Cinema Moralia – Folge 181
Der Romantiker der Filmkritik |
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Unter der Regie von Helmut Merker startete 1978 der »Filmtip« – zu François Truffauts Der Mann, der die Frauen liebte... |
»In die hysterische Quotenjagd passen weder ein kritisches Bewußtsein noch ästhetische Querulanten. ... Die Macht des Wortes zeigt sich anderswo als in Zuschauerforschungen, Marktanteilsquotenuntersuchungen, Akzeptanzüberlegungen. Für die Filmkritik hat zu gelten, was William Shawn, der frühere Chefredakteur des ›New Yorker‹ formuliert hat: ›Wir publizieren nicht für Leser. Wir denken nie »Wird das irgend jemandem gefallen oder wird das von wenigen oder von vielen Leuten gelesen?« Wir versuchen, das zu drucken, was uns selbst interessiert, worüber wir etwas lernen wollen, was wir amüsant finden. Ich weiß nicht, wer unsere Leser sind und will es auch nicht wissen. Wir denken, wir erweisen den Lesern den größten Respekt, wenn wir nicht versuchen, zwischen ihnen und uns zu unterscheiden.‹«
Helmut Merker, 1942-2018, im Jahr 2007
Den Filmkritiker Helmut Merker, der am 3. September, zu schnell und früh gestorben ist, habe ich nicht wirklich gekannt. Er war schon am Ende seines Berufslebens, als meins begann, er hatte einen ganz anderen Stil, auch des Umgangs. Aber man lief sich über den Weg, hatte gemeinsame Freunde und Bekannte. Früh gekannt habe ich den Namen. Den Filmtip erst spät, weil man den dort, wo ich aufwuchs, nicht empfangen konnte.
Beeindruckt hat mich immer, dass Helmut Merker wohl der einzige
Redakteur war, der gleichzeitig für Radio und Fernsehen arbeitete. Beim WDR hatte er zwei halbe Stellen, eine beim Radio und die beim Fernsehen, wo er am Schluss auch Einkäufer war.
Einmal haben wir zusammengewohnt, in Venedig, gemeinsam mit Josef Schnelle und Rainer Gansera, sehr vergangene Zeiten – erst recht, wenn man mit ihm zusammen wohnte, wirkte er nicht wie einer, der das Leben genießen wollte, obwohl er das vielleicht doch mehr tat, als es den Anschein machte.
Darüber
dass er Fan von Arminia Bielefeld war, schreiben jetzt alle; dass er aber im WDR auch den »FC Basis«, die WDR-Mitarbeiter-Mannschaft, gegründet hatte und lange Jahre betreute, habe ich noch nirgendwo gelesen. Er mochte Fußball, darüber konnte man immerhin reden, und hatte in seiner Charlottenburger Altbauwohnung – die WDR-Pensionen für seine Generation sind noch sehr gut – ein Zimmer, in dem nichts anderes stand, als ein Billardtisch. Ohne Löcher, Karambolage, das kann
man auch mit sich selbst spielen.
Beim Zusammenwohnen in Venedig luden wir an einem Abend alle Freunde und Bekannten zum Spaghetti-Essen und Weintrinken in den Garten, den unsere damalige Unterkunft hatte. Fast alle waren da, nur Helmut Merker nicht. Zuerst war er im Kino, dann blickte er nur kurz durchs Fenster seinen eulenhaften Blick, nahm sich ein trockenes Brötchen vom Morgen und ging schlafen. Zwei Stunden später polterte es plötzlich. Es war vielleicht 11 Uhr abends, und Helmut
konnte nicht schlafen; es war ihm zu laut. Anstatt nun einen von uns darum zu bitten, dass es etwas leiser würde, hatte Helmut Merker seine Schuhe laut gegen die geschlossene Tür geworfen und irgendetwas Unverständliches gebrüllt. Ein unfassbarer Moment, diese Kommunikation durch Kommunikationslosigkeit.
So wie ich bei Rainer Gansera immer an jene Pasolini- und Bazin-Bücher denken werde, die er auf Reisen mit hat, aber auch daran, wie er mir einmal die letzten Zigaretten
gemopst hat, weil er eine Nacht durchschreiben musste, so werde ich bei Helmut Merker immer daran denken, wie in Venedig die Schuhe gegen die Tür flogen.
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Wenn ich ihm auf einem Festival begegnete, fragte er nach bestimmten Filmen, und nach Zahlen, genau gesagt nach der Zahl der Filme, die ich bisher gesehen hatte. Er lag da immer vor mir, selbst in den Jahren und Festivals, in denen ich pro Tag über vier Filme schaffte, was heute im Schnitt kaum noch vorkommt. Er schmetterte einem dann eine »38« oder »47« hin, volley, direkt vor den Latz. Tennisspieler war Merker auch.
