29.03.2018
Cinema Moralia – Folge 173

Unten und oben auf dem Teppich

Meyerwitz Stories
Noch letztes Jahr haben Netflix-Produktionen wie The Meyerowitz Stories in Cannes die Gemüter erhitzt. Damit ist jetzt Schluss. Es lebe das Kino!

Kino statt Selfies und Streams: Das Filmfestival von Cannes erfindet sich neu, die Berlinale könnte davon lernen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 173. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»We haven’t thought out in practical terms how to carry out this new measure. Since we are not policemen, we will trust attendees and their under­stan­ding of the situation: Selfies on the red carpet, in a conti­nuous and touristy way, are ridi­cu­lous. …We go to Cannes to see movies, not to take selfies. My work and my team’s work is to preserve the prestige of the most important film festival in the world and when we're standing on top of the stairs, we can see the vulgarity and the grotesque aspect of those taking selfies on the red carpet and that’s when it becomes a vast mess.«– Thierry Frémaux, künst­le­ri­scher Direktor des Film­fes­ti­vals in Cannes

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Endlich! Ein Zeichen, und nicht nur eines, sondern gleich mehrere diese Woche. Das Film­fes­tival von Cannes, das wich­tigste Film­fes­tival der Welt, erfindet sich gerade neu. Cannes führt vor, dass man ein Festival stark verändern kann, wenn man will – das auch in der Festi­val­welt nichts so sein muss, wie es immer war.

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Was ist passiert? Thierry Frémaux, der künst­le­ri­sche Direktor des Film­fes­ti­vals in Cannes, verkün­dete jetzt, dass das Festival seine Regeln den neuen digitalen Zeiten angepasst hat, und Filme, die ausschließ­lich für Streaming-Dienste produ­ziert wurden, in Zukunft aus dem Wett­be­werb verbannen wird.
2017 liefen die Netflix-Filme The Meye­ro­witz Stories und Okja im Wett­be­werb und sorgten für eine entspre­chende Kontro­verse, weil sie nie im Kino gezeigt werden sollen. Kino, aber so Frémaux »is the model of film lovers and Netflix must respect it as well«.
Und weiter: »Last year, in France, the films from Noah Baumbach and Bong Joon-ho sadly didn’t really exist. They got lost in the algo­rithms of Netflix. These films don’t belong to the psyche of film lovers. … even­tually we will under­stand that the history of cinema and the history of the internet is not the same thing.«
Mit diesem Schritt posi­tio­niert sich Cannes noch mehr als schon in der Vergan­gen­heit als Bollwerk der Vertei­di­gung des Kinos gegen den gras­sie­renden Film-Popu­lismus und den Angriff der Streaming-Dienste, des Internets und all jener, die behaupten, dass Film gleich Film sei und das Kinos nichts Beson­deres.

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Denn Netflix hat dem Kino bekannt­lich offen den Kampf angesagt, es sieht in den dunklen Sälen mit großer Leinwand, ausge­feilter Tonanlage und perfekter Projek­tion keinen Partner, sondern einen Feind.
Ein Film­fes­tival aber ist Freund des Kinos. Und Cannes möchte sich nicht als bloße Start­rampe von jenen miss­brau­chen lassen, die zugleich auch das Fundament aller Film­fes­ti­vals beschä­digen.

Für Normal­zu­schauer, die gerne auch Filme und Serien im Pantof­fel­kino genießen, mag das auf den ersten Blick alles schwer vers­tänd­lich sein. Viel­leicht hilft der Vergleich mit der Musik: Wenn eine Firma viel Geld an der Börse leiht, dafür die besten Gesangs­stars verpflichtet und ihnen zugleich vertrag­lich verbietet, in Konzer­thäu­sern aufzu­treten, weil man seine Silber­scheiben exklusiv verkaufen will – dient man damit der Musik­kunst? Nein, man gräbt Opern und Konzer­thäu­sern das Wasser ab.
Genau dies soll im Kino passieren, wenn es nach Netflix geht.

