Cinema Moralia – Folge 170
Niemand hört gern sein eigenes Todesurteil |
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Assayas' Abgesang auf das alte Leben Ende eines Sommers ist noch auf »arte« zu sehen |
»Es ist heute die Aufgabe der Kunst, Chaos in die Ordnung zu tragen.«
Theodor W. Adorno
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Unbedingt ansehen muss man auf der Arte-Mediathek Olivier Assayas' Film durch und durch nostalgischen, trotzdem ganz gegenwärtigen Film Ende eines Sommers.
Der Film handelt von Frankreich und den Folgen der Globalisierung in den Nuller-Jahren. In drei zwischen Amerika und Fernost zerrissenen Geschwistern schwebt mehr als ein Hauch vom »Bling Bling« der Sarkozy-Präsidentschaft und des neureichen Börsentrubels, der etwa zeitgleich zur Premiere des
Films im Herbst 2008 in der Finanzblase zerbarst. Die von Charles Berling gespielte Figur des Frédéric steht demgegenüber für das alte Frankreich, für ein Frankreich, das im Strudel der Globalisierung und des Triumphs eines ungerichteten Kapitalismus ebenfalls rasant zu verschwinden scheint.
Dies ist ein Film über das Ende eines Zeitalters, ja: eines ganzen Lebensstils, des bürgerlichen und über das Downsizing dessen, das einmal »abendländische Kultur« genannt wurde. Anhand einer Familie, die den immensen Nachlass der toten Mutter loswerden muss, will Assayas zeigen: Es sind nicht nur die Gegenstände, die verschwinden, es ist ihre Magie, das Geheimnis, das sie bergen, und mit dem Verschwinden dieser Geheimnisse verschwindet alles andere.
Von Referenzen an französische Filmklassiker – von Renoir bis zur »Nouvelle Vague« – ebenso erfüllt, wie zur französischen Malerei ist dies auch ein Film, dem es gelingt, in all diesen Bezügen und seiner Sehnsucht ganz gegenwärtig zu sein, und aus der Vergangenheit utopische Kraft zu ziehen. Nie wird es sentimental, alle Figuren sind gleichermaßen erwachsen und intelligent, verständlich und sympathisch – es sei das Schrecklichste im Leben der Menschen, heißt es in Jean Renoirs Die Spielregel, »dass alle gute Gründe haben.«
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Warum ist ausgerechnet dieser Film seinerzeit im Gegensatz zu den allermeisten Assayas-Filmen bei uns nicht ins Kino gekommen und auch sonst kaum wahrgenommen worden? Möglicherweise, weil niemand gern sein eigenes Todesurteil hört, und weil unsere Kultur bislang noch keinen Weg gefunden hat, um aus dem Modus des Antiquarischen, Musealen, aus ihrer allumfassenden Kommerzialisierung herauszufinden.
Vielleicht will man das, was Olivier Assayas uns zu erzählen hat, ungern
hören, vielleicht möchte man das Ende des Sommers noch nicht wahrhaben?
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Am kommenden Wochenende findet in Mannheim im kommunalen »Cinema Quadrat« das 16. Filmseminar »Film & Psychoanalyse« statt. Es ist dem Werk des Regisseurs François Ozon gewidmet.
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Was es alles gibt in Berlin! Die HFF Konrad Wolf, die sich seit drei Jahren aus schwer verständlichen Gründen »Filmuniversität Potsdam« nennt, und von außen betrachtet ziemlich gemütlich im eigenen Saft schwimmt, hat vor Ort heftige Konkurrenz durch kleine flotte Hochschulschnellboote, die sehr interessante Filmprogramme machen.
So gibt es nicht nur eine »Hochschule der Populären Künste«, sondern auch die »Dekra Hochschule für Medien«.
Beide zusammen machen an diesem Freitag eine spannende Tagung zum Thema »Populismus in Fernsehserien«, die auch für Außenstehende
prinzipiell geöffnet ist. Marcus Stiglegger hat mich eingeladen, mit ihm über »Das Politische in Serien« zu sprechen – und genau das werden wir tun.
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Totgesagte leben länger. Immer wieder hat man dem »Filmdienst« sein Todesurteil ausgestellt, doch auch dieser Tote steht immer wieder auf. Nachdem die Printausgabe jetzt doch eingestellt wurde, hat man sich entschlossen das Filmmagazin auch über das 71. Jahr seiner Existenz weiterzuführen – als Online-»Portal für Kino und Filmkultur«.
