24.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Die Anfäl­lig­keit für das Äußerliche

Der Leopard
Unsere glückliche Familie: Gewinner ist The Shoplifters

Sanfter Irrsinn: Eine gute Goldene Palme, aber aus falschen Gründen. Die Preise in Cannes – Cannes-Notizen, 11. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Der Japaner Hirokazu Kore-eda gewinnt die Goldene Palme von Cannes für seinen 12. Spielfilm The Shop­lif­ters. Dies ist eine über­fäl­lige Auszeich­nung für einen Regisseur, der seit gut zwanzig Jahren ein Stammgast auf den beiden führenden Film­fes­ti­vals der Welt, in Cannes und Venedig, ist. Endlich, endlich ist der 55-Jährige damit nun im Olymp der Kino­re­gis­seure ange­kommen!
Dies ist die erste Goldene Palme für einen Japaner, seit 1997 Shohei Imamura für Der Aal ausge­zeichnet wurde – aller­dings damals ex aequo mit Abbas Kiaros­tami. Kore-eda ist erst der vierte Japaner, der diesen Preis gewann (Imamura hatte bereits 1983 gewonnen).

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Die weiteren Wett­be­werbs-Preise verteilen sich wie folgt: Großer Preis der Jury: BlacKkKlansman von Spike Lee; Beste Regie: Pawel Pawli­kowski (für Cold War); Preis der Jury: Capernaüm von Nadine Labaki; Spezial Goldene Palme: Le livre d’image von Jean-Luc Godard; Bestes Drehbuch: Alice Rohr­wa­cher Lazzaro felice ex aequo mit Nader Saeivar und Jafar Panahi (Three Faces); Beste Darstel­lerin: Samal Yesly­amova Ayka; Bester Darsteller: Marcello Fonte (Dogman).

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Der Haupt­preis ist gut. Auch in meiner persön­li­chen Besten-Liste hatte Kore-eda relativ weit vorn gelegen, aber dann doch erst an vierter Stelle.
Meine persön­liche Goldene Palme wäre an Leto vom Russen Kiril Sere­bren­nikov gegangen, den schönsten und inter­es­san­testen Film des Wett­be­werbs, wenn schon nicht den besten. Der beste Film, ganz objektiv betrachtet, war wohl Burning von Lee Chang-dong – meine Nummer zwei. Direkt dahinter kommt Ash is the purest White von Jia Zhang-ke. Dann Kore-eda. Und schon hier kann man herum­mäkeln, wenn auch noch auf hohem Niveau.
Was dagegen wirklich ärgert sind die meisten anderen Preise. Das Preis­bou­quet, also die Konstel­la­tion aus The Shop­lif­ters, BlacKkKlansman und Capernaüm, macht klar, dass die Jury offenbar zu keinem Moment ernsthaft über Filmkunst debat­tiert hat. Vielmehr ist offen­kundig: Filme mit einer eher platt (sorry, Spike Lee) zur Schau getra­genen, nach fünf Film­mi­nuten gesetzten und sehr eindeu­tigen poli­ti­schen Botschaft haben Preis­chancen, und Filme mit Kindern in tragender Rolle. Ist das der weibliche Blick? Wenn diese Entschei­dung jeden­falls ausfor­mu­liert, was »weib­li­cher Blick« heißen könnte, dann wäre dieser ein schmie­riger, inhal­tis­ti­scher, er ist altmo­disch und senti­mental, im schlech­testen Sinn des Wortes gutmen­schelnd und politisch korrekt.
Im Ergebnis ist die Palme also zwar gut, aber aus den falschen Gründen vergeben worden.

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Eine »Spezial Goldene Palme« für Jean-Luc Godard – das enthüllt eigent­lich am besten den sanften Irrsinn, der in der Jury geherrscht haben muss.

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Man möchte ja schon gerne mal wissen, wie es in so einer Jury zugeht. Zwei Wochen lang ist da eine Gruppe von erwach­senen, selbst­be­wussten Menschen von einem Festival in eine Art luxuriöse Geisel­haft genommen worden. Nach den Filmen gibt es einen Empfang. Oder zwei, oder drei. Man muss nur die täglichen Bran­chen­ma­ga­zine lesen – »Hollywood Reporter«, »Variety«, »Screen«, die in Cannes überall herum­liegen, und deren Lektüre Pflicht wie Zeit­ver­treib ist, und einem nebenbei klar macht, was man alles verpasst hat – um sich darüber keine Illu­sionen zu machen, womit vor allem die weib­li­chen Jury­mit­glieder ihre Zeit verbringen – da können sie tagsüber noch so schöne Reden über »Me Too« und Sexismus halten – am Abend wird aufge­ta­kelt, der hauch­dünne Fummel jenes Mode­schöp­fers angezogen, mit dem man gerade einen Vertrag hat, und dann die Haut auf der Party des Abends noch ein bisschen zur Schau getragen.