Im Unter­schied übrigens zu anderen Strea­ming­por­talen ist Netflix der Raubfisch im Karp­fen­teich der Film­branche. Im Gegensatz zum großen Konkur­renten Amazon, aber auch zu Mubi und den vielen anderen Kleineren, zeigt man seine Filme exklusiv bei sich für die Abonennten, nicht zuvor im Kino, wo sich jeder eine Karte kaufen kann.
Mal abwarten, ob ihnen das wirklich gelingt, denn bislang – Millionen Abon­nenten hin oder her – macht Netflix Miese und lebt nur von Erwar­tungen, sprich; vom täglich neu verbrannten Börsen­ka­pital. Und die vielen Abon­nenten haben sie vor allem durch Dumping­preise – für neun Euro einen ganzen Monat lang gucken bis der Arzt kommt – das ist keine reale Finan­zie­rung.
Anmerkung der Redaktion: Netflix verdiente 2017 559 Millionen Dollar und damit fast dreimal soviel wie im Vorjahr. Im vierten Quartal kletterte der Gewinn vergli­chen mit dem Vorjah­res­zeit­raum von 66,7 Millionen auf 185,5 Millionen Dollar. Quelle: FAZ vom 23.2.218

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Der Schritt von Cannes ist daher ein enorm wichtiges Zeichen. Genau wie das Bannen von der neuen Vulgär­kultur der Selfies auf dem Roten Teppich und das Abschaffen vorge­zo­gener Pres­se­vor­füh­rungen.
Selfies seien einfach lächer­lich, sagte Frémaux dem Bran­chen­blatt »Variety«. »Meine Arbeit und die meines Teams besteht darin, das Prestige des welt­wich­tigsten Festivals zu bewahren. Wenn wir oben auf der Treppe stehen, sehen wir die Vulga­rität und das Groteske derje­nigen, die Selfies auf dem roten Teppich machen.«
Recht hat er.

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Und die Ankün­di­gung, die Vorpre­mieren für Jour­na­listen abzu­schaffen, zugunsten von Presse-Scree­nings parallel zu den Gala­pre­mieren? Sind doch voll­kommen in Ordnung. Schluss mit der elenden Premie­ren­hys­terie!

Die neue Cannes-Regelung ist gut, weil sie die Filme wieder ins Zentrum rückt, weil sie den ganzen boule­var­desken, im Prinzip unjour­na­lis­ti­schen Inter­viewer- und Red-Carpet-Tross, der keine Filme sieht, aber zu Filmen Inter­views führt, in die zweite Reihe verbannt. Weil es die schwach­köp­fige Hysterie und das Mäuse­rennen um die »Pinkies« reduziert. Wer könnte ernsthaft etwas dagegen haben? Pres­se­vor­füh­rungen werden hier ja nicht abge­schafft. Sondern verlegt. Dann berichten wir von den gleichen Filmen halt einen Tag später. Und haben in Argument für die Redak­tionen daheim: »Der Film wird nicht vorher gezeigt!«
Außerdem gilt das alles nur für den Wett­be­werb.
Die auch von uns kriti­sierte Embar­go­re­ge­lung der Berlinale für alle Reihen ist dagegen etwas ganz anderes. Eben weil sie für alle Filme gelten soll, und weil sie zudem zu einer Ungleich­be­hand­lung von Medien und Filmen führt – weil es ja wochen­lang vor der Berlinale Pres­se­vor­füh­rungen für die Berliner gibt.
»The 'real' press and social networks, it’s not the same! I belong to the gene­ra­tion that respects the press and doesn’t think a tweet is the same thing as a serious article published by a critic. And I can wait 24 hours to read an article in a newspaper… in print.«