Manches habe ich nicht verstanden: Zum Beispiel, warum es ihm so
wichtig war, nach Ende der WDR-Zeit plötzlich in Zeitungen zu schreiben, kleine, schöne Texte, klar, womit er aber auch anderen Autoren, die noch nicht in Pension waren, die potentiellen Aufträge wegnahm. Warum ein Mann von seinem Wissen und Können nicht versuchte, weiter Filme zu machen, oder ein Buch zu schreiben. Warum er einen Radiobericht produzierte, der nie gesendet wurde, um eine Festivalakkreditierung zu bekommen, oder sich aus dem gleichen Grund bei manchen Festivals als
Einkäufer ausgab. Das hätte man auch anders haben können, und so ist meine Erinnerung an Helmut Merker auch die an einen ziemlich schrulligen, mir sehr fremden Mann, einen altgewordenen Nerd, der gelegentlich sehr zufrieden wirkte und verschmitzt lächelte, manchmal aber auch dieses Traurige ausstrahlte, das Menschen und Dinge haben, die aus der Zeit gefallen sind.
Was sehr für Helmut Merker einnimmt, sind die vielen Kollegen, die jetzt Nachrufe schreiben, ist der wehmütige, ehrlich
traurige Ton dieser Nachrufe, und seine Todesanzeige. Diese Anzeige ist – und das ist für Todesanzeigen wirklich ungewöhnlich – im Cinemascope-Format gedruckt. Denn er liebte dieses Format. Dies durch seine Freunde durchgesetzt zu haben, spricht sehr für Helmut Merker, es zeigt, wie produktiv seine Sturheit und Schrulligkeit auch in anderen Fällen sein konnte.
Und Kleist hat er gemocht. Auf der Anzeige steht ein Zitat aus dem Essay übers Marionettentheater. Auch
das passt ziemlich gut.
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Einen Nachruf kann ich hier darum nicht schreiben, das kann Josef Schnelle viel besser, der mit Merker befreundet war. Einen sehr schönen Nachruf hat auch Peter Körte in der FAS geschrieben, aber den kann man im Netz leider nur gegen Bezahlung lesen.
Vielleicht sollte man besser einen der wichtigsten Texte lesen, die Merker selbst geschrieben hat, 2007 für das Jahrbuch des Verbands der
Filmkritik. Darin präsentiert er in gewohnter kreativer Sperrigkeit am Ende seines Berufslebens die Prinzipien seiner Arbeit: »Verstehen als sinnliches Vergnügen. Der WDR-Filmtip als Opposition gegen die große Komplizenschaft der Quotenjäger«.
Darin geht er auch seinen ehemaligen WDR-Kollegen Günther Rohrbach scharf
an – Polemik der Branche gegen missliebige Kritiker als »Argumentation der Mächtigen« – was den Angegriffenen nicht hinderte, und das spricht für Rohrbach, seinen Namen trotzdem unter die Traueranzeige zu setzen.
Filmkritik, heißt es aber darin vor allem, »kann von einer Szene den Blick aufs Ganze öffnen, aus einem einzelnen Bild aus der Nahtstelle zwischen Traumwelt und Wirklichkeit auf Mythos, Phantasien und Fiktionen des Kinos schließen; sie zeigt, wie Inszenierungskünste und handwerkliche Fähigkeiten funktionieren, um Emotion und Faszination herzustellen. Denn höhere Erkenntnis und tieferes Verständnis der filmischen Mittel sollen das intellektuelle, ästhetische und
sinnliche Vergnügen ja nicht mindern, sondern im Gegenteil erhöhen.
Der romantischen Theorie zufolge stellt das Kunstwerk Fragen, und die Kritik kann da nicht mit objektiven Antworten kommen, sondern soll eine subjektive Haltung dazu entwickeln. Dazu gehört also kein fertiges Urteil, sondern die gründliche Auseinandersetzung, der genaue Blick, die Reflexion und die Fähigkeit zur sprachlichen und bildlichen Umsetzung.
Im Sinne der Gebrüder Schlegel kommt der Kritik die
ehrenvolle Aufgabe zu, in den Geist eines Kunstwerks einzudringen, ihn anderen zu vermitteln und so deren Phantasie zu befruchten, ... Dies scheint mir eine gute Basis für Filmkritik im Fernsehen zu sein.«
Einfach großartig! Man muss sich Helmut Merker als Romantiker der Filmkritik vorstellen.