»Das digitale Angebot setzt mit neuen Mitteln fort, was seit sieben Jahrzehnten der Auftrag der Zeitschrift war: Den Lesern und Nutzern unter christlicher Perspektive einen erhellenden Einblick in das cineastische Angebot zu geben«, sagt der zuständige Geschäftsführer Theo Mönch-Tegeder.
Statt vierzehntägig gibt es nun Tag für Tag neue Lektüre und »Film« heißt nicht mehr nur Kino. Das leuchtet ein in Zeiten von Serien, Streaming-Angebote, DVDs und den Mediatheken der Fernsehsender. Darüber darf und sollte man debattieren – allemal ist der Look attraktiv. Zudem wird das wertvolle, bundesweit einmalige »Lexikon des internationalen Films« weitergeführt. Für eine Gebühr von 19,90 € kann man ein Jahr lang nach Lust und Laune in den Tiefen der Filmdatenbank recherchieren
Erklärtes Ziel ist, mit einem geringeren Mitteleinsatz eine deutlich höhere Reichweite zu erzielen. Das Ende der Zeitschrift und der Wechsel ins Netz waren darin begründet.
Überlegungen, die den Medienwechsel mit einer grundlegenden Neuausrichtung zu verbinden, kamen glücklicherweise nicht zum Zug. Der neue »Filmdienst« verdient alle Aufmerksamkeit und mehr als eine faire Chance bei allen cinephilen Lesern.
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Der Brief der hundert französischen Frauen zur »MeToo«-Debatte, der vor allem den Neopuritanerinnen in Deutschland und den USA übel aufstieß, hat einmal mehr auf die prinzipiellen kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich aufmerksam gemacht. Aus diesen Gründen ist auch das Kino beider Länder unvergleichbar.
Ein interessanter Text dazu erschien bereits am 30.10.17 in der »SZ« auf Seite 3: Hilmar Klute portraitierte dort in einem ganz wunderbaren Text des Schweizer Schriftsteller Paul Nizon. Darin findet sich, wie in einem vorgezogenen Kommentar zur »MeToo«-Kampagne folgende Passage:
»Es stimmt schon: In Deutschland, wo jeder, der einer Frau im Restaurant in den Mantel hilft, unter den Verdacht der Misogynie gestellt wird, würden Nizons schöne poetische Frauenporträts, seine immer
ästhetischen Sexbeschreibungen wohl gnadenlos niedergegendert. 'Es gibt in Deutschland keinen Gran an Erotik', sagt Nizon: 'Ich wüsste keinen Grund, dort zu leben.'«
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Am Wochenende mal wieder eine Serie: »Stranger Things« – wurde auch Zeit, kann man jetzt gut sagen. Jedenfalls ist die Serie sehr empfehlenswert. Danach dann die Überlegung, warum trotz allem »Dark« so viel schwächer ist?
Weil die Amis es ernst meinen, und die Deutschen nur so tun. Die Deutschen sagen: »Wir wollen jetzt mal so 'ne Serie machen wie die Amerikaner.« Die Amis: »Wir wollen das und das erzählen.« Und wenn es nur die 80er-Nostalgie ist.
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Auch sonst lief am Wochenende der Fernseher, während ich in der Wohnung herumgeräumt habe. Stundenlang CNN. Unerträglich, ja, aber auch unerträglich faszinierend ist diese nicht ablassende Dauerbessessenheit seit einem Jahr mit Trump. Warum kann man ihn nicht einfach mal ignorieren?
Trump-Fasten ist dringend empfehlenswert. Man sollte das aufmerksamkeitshungrige Kind durch Aufmerksamkeitsentzug bestrafen.
Gelohnt hat sich das Interview mit Condoleeza Rice, die
ein Buch geschrieben hat. Rechts, aber klug – das gibt es. Sie nutzte den Trump-Kontrast, um etwas mehr Gerechtigkeit für George W. Bush zu erbitten.
Was macht eigentlich Chaney, dachte ich noch…
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Man sollte es verbieten können, dass englische Filmtitel von deutschen Verleihern in neue englische (!) Filmtitel umbenannt werden dürfen. So geschehen jetzt von der Constantin. Aus Lynne Ramseys You Were Never Really Here wird A Beautiful Day. Geht’s noch?