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Jetzt ist eine Cannes-Premiere wirklich eine Kino-Premiere – das Kino soll wieder ein exklu­siver Ort sein, der Ort, wo man am besten Filme gucken kann.
Cannes-Chef Frémaux weiß, dass »die Netflix-Leute verstehen, dass ihr Modell unserem gegen­ü­ber­steht«. Filme für Streaming-Portale sind auch ästhe­tisch gar nicht für die große Leinwand gemacht.
Prompt erhält Cannes in seinem Vorgehen gegen die kino­feind­liche Film­stra­tegie von Netflix auch Unter­s­tüt­zung aus Hollywood: »Bist du für das Format eines Fern­se­hers gemacht, bist du ein Fern­seh­film«, sagte Regisseur Steven Spielberg. Für solche Filme gebe es die Emmys. »Ich denke nicht, dass Filme, die als symbo­li­sche Quali­fi­ka­tion weniger als eine Woche lang in ein paar Kinos gelaufen sind, für eine Oscar­no­mi­nie­rung in Frage kommen sollten.«
Auch der Oscar-prämierte Regisseur Chris­to­pher Nolan kriti­sierte das Modell des Streaming-Dienstes zuletzt deutlich. Netflix habe eine »bizarre Abneigung dagegen, Kinofilme zu unter­s­tützen«, sagte Nolan bei einem Interview.
Nun ist abzu­warten, wie andere Film­fest­spiele auf Cannes reagieren. Ob sie mitziehen. Auch die Berlinale und ihre kultur­po­li­ti­schen Träger sind da natürlich gefordert.

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Natürlich regt sich trotzdem bereits das Protest­ge­murmel der üblichen Verdäch­tigen. Ganz unten auf dem roten Teppich stehen mal wieder die Deutschen. Da melden sich die noto­ri­schen Berlinale-Vertei­diger, die alles, was Cannes tut, nur als Beweis nutzen, um zu zeigen, wie arrogant und elitär doch diese blöden Franzosen sind. Und die, die eh volksnah sind, wie es sich für einen deutschen Jour­na­listen gehört. Die dem Volk nicht aufs Maul schauen, sondern nach dem Mund reden, die die Ressen­ti­ments der intel­lek­tuell down­ge­gra­deten Leser­schaft bedienen. Popu­lis­tisch könnte man das auch nennen.

Am Montag fragten wir uns: Hat Chris­tiane Peitz schon mal ein Selfie mit Dieter Kosslick gemacht? Ganz unten, wo der (bekannt­lich bergab gehende) Rote Teppich bei der Berlinale hinführt? Fast klingt es so, wenn man ihren »Tages­spiegel«-Artikel vom vergan­genen Montag liest. Die Feuil­leton-Chefin dieser Berliner Lokal­zei­tung macht sich dort genau zur Stimme jener Vulga­rität, die Frémaux auf die Nerven geht.

»Filme sind fürs Publikum da, für die Fans«, lautete schon der für die Gesinnung bezeich­nende erste Satz des Textes. Da denkt sie vermut­lich an das schönste »Publi­kums­fes­tival« Deutsch­lands, die Berlinale. Gibt es eigent­lich einen Unter­schied zwischen Publikum und Fans? Sonst könnte man die Berlinale doch in »Fanfes­tival« umbe­nennen.

Stimmt, Treffer: »Während die Berlinale sich als Publi­kums­fes­tival versteht (und dafür reichlich Kritik einsteckt), findet Cannes die Zuschauer offenbar lästig – und die Medien obendrein.« Uiuiui, das geht natürlich nicht.
Medien und Zuschauer sitzen für die Autorin offenbar in einem Boot. Bloß dass normale Zuschauer selbst auf der Berlinale noch keine Akkre­di­tie­rung kriegen.
Im nächsten Satz reicht es dann nicht mehr von »Arroganz« der »Grande Nation« zu schreiben, da muss es dann »Auto­kratie« sein. Starker Toback. Da denken wir gleich an Orban und Erdogan. Ist Frémaux gar ein Putin der Cine­philie und das Palais ein Kino-Kreml?
Abgesehen davon, dass ich kein Festival kenne, das per demo­kra­ti­schem Abstim­mungs­ver­fahren geführt wird. Die Redaktion des »Tages­spiegel« übrigens auch nicht.