Aber was macht dann, sagen wir mal Kristin Stewart, wenn sie nachts um drei endlich in ihr Hotel­zimmer kommt? Liest sie noch eines jener Bücher zur Einfüh­rung in den Post­struk­tu­ra­lismus, aus dem sie dann in Inter­views klug zu zitieren versucht? Viel­leicht. Also sagen wir: Léa Seydoux, nachts um drei nach drei Filmen und zwei Partys leicht ange­säu­selt im Hotel. Öffnet sie dann noch ihr Laptop, guckt auf ihre Facebook-Seite und ins E-Mail-Fach? Dort dürfte sie dann pro Tag etwa 200 Mails vorfinden, in denen ihr ihr erwei­terter Bekann­ten­kreis Ratschläge gibt à la: Der Film X war super, der muss unbedingt einen Preis kriegen, oder der Film Y war ja eine Kata­strophe, den dürft ihr nicht auszeichnen.

Natürlich ist das jetzt zuge­spitzt, aber so stelle ich mir das vor.
Neben derglei­chen persön­li­chen Beein­flus­sungen geht es in einer Jury immer darum, wer sich mit wem versteht. Wenn dann entschieden wird, zählen solche persön­li­chen Bündnisse mehr als Geschmack. Und es zählt natürlich Argu­men­ta­ti­ons­fähig­keit: Wer sich sehr für oder gegen etwas einsetzt, wer sich sicher ist, und wer das auch noch gut begründen kann, wird in so einer Jury den Ton angeben – so lange er freund­lich bleibt, nicht dominant ist, und zu allen nett zu sein versucht. Da gibt es dann Leute, die haben eine poli­ti­sche Agenda, die steht schon vorher fest: Der und der soll gewinnen. Andere gucken einfach naiv. Aber Jurys machen Kompro­misse.
Man möchte es sich ja gar nicht zu genau vorstellen, wie ist das wohl ist in der Jury.

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»Die Jury ist auch vom Festival instru­men­ta­li­siert worden«, sagt Engin nach der Preis­ver­lei­hung: Das Festival habe »poli­ti­sche Preise« und einen Cineasten wie Kore-eda gewollt.

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Weitere Preise:

FIPRESCI-Preise:
Wett­be­werb: Burning (Lee Chang-dong)
Un Certain Regard: Girl (Lukas Dhont)
Nebensek­tionen: One Day (Zsófia Szilàgyi)

Goldene Palme für den besten Kurzfilm: All These Creatures (Charles Williams)
Lobende Erwähnung: Yan bian shao nian (Wei Shujun)

Caméra d’Or für den besten Debütfilm: Girl (Lukas Dhont)

Un Certain Regard:Bester Film: Gräns (Ali Abbasi)
Spezi­al­preis der Jury: Chuva e Cantoria na Aleida dos Mortos (Joao Salaviza / Renee Nader Messora)
Bester Schau­spieler: Victor Polster in Girl
Beste Regie: Sergei Loznitsa für Donbass
Bestes Drehbuch: Meryem Benm'barek für Sofia

Ciné­fon­da­tion
1. Preis: The Summer of the Electric Lion (Diego Céspedes)
2. Preis: Calender (Igor Polauhin), The Storms in Our Blood (Shen Di) (ex aequo)
3. Preis: Inanimate (Lucia Bulghe­roni)

Quinzaine des réali­sa­teurs
Art Cinema Award: Climax (Gaspar Noé)
Prix SACD (bester fran­zö­sisch­spra­chiger Film): En liberté (Pierre Salvadori)
Label Europa Cinema Award: Troppa grazia (Gianni Zanasi)
Illy Preis für den besten Kurzfilm: Skip Day (Ivette Lucas, Patrick Bresnan)
Carosse d’Or: Martin Scorsese

Semaine de la critique
Nespresso Grand Prize for La Semaine de la Critique : Diaman­tino (Gabriel Abrantes, Daniel Schmidt)
Prix SACD: Benedikt Erlingsson und Ólafur Egill Egilsson für das Drehbuch von Woman at War
Canal+ Short Film Award: A Wedding Day (Elias Belkeddar)
Gan Foun­da­tion Support for Distri­bu­tion Prize: Sir (Rohena Gera)
Louis Roederer Foun­da­tion Rising Star Award: Félix Maritaud für Sauvage (Camille Vidal-Naquet)
Leica Cine Discovery Award: Ektoras Malo : I Teleftea Mera Tis Chronias (Jacque­line Lentzou)

(to be continued)