Die blutrünstige
Joaquin-Phoenix-Narzissmus-Übung werden mit einer derartigen Publikumsveräppelung noch weniger Leute sehen wollen.
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Es sei Aufgabe der Kunst, »Chaos in die Ordnung zu tragen«, schrieb Adorno. Das gilt genauso auch für die Kritik. Und für Filmfestivals.
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Eine Frau und noch viel wichtiger: Eine unter Vierzigjährige! In einer Filmwelt, die zunehmend vergreist und entweder zum Teenie-Schulparty oder zur Neo-Oper für Senioren mutiert, hat die Viennale eine neue Leiterin, die zu beiden Möglichkeiten eine klare Alternative darstellt.
Die 39-jährige aus Bologna stammende Eva Sangiorgi wird neue künstlerische Leiterin und Nachfolgerin des im Sommer überraschend verstorbenen Hans Hurch. Eine gute und spannende Wahl!
Die
Italienerin lebt seit Jahren in Mexiko, wo sie Kunstgeschichte studierte und 2010 das Festival Internacional de Cine UNAM (FICUNAM) begründete, dessen künstlerische und kaufmännische Intendantin sie ist. Seit Jahren ist Sangiorgi auch regelmäßiger Gast auf der Viennale.
Von ihr ist bei aller Offenheit für das Neue daher eine Fortführung dieses weltweit bedeutenden Festivals im Geiste Hans Hurchs zu erwarten.
Wer einen grundlegenden Strukturwandel der Viennale –
hin zu Polismus, Eventkultur und billiger Publikumshörigkeit erhofft hatte, dürfte mit dieser Wahl enttäuscht sein. Sangiorgi interessiert sich für neue Formen, aber auch für Filmgeschichte und Politik.
Entschieden hat zwar der Wiener Klüngel aus Interimsleiter Schwartz und sechs Mitgliedern des Viennale-Kuratoriums, es soll dies aber eine Entscheidung »gegen die Wiener Cliquen« sein, wie die Verantwortlichen der Kulturpolitik überraschend undiplomatisch bereits
während der laufenden Bewerbung formulierten.
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Allemal kann Kulturstaatsministerin Grütters aus der Entscheidung Anregungen ziehen, um auch bei der Berlinale-Direktion für überraschende Entscheidungen zu sorgen: Jung, ausländisch, keine Cliquen, das wäre mal was. Und in paar der Viennale-Bewerber, die jetzt nicht zum Zuge kamen, könnte jetzt in Berlin ran: Zum Beispiel Christine Dollhofer, die im letzten Herbst bei meinen Cafehausgesprächen als Geheimfavoritin auf die Hurch-Nachfolge gehandelt worden war.
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»Mit der Veranstaltungsreihe ›Koloniales Erbe / Colonial Repercussions‹ lädt die Akademie der Künste ein, über die Strukturen kolonialer Machtverhältnisse, die bis heute in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft wirksam sind, nachzudenken. Im Zeitraum von Januar bis Juni 2018 beschäftigen sich drei zweitägige Symposien in Vorträgen, Panels, Performances, künstlerischen Arbeiten und Workshops damit, die blinden Flecken des kolonialen Erbes auszuleuchten.«
Die Aufarbeitung des Kolonialismus bietet ein visionäres Moment für die Zukunft Europas. Im Zentrum der Veranstaltungsreihe steht die Frage nach dem bis heute spürbaren Vermächtnis des europäischen Kolonialismus: Wie wirkt er in Europa und der Welt nach? Wie können überkommene Machtstrukturen aufgebrochen und die damit verbundene Angst, Macht abzugeben, überwunden werden? Und wie sähe eine Gesellschaft aus, die Kreativität aus der Vielfalt heraus entwickelt und nicht aus einer weißen, hegemonialen Wissenstradition ableitet?
Das ist schon eine sehr billige, und links-konservative Ankündigung, die hier von der Akademie der Künste zu hören ist. Die Rede von der »weißen, hegemonialen Wissenstradition« ist ein alter Hut aus den USA der 90er.
Wirklich spannend wäre es, wenn die Aufforderung zur Selbstkritik von den Kuratoren ernstgenommen würde, und man an der AdK den längst als Mainstream herrschenden »antiimperialistischen« und »postkolonialen« Diskurs infrage stellen würde.
(to be continued)