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Die digitale Demenz ist zu einem Massenphänomen geworden. Die Folge: Deutsche Schulen debattieren über ein generelles Handyverbot auch in der Pause. Und es wird kommen, früher oder später! Und an Universitäten gibt es die ersten Vorlesungen und Seminare mit obligatorischer »No screen policy«, damit die lieben Studenten das Zuhören und das Gedanken-folgen üben können. Das sollte man bei Filmfestivals auch einführen.
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Schon sind wir beim Urheberrecht. Überraschenderweise forderte Kulturstaatsministerin Monika Grütters gestern einen Mindestlohn für Künstler und Kreative. Gut so, Frau Ministerin!
Oder wie soll man es verstehen, wenn die gemeinsame Deutsch-Französische Erklärung mit dem Grütters-Zitat überschrieben ist: »Künstlerinnen, Künstler und Kreative müssen von ihrer Leistung leben können«? Mit dem EU-Urheberrecht, um das es in der Erklärung auch geht, hat das »leben können« nämlich wenig zu tun.
Es ist schön, dass sich die Ministerin »für eine bessere Position der Urheber gegenüber digitalen Plattformen stark gemacht« hat. Etwas nach Nebelwerferei klingt dann
der Satz »Künstlerinnen, Künstler und Kreative müssen von ihrer Leistung auch in einer komplexen digitalen Wirklichkeit leben können«. Denn können sie denn bisher davon leben? Es ist richtig, freilich auch selbstverständlich, dass sich die Ministerin für unsere kulturelle und journalistische Vielfalt einsetzt, für die Unabhängigkeit der Presse und für Medienpluralismus.
Nicht mehr richtig ist aber, Kultur und Kreativität immer nur als »Kultur- und Kreativwirtschaft«
zu beschreiben. Nicht um Standorte geht es hier, sondern um Freiheit und Freiräume, die von allen Zwängen, auch wirtschaftlichen, befreit wurden.
Deswegen ist es falsch und widersprüchlich, dass sich Grütters für ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger einsetzt. Denn »Leistungsschutzrecht« ist nur der Deckmantel dafür, dass diverse Presseverlage – die eben keine Urheber im Sinne des Gesetzes sind, deswegen brauchen sie ja das Leistungsschutzrecht – ihren
Autoren – den tatsächlichen Urhebern – irgendwelche Verträge zur Unterschrift vorlegen, mit denen sie die Rechte zur Verwertung ihrer Texte abgeben. Natürlich »freiwillig«. De facto müssen sie unterschreiben und de jure bleibt davon das Urheberrecht unberührt. De facto können Verlage mit den Texten der Autoren handeln, ohne diese zu vergüten.
Das geplante europaweite Leistungsschutzrecht für Presseverleger birgt Risiken für freies Wissen und dessen Austausch im
Netz.
Die CDU zeigt sich damit wieder einmal als eine in Fragen der Digitalpolitik naive Partei und als einseitige Vertreterin der Konzerninteressen. Mit Urheberschutz hat all das nichts zu tun. Das EU-Parlament hat diese Reform des Urheberrechts zum Schlechteren nun heute verabschiedet. Ausgestalten werden es der Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Es wird also noch dauern, aber man sollte beginnen, den Widerstand gegen
das Leistungsschutzrecht zu organisieren.
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Künftig sollen Internetplattformen verpflichtet werden, Kultur- und Medienschaffenden oder auch anderen Urhebern Vergütungen zu zahlen, wenn sie deren Werke zum Hochladen anbieten. Die Telekom oder Provider sind damit nicht gemeint, obwohl sie nur damit Geld verdienen, dass Dritte Inhalte produzieren.
Und was tut die Ministerin dafür, dass die eigentlichen Auftraggeber den Urhebern gerechte Honorare zahlen, also solche, von denen man leben kann?
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Langsam läuft sich der Berlinale-Apparat warm, zur allerletzten Kosslick-Berlinale. Ob Dieter Kosslick zuhause wohl so etwas wie eine Trophäenwand hat, wo er zwischen den ganzen Hirschgeweihen, Elefantenköpfen und Bärenfellen auch alle Preise aufstellt, die er selber bekommt? Bald braucht er jedenfalls dafür ein eigenes Zimmer. Denn auf seiner Abschiedstournee als Berlinale-Chef wird Kosslick mit diversen Preisen behängt. Manche sind die klassischen »Deathbed«-Awards, andere wirken wie eigens für den Noch-Berlinale-Direktor geschaffen. Zum Beispiel der »Force-of-Nature Filmmaking Award« des Sam Spiegel International Film Lab in Jerusalem. Oder den First Steps Ehrenpreis. Oder, oder...
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In eigener Sache:
Morgen