Verlauf des Films gezwungen, ihre Distanz zur Wirklichkeit abzulegen. Denn auch ihre Partnerin hat sich verschuldet und muss darum sogar ins Gefängnis. Wie Chela nun über die Besuche im Gefängnis und durch Fahrten für ihre Nachbarinnen langsam aus ihrem gewohnten Umfeld heraustritt, sich dann gar in eine jüngere Frau verliebt, das ist im Grunde die ganze Geschichte des Films.
Das wirkt nicht spektakulär, das kann und will der Film auch nicht sein, denn die Beschränkungen, die er sich in Form und Inhalt auferlegt, sind eine ästhetische Entscheidung. Die Kamera hält sich konsequent an die Sicht Chelas, es ist jedoch keine subjektive Kamera, sie nimmt nicht Chelas optischen Standpunkt ein, sondern zeigt, wie sie sich in dem schmalen, sie umgebenden Weltausschnitt zögerlich, fast nur tastend voranbewegt. Was sich in größerer Ferne von ihr befindet, bleibt häufig unscharf. Die Kamera erhält im Zuge der von Chela unternommenen Erkundungen ihrer Umwelt eine raumerschließende Funktion.
Der verzagte Blick durch den Türspalt, mit dem der Film beginnt, erweitert sich so nach und nach auf ein kleines Stück Welt weiter draußen. Zunächst scheint er nicht viel zu zeigen von der paraguayischen Gesellschaft. Aber dieser Blick ist präzise verortet. Und die Beschränktheit dieses Blicks sagt als Symptom wiederum sehr viel über diese Gesellschaft und ihre langsam aushöhlende Erstarrung aus. Der unproduktiven, ganz aufs Private fixierten Schicht des Bürgertums, der die von ihrem Erbe zehrende Chela angehört, kommen die bislang gültigen Selbstverständlichkeiten abhanden. Die schemenhafte Welt darum herum nimmt Gestalt an.
Die Wahrnehmung dieses Films als vorwiegend psychologisch zu verstehende Geschichte einer individuellen Emanzipation innerhalb der lesbischen Beziehung eines Paares jenseits der Fünfzig ist sicher nicht von der Hand zu weisen (und als Thema in diesem gesellschaftlichen Kontext höchst beachtlich). So rechtfertigt sich auch die Auszeichnung der Hauptdarstellerin Ana Brun in der Rolle der Chela. Dass der Film darüber hinausreicht, das wird mit dem Alfred-Bauer-Preis gewürdigt. Las herederas befindet sich damit in illustrer Gesellschaft, zum Beispiel in der der Argentinierin Lucrecia Martel, deren Film La Ciénaga – Morast diesen Preis 2001 bekommen hat. Und eine gewisse Gemeinsamkeit teilen die beiden Filme bei allen Unterschieden der visuellen Gestaltung auch: Wie Lucrecia Martel gelingt es auch Marcelo Martinessi, ohne allegorisch zu werden, ein privates Psychogramm als Diagnose einer politischen Stagnation lesbar zu machen.
Der andere lateinamerikanische Wettbewerbsfilm, Museo von Alonso Ruizpalacios aus Mexiko, erhielt den Preis für das beste Drehbuch. Allerdings überzeugte die bemühte Mixtur aus Heist- und Roadmovie weniger, zumal sich der Film letztlich eher als Vater-Sohn-Drama entpuppt. Der mexikanische Starschauspieler Gael García Bernal, der mit zu den ausführenden Produzenten dieses Films zählt, gibt in seiner Rolle als die Familie nervender verbummelter Langzeitstudent Juan eine recht unterhaltsame, immer wieder ins Komödiantische abdriftende Performance, ruft aber ein bisschen zu routiniert bewährte Gesten und Formeln früherer Auftritte ab.
Die Heist-Handlung verspricht zunächst einiges an Originalität: Zusammen mit seinem Kumpel Wilson bricht Juan am Weihnachtsabend in das anthropologische Nationalmuseum Mexikos ein, um wertvolle Artefakte der Maya-Kultur zu stehlen. Der spektakuläre Coup gelingt tatsächlich (das Drehbuch beruft sich hier im Übrigen auf einen authentischen Überfall dieser Art aus dem Jahr 1985); als es darum geht, die nationalen Kulturgüter Mexikos weiterzuverkaufen, machen sich die beiden auf den Weg nach Acapulco und führen so ins Roadmovie über. Da der potentielle Interessent die viel zu berühmten Museumsstücke als unverkäuflich zurückweist, geraten die beiden Protagonisten etwas aus dem Tritt; und mit ihren verliert auch der Film zusehends an Drive und Konzentration.Unverrichteter Dinge fahren die beiden wieder nach Hause. Die abschließende Konfrontation zwischen Juan und seinem Vater verpufft dann ebenso mit lautem Knalleffekt wie manche großtuerische Inszenierungsgeste der Regie.
Jedoch wirft der Film, und hierin dürfte tatsächlich die Hauptqualität seines prämierten Drehbuchs bestehen, die für die mexikanische Identität sehr wichtige Frage nach dem angemessenen Umgang mit dem indigenen Erbe aus der Mayazeit auf. Bei Juan und Wilson geht die Berufung darauf mit einer trotzigen Protestgeste gegenüber dem US-Imperialismus einher. Sie nutzen ihr Wissen von dieser Kultur aber auch für ein insiderisches Nerdgebaren, über das sie ihre Freundschaft definieren. So schwärmen sie etwa über die Filmmusik zu dem trashigen Mythenmelo »La noche de los Mayas« von dem Vielfilmer Chano Urueta aus dem Jahr 1939. Diese Musik, eine Orchestersuite gleichen Titels, »La noche de los Mayas«, stammt von dem Komponisten Silvestre Revueltas, der als mexikanischer Strawinsky gelten kann und der indigenes kulturelle Erbe als Inspirationsquelle für seine Programmmusik verarbeitete.
Die nationale Aufregung, die der Raub der Artefakte bei den offiziellen Stellen und bei dem sich patriotisch gebärdenden Vater des Protagonisten auslöst, findet im Film eine vielsagende Entlarvung als rhetorisches Lippenbekenntnis, wenn die kontrollierende Militärpolizei das Diebesgut nicht erkennt und als bloß kunsthandwerklichen Nippes einstuft, wie man es an Touristen verscherbelt. Doch nach diesen vielversprechenden Ansätzen wird die Frage nicht weiterverhandelt, sie dient in Form des Diebesguts nur als Plotelement und erscheint am Ende als bloßer MacGuffin, der dem Vater-Sohn-Konflikt eine größere Dimension und mehr Tiefgründigkeit verleihen soll.