Cinema Moralia – Folge 173
Unten und oben auf dem Teppich |
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Noch letztes Jahr haben Netflix-Produktionen wie The Meyerowitz Stories in Cannes die Gemüter erhitzt. Damit ist jetzt Schluss. Es lebe das Kino! |
»We haven’t thought out in practical terms how to carry out this new measure. Since we are not policemen, we will trust attendees and their understanding of the situation: Selfies on the red carpet, in a continuous and touristy way, are ridiculous. …We go to Cannes to see movies, not to take selfies. My work and my team’s work is to preserve the prestige of the most important film festival in the world and when we're standing on top of the stairs, we can see the vulgarity and the grotesque aspect of those taking selfies on the red carpet and that’s when it becomes a vast mess.«– Thierry Frémaux, künstlerischer Direktor des Filmfestivals in Cannes
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Endlich! Ein Zeichen, und nicht nur eines, sondern gleich mehrere diese Woche. Das Filmfestival von Cannes, das wichtigste Filmfestival der Welt, erfindet sich gerade neu. Cannes führt vor, dass man ein Festival stark verändern kann, wenn man will – das auch in der Festivalwelt nichts so sein muss, wie es immer war.
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Was ist passiert? Thierry Frémaux, der künstlerische Direktor des Filmfestivals in Cannes, verkündete jetzt, dass das Festival seine Regeln den neuen digitalen Zeiten angepasst hat, und Filme, die ausschließlich für Streaming-Dienste produziert wurden, in Zukunft aus dem Wettbewerb verbannen wird.
2017 liefen die Netflix-Filme The Meyerowitz Stories und Okja
im Wettbewerb und sorgten für eine entsprechende Kontroverse, weil sie nie im Kino gezeigt werden sollen. Kino, aber so Frémaux »is the model of film lovers and Netflix must respect it as well«.
Und weiter: »Last year, in France, the films from Noah Baumbach and Bong Joon-ho sadly didn’t really exist. They got lost in the algorithms of Netflix. These films don’t belong to the psyche of film lovers. … eventually we will understand that the history of cinema and the
history of the internet is not the same thing.«
Mit diesem Schritt positioniert sich Cannes noch mehr als schon in der Vergangenheit als Bollwerk der Verteidigung des Kinos gegen den grassierenden Film-Populismus und den Angriff der Streaming-Dienste, des Internets und all jener, die behaupten, dass Film gleich Film sei und das Kinos nichts Besonderes.
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Denn Netflix hat dem Kino bekanntlich offen den Kampf angesagt, es sieht in den dunklen Sälen mit großer Leinwand, ausgefeilter Tonanlage und perfekter Projektion keinen Partner, sondern einen Feind.
Ein Filmfestival aber ist Freund des Kinos. Und Cannes möchte sich nicht als bloße Startrampe von jenen missbrauchen lassen, die zugleich auch das Fundament aller Filmfestivals beschädigen.
Für Normalzuschauer, die gerne auch Filme und Serien im Pantoffelkino genießen, mag das auf den ersten Blick alles schwer verständlich sein. Vielleicht hilft der Vergleich mit der Musik: Wenn eine Firma viel Geld an der Börse leiht, dafür die besten Gesangsstars verpflichtet und ihnen zugleich vertraglich verbietet, in Konzerthäusern aufzutreten, weil man seine Silberscheiben exklusiv verkaufen will – dient man damit der Musikkunst? Nein, man gräbt Opern und
Konzerthäusern das Wasser ab.
Genau dies soll im Kino passieren, wenn es nach Netflix geht.
Im Unterschied übrigens zu anderen Streamingportalen ist Netflix der Raubfisch im Karpfenteich der Filmbranche. Im Gegensatz zum großen Konkurrenten Amazon, aber auch zu Mubi und den vielen anderen Kleineren, zeigt man seine Filme exklusiv bei sich für die Abonennten, nicht zuvor im Kino, wo sich jeder eine Karte kaufen kann.
Mal abwarten, ob ihnen das wirklich gelingt, denn bislang – Millionen Abonnenten hin oder her – macht Netflix Miese und lebt nur von
Erwartungen, sprich; vom täglich neu verbrannten Börsenkapital. Und die vielen Abonnenten haben sie vor allem durch Dumpingpreise – für neun Euro einen ganzen Monat lang gucken bis der Arzt kommt – das ist keine reale Finanzierung.
Anmerkung der Redaktion: Netflix verdiente 2017 559 Millionen Dollar und damit fast dreimal soviel wie im Vorjahr. Im vierten Quartal kletterte der Gewinn verglichen mit dem Vorjahreszeitraum von 66,7 Millionen auf 185,5 Millionen Dollar.
Quelle: FAZ vom 23.2.218
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Der Schritt von Cannes ist daher ein enorm wichtiges Zeichen. Genau wie das Bannen von der neuen Vulgärkultur der Selfies auf dem Roten Teppich und das Abschaffen vorgezogener Pressevorführungen.