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Die Popu­lismus-Empörung treibt weitere Blüten: »Cannes erlaubt keine Netflix- und Amazon-Produk­tionen im Wett­be­werb, solange sie keinen fran­zö­si­schen Kino­ver­leih haben. Auch die Berlinale beharrt auf Kino­aus­wer­tung, aber nicht auf eine deutsche.« Ja, und? Schön blöd, dass die Berlinale das nicht macht (btw: Sie kann es sich einfach nicht leisten). Warum soll ein mit Kultur­staats­gel­dern alimen­tiertes Festival etwas noch finan­ziell fördern, das der mit den gleichen Kultur­staats­gel­dern alimen­tierten Kino­land­schaft das Wasser abgraben will?
Und dann bekomt die Autorin richtig Angst: »Nun soll sich das Publikum nicht mal mehr vor dem Festi­val­pa­last den Stars nähern dürfen? Werden auch Auto­gramme verboten?«
Selfies, versteigt sich die Autorin, »sind ein Neben­ef­fekt der in Filmen aufbe­wahrten kollek­tiven Träume und indi­vi­du­ellen Sehn­süchte. Sich darüber zu erheben, oben an der Treppe, heißt, die Seele des Kinos zu verraten.«
Cannes verrät also die Seele des Kinos, weil es Selfies verbietet. Es ist nicht zu fassen!

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Not her finest hour… Das Cannes-Bashing und der Popu­lismus von Peitz über­ra­schen aller­dings nicht wirklich, wenn man sich an ihren Auftritt bei der Berlinale-Debatte erinnert, wo sie sich gegen Kritik an »unserer Berlinale« verwahrte, Kritikern vorwarf, eine Kampagne zu führen und Regisseur Christoph Hoch­häusler, der auf der Bühne als Vertreter der 81 Regis­seure des »Regis­seurs­briefs« fort­wäh­rend unter­brach, und sein Argumente auf das Gemecker eines Kino-Provinz­lers zu redu­zieren versuchte. »Dann geh' doch nach Duisburg« sagte die Kriti­kerin, die offenbar noch nie in Duisburg war und gar nicht weiß, dass dies eines der wich­tigsten Festivals des deutsch­spra­chigen Doku­men­tar­films ist.
Toller Stil, erst recht, wenn man »aus infor­mierten Kreisen« hört, dass sich Peitz hinter den Kulissen als Berlinale-Direk­torin bewirbt.

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»Die Abbildung einer Realität im Wandel, die Beschäf­ti­gung mit natio­naler Identität, gemischt mit einem poli­ti­schen Sendungs­be­wusst­sein, das ist heut­zu­tage was Beson­deres. Das so zu erzählen, hätte sich kein anderer getraut. Das ist kein Achtern­busch, das ist kein Fass­binder, das ist ein Bier­bichler.«
Stefan Arndt, Produzent von Zwei Herren im Anzug

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Es ist immer falsch, wenn man Film­kri­tiken nicht durch Film­kri­tiker schreiben lässt, sondern durch soge­nannte Experten. Im besten Fall kommt da etwas Spezia­lis­ti­sches, aber auch Inhal­tis­ti­sches heraus. Im schlimmsten ein unan­ge­mes­sener Text.

Würde man einen Film­kri­tiker ins Theater schicken, wenn ein Film­re­gis­seur auf der Bühne insze­niert? Natürlich nicht. Macht die Thea­ter­kri­ti­kerin. Würde man ihn ins Fußball­sta­dion schicken, wenn Til Schweiger Fußball­trainer bim HSV wird? Von wegen!
Und doch passiert so etwas umgekehrt immer wieder: Die Kunst­re­dak­teurin bespricht Das Mädchen mit dem Perlen­ohr­ring, denn sie hat ja mal eine Prose­mi­nar­ar­beit über Vermeer geschrieben, der Sport­re­dak­teur geht in Hoffen­heim – Das Leben ist kein Heimspiel, denn er hat Dietmar Hopp erst neulich inter­viewt. Und beide haben in der Konferenz ganz hurtig aufge­zeigt.
So ähnlich muss es wohl bei der »Süddeut­schen« gewesen sein. Nicht dass an dem Text von Christine Dössel jenseits seiner Thea­ter­las­tig­keit und Kinoun­in­for­miert­heit viel auszu­setzen wäre, auch wenn das mit Insi­der­infos gespeiste begrün­dete Rumoren der Bier­bichler-Combo bis nach Berlin zu hören war. Aber ganz aus Prinzip, liebe SZ-Redaktion: Was spricht eigent­lich dagegen, einen Film durch einen Film­kri­tiker bespre­chen zu lassen, und auch Theater durch die die darüber profes­sio­nell über­durch­schnitt­lich Infor­mierten? Oder bespricht Tobias Kniebe jetzt den nächsten EU-Gipfel?

(to be continued)