71. Filmfestspiele Cannes 2018
Wo liegt die Wahrheit hinter dem »weiblichen Blick«? |
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Wahlverwandtschaft: Hirokazu Kore-edas Shoplifters |
Kristin Stewart, Léa Seydoux, und vor allem Cate Blanchett – heute Abend ist die Stunde der Wahrheit, nach der werden wir dann wissen, was man unter einem weiblichen Blick auf das Kino tatsächlich verstehen muss. Wird eine mehrheitlich klar mit Frauen besetzte Jury in ihrer Entscheidung aus den 21 Filmen im Wettbewerb tatsächlich einen Unterschied machen, ein ganz anders gestaltetes Preisbouquet kreieren? Wird sie nach äußeren Kriterien entscheiden,
geschlechterpolitisch oder marginalisierte Regionen bevorzugen – oder gerade nicht? Oder geht es am Ende tatsächlich um das, worum es doch ausschließlich gehen sollte bei einem Kunstfestival: Um die ästhetische Qualität der Filme und die künstlerische Leistung der Filmemacher.
Und was könnte »weiblicher Blick« eigentlich überhaupt bedeuten? Dass endlich wieder eine Frau die Goldene Palme erhält, 28 Jahre nach Jane Campion? Oder vielleicht ein älterer Mann, weil
er von einem jungen Mann erzählt, der mit absoluter Sicherheit weiß, dass ein gleichaltriger Bekannter einen Frauenserienmörder ist – da er dies aber nie und nimmer beweisen kann, nimmt er das Gesetz in die eigene Hand, tötet den Massenmörder und rächt nebenbei den Mord an seiner Freundin. Der Koreaner Lee Chang-dong, ein bekannter Autorenfilmer erzählt genau diese Geschichte in seinem Wettbewerbsbeitrag Burning – ein hervorragender Film, der trotzdem eher keinen Preis bekommen dürfte, weil er zu sperrig ist, zu beiläufig, nie um Applaus giert.
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Sollte eine Frau die Goldpalme gewinnen, dann wäre Alicia Rohrwacher favorisiert, die erst 36-jährige Italienerin, deren Film Lazzaro felice einer der wenigen Wettbewerbsfilme ist, die ich verpasst habe. Nach allem, was man hört – ich kann da zum Beispiel Lukas Sterns tollen Text auf critic.de empfehlen – steht diese Heiligengeschichte in der besten humanistischen
und ästhetischen Tradition des großen italienischen Nachkriegskinos, besitzt zudem eine Menge Humor, und erzählt von der Möglichkeit des Glücks in einer Wahlverwandtschafts-WG, mit einem Hauch von Aussteiger-Trost. Beide Filme verbindet, dass sie vom Turbokapitalismus der Gegenwart erzählen und von dessen Folgen in den jeweiligen Ländern.
Darum geht es auch bei The Shoplifters vom Japaner Hirokazu Kore-eda: Gestrandete der Gesellschaft, die dem
hohen sozialen Druck der japanischen Gesellschaft nicht genügen, bilden ein Wahlverwandtschaft-Patchwork: Zwei junge Frauen, zwei verwahrloste Kinder, die von ihren prügelnden Eltern fliehen, ein Kleinkrimineller und eine alte Frau, die nicht alleine sterben will. Kore-eda inszeniert im Einzelnen großartig, besonders die Kinder, und formt im Ganzen das Bild einer versagenden Gesellschaft, das ahnen lässt, welches Unheil Normierungszwang und technokratische Institutionen
anrichten.
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Ich hoffe, dass Nadine Labaki für ihren Film Capernaüm, über den wir in den nächsten Tagen noch mehr schreiben werden, keinen Preis bekommt. Der Film über Kinder aus den Slums von Beirut »funktioniert«, ist schlau und technisch avanciert gemacht. Ob ich ihr das Engagement abnehmen soll, weiß ich nicht. Eher ist dies eine zynische Kalkulation auf eine Palme. In jedem Fall aber ist Capernaüm klassisches Exploitation-Kino. 500 Stunden hat
Labaki gedreht, konnte man erfahren. Ihre Hauptfigur ist ein zwölfjähriger Junge. Der rettet erst das Baby einer äthiopischen Geflüchteten, und verklagt dann seine Eltern. Labaki liegt kluge, engagierte Worte in den Mund des Jungen, zu weise Worte.
Aber diesen Vorwurf, da müssen wir ehrlich sein, könnte man auch manchem Neorealisten machen. Erkennbar setzt Labaki auf die sentimentalen Gefühle des breiten Publikums gegenüber einem Kind.
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Viele andere Filme erzählten Geschichten aus der Vergangenheit: Der wohl beste unter ihnen stammt vom Russen Kirill Serebrenikov, der bereits in Stuttgart und Hamburg Opern inszenierte, und als Putin-Gegner derzeit unter Hausarrest gestellt ist. Sein Film Leto über den jugendlichen Aufbruch im Leningrad der frühen 80er Jahre, ist »ganz großes Kino«, und hält nach wie vor einen der Spitzenplätze in den Besucher-Umfragen über die besten Filme. Daneben führen der Chinese Jia Zhang-ke und der Franzose Stéphane Brizé: Dessen Film »En guerre erzählt nüchtern und halbdokumentarisch von einer Handvoll Gewerkschaftsführer, die einen Streik von über 1100 Fabrikarbeitern organisieren.«
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Das inhaltliche Leitmotiv vieler Filme war in diesem Jahr Großzügigkeit und Freundschaft: Man sah viele Menschen, die sich großzügig und human verhalten. Man sah viele soziale Netzwerke. Auffallend gut war die Musikauswahl vieler Filme, und immer wieder spielte das Feuer eine besondere Rolle.
Auch um das Böse ging es, die Frage nach dem Guten in dieser Welt.
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Wir sind alle in einem Zombie-Zustand. Dafür sorgen auch Filme wie Ayka von Sergeij Dvortsevoy. Mein Körper hat diesen Film von Anfang an zurückgewiesen, und nach etwa zehn Minuten gab ich dem nach, und verschlief den kompletten Film. Immer wieder wachte ich kurz auf, wenn besonders laut geschrien, gejammert oder geschimpft wurde – hängen blieb der diffuse Eindruck einer
Tour de Force des Emotionalisierens.
Der Vorteil dieses Schlafs war, dass ich für den letzten Film im Wettbewerb, den dreistündigen Ahlat agaci von Nuri Bilge Ceylan (Wintersleep), der auch eher zu den slow burnern gehört, frisch ausgeschlafen und mehr als gerüstet war.
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Mit dem in Paris lebenden israelischen Filmkritiker Ariel Schweitzer sprach ich nach dem Film über die Qualität des Wettbewerbs. »Es ist nicht schlimm, dass die Amerikaner weg sind«, sagte Ariel und verteidigte den Cannes-Kurs einer sachten Veränderung: »Die Stars braucht Cannes nicht, Frémaux muss so weitermachen, die Jungen holen.« Auch das politische Vorgehen gegen Netflix finden wir beide gut. Um die Position des Festivals nun aber gegenüber der quengelnden Industrie zu untermauern, wird es wichtig sein, dass die Palme in diesem Jahr nicht an einen Film geht, der das Gegenteil von aller Vermarktbarkeit ist.
(to be continued)