Selfies seien einfach lächerlich, sagte Frémaux dem Branchenblatt »Variety«. »Meine Arbeit und die meines Teams besteht darin, das Prestige des weltwichtigsten Festivals zu bewahren. Wenn wir oben auf der Treppe stehen, sehen wir die Vulgarität und das Groteske derjenigen, die
Selfies auf dem roten Teppich machen.«
Recht hat er.
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Und die Ankündigung, die Vorpremieren für Journalisten abzuschaffen, zugunsten von Presse-Screenings parallel zu den Galapremieren? Sind doch vollkommen in Ordnung. Schluss mit der elenden Premierenhysterie!
Die neue Cannes-Regelung ist gut, weil sie die Filme wieder ins Zentrum rückt, weil sie den ganzen boulevardesken, im Prinzip unjournalistischen Interviewer- und Red-Carpet-Tross, der keine Filme sieht, aber zu Filmen Interviews führt, in die zweite Reihe verbannt. Weil es die schwachköpfige Hysterie und das Mäuserennen um die »Pinkies« reduziert. Wer könnte ernsthaft etwas dagegen haben? Pressevorführungen werden hier ja nicht abgeschafft. Sondern verlegt. Dann berichten wir
von den gleichen Filmen halt einen Tag später. Und haben in Argument für die Redaktionen daheim: »Der Film wird nicht vorher gezeigt!«
Außerdem gilt das alles nur für den Wettbewerb.
Die auch von uns kritisierte Embargoregelung der Berlinale für alle Reihen ist dagegen etwas ganz anderes. Eben weil sie für alle Filme gelten soll, und weil sie zudem zu einer Ungleichbehandlung von Medien und Filmen führt – weil es ja wochenlang vor der Berlinale Pressevorführungen für
die Berliner gibt.
»The 'real' press and social networks, it’s not the same! I belong to the generation that respects the press and doesn’t think a tweet is the same thing as a serious article published by a critic. And I can wait 24 hours to read an article in a newspaper… in print.«
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Jetzt ist eine Cannes-Premiere wirklich eine Kino-Premiere – das Kino soll wieder ein exklusiver Ort sein, der Ort, wo man am besten Filme gucken kann.
Cannes-Chef Frémaux weiß, dass »die Netflix-Leute verstehen, dass ihr Modell unserem gegenübersteht«. Filme für Streaming-Portale sind auch ästhetisch gar nicht für die große Leinwand gemacht.
Prompt erhält Cannes in seinem Vorgehen gegen die kinofeindliche Filmstrategie von Netflix auch Unterstützung aus Hollywood:
»Bist du für das Format eines Fernsehers gemacht, bist du ein Fernsehfilm«, sagte Regisseur Steven Spielberg. Für solche Filme gebe es die Emmys. »Ich denke nicht, dass Filme, die als symbolische Qualifikation weniger als eine Woche lang in ein paar Kinos gelaufen sind, für eine Oscarnominierung in Frage kommen sollten.«
Auch der Oscar-prämierte Regisseur Christopher Nolan kritisierte das Modell des Streaming-Dienstes zuletzt deutlich. Netflix habe eine »bizarre Abneigung
dagegen, Kinofilme zu unterstützen«, sagte Nolan bei einem Interview.
Nun ist abzuwarten, wie andere Filmfestspiele auf Cannes reagieren. Ob sie mitziehen. Auch die Berlinale und ihre kulturpolitischen Träger sind da natürlich gefordert.
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Natürlich regt sich trotzdem bereits das Protestgemurmel der üblichen Verdächtigen. Ganz unten auf dem roten Teppich stehen mal wieder die Deutschen. Da melden sich die notorischen Berlinale-Verteidiger, die alles, was Cannes tut, nur als Beweis nutzen, um zu zeigen, wie arrogant und elitär doch diese blöden Franzosen sind. Und die, die eh volksnah sind, wie es sich für einen deutschen Journalisten gehört. Die dem Volk nicht aufs Maul schauen, sondern nach dem Mund reden, die die Ressentiments der intellektuell downgegradeten Leserschaft bedienen. Populistisch könnte man das auch nennen.
Am Montag fragten wir uns: Hat Christiane Peitz schon mal ein Selfie mit Dieter Kosslick gemacht? Ganz unten, wo der (bekanntlich bergab gehende) Rote Teppich bei der Berlinale hinführt? Fast klingt es so, wenn man ihren »Tagesspiegel«-Artikel vom vergangenen Montag liest. Die Feuilleton-Chefin dieser Berliner Lokalzeitung macht sich dort genau zur Stimme jener Vulgarität, die Frémaux auf die Nerven geht.
»Filme sind fürs Publikum da, für die Fans«, lautete schon der für die Gesinnung bezeichnende erste Satz des Textes. Da denkt sie vermutlich an das schönste »Publikumsfestival« Deutschlands, die Berlinale. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Publikum und Fans? Sonst könnte man die Berlinale doch in »Fanfestival« umbenennen.
Stimmt, Treffer: »Während die Berlinale sich als Publikumsfestival versteht (und dafür reichlich Kritik einsteckt), findet Cannes die Zuschauer offenbar lästig – und die Medien obendrein.« Uiuiui, das geht natürlich nicht.
Medien und Zuschauer sitzen für die Autorin offenbar in einem Boot. Bloß dass normale Zuschauer selbst auf der Berlinale noch keine Akkreditierung kriegen.
Im nächsten Satz reicht es dann nicht mehr von »Arroganz« der »Grande Nation« zu schreiben, da muss
es dann »Autokratie« sein. Starker Toback. Da denken wir gleich an Orban und Erdogan. Ist Frémaux gar ein Putin der Cinephilie und das Palais ein Kino-Kreml?
Abgesehen davon, dass ich kein Festival kenne, das per demokratischem Abstimmungsverfahren geführt wird. Die Redaktion des »Tagesspiegel« übrigens auch nicht.
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Die Populismus-Empörung treibt weitere Blüten: »Cannes erlaubt keine Netflix- und Amazon-Produktionen im Wettbewerb, solange sie keinen französischen Kinoverleih haben. Auch die Berlinale beharrt auf Kinoauswertung, aber nicht auf eine deutsche.« Ja, und? Schön blöd, dass die Berlinale das nicht macht (btw: Sie kann es sich einfach nicht leisten). Warum soll ein mit Kulturstaatsgeldern alimentiertes Festival etwas noch finanziell fördern, das der mit den gleichen
Kulturstaatsgeldern alimentierten Kinolandschaft das Wasser abgraben will?
Und dann bekomt die Autorin richtig Angst: »Nun soll sich das Publikum nicht mal mehr vor dem Festivalpalast den Stars nähern dürfen? Werden auch Autogramme verboten?«
Selfies, versteigt sich die Autorin, »sind ein Nebeneffekt der in Filmen aufbewahrten kollektiven Träume und individuellen Sehnsüchte. Sich darüber zu erheben, oben an der Treppe, heißt, die Seele des Kinos zu verraten.«
Cannes
verrät also die Seele des Kinos, weil es Selfies verbietet. Es ist nicht zu fassen!
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Not her finest hour… Das Cannes-Bashing und der Populismus von Peitz überraschen allerdings nicht wirklich, wenn man sich an ihren Auftritt bei der Berlinale-Debatte erinnert, wo sie sich gegen Kritik an »unserer Berlinale« verwahrte, Kritikern vorwarf, eine Kampagne zu führen und Regisseur Christoph Hochhäusler, der auf der Bühne als Vertreter der 81 Regisseure des »Regisseursbriefs« fortwährend unterbrach, und sein Argumente auf das Gemecker eines Kino-Provinzlers zu
reduzieren versuchte. »Dann geh' doch nach Duisburg« sagte die Kritikerin, die offenbar noch nie in Duisburg war und gar nicht weiß, dass dies eines der wichtigsten Festivals des deutschsprachigen Dokumentarfilms ist.
Toller Stil, erst recht, wenn man »aus informierten Kreisen« hört, dass sich Peitz hinter den Kulissen als Berlinale-Direktorin bewirbt.
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»Die Abbildung einer Realität im Wandel, die Beschäftigung mit nationaler Identität, gemischt mit einem politischen Sendungsbewusstsein, das ist heutzutage was Besonderes. Das so zu erzählen, hätte sich kein anderer getraut. Das ist kein Achternbusch, das ist kein Fassbinder, das ist ein Bierbichler.«
Stefan Arndt, Produzent von Zwei Herren im Anzug
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Es ist immer falsch, wenn man Filmkritiken nicht durch Filmkritiker schreiben lässt, sondern durch sogenannte Experten. Im besten Fall kommt da etwas Spezialistisches, aber auch Inhaltistisches heraus. Im schlimmsten ein unangemessener Text.
Würde man einen Filmkritiker ins Theater schicken, wenn ein Filmregisseur auf der Bühne inszeniert? Natürlich nicht. Macht die Theaterkritikerin. Würde man ihn ins Fußballstadion schicken, wenn Til Schweiger Fußballtrainer bim HSV wird? Von wegen!
Und doch passiert so etwas umgekehrt immer wieder: Die Kunstredakteurin bespricht Das Mädchen mit dem Perlenohrring, denn sie hat ja
mal eine Proseminararbeit über Vermeer geschrieben, der Sportredakteur geht in Hoffenheim – Das Leben ist kein Heimspiel, denn er hat Dietmar Hopp erst neulich interviewt. Und beide haben in der Konferenz ganz hurtig aufgezeigt.
So ähnlich muss es wohl bei der »Süddeutschen« gewesen sein. Nicht dass an dem Text von Christine Dössel jenseits seiner Theaterlastigkeit und Kinouninformiertheit viel auszusetzen wäre, auch wenn das mit Insiderinfos gespeiste begründete Rumoren der Bierbichler-Combo bis nach Berlin zu hören war. Aber ganz aus Prinzip, liebe SZ-Redaktion: Was spricht eigentlich dagegen, einen Film durch
einen Filmkritiker besprechen zu lassen, und auch Theater durch die die darüber professionell überdurchschnittlich Informierten? Oder bespricht Tobias Kniebe jetzt den nächsten EU-Gipfel?
(to be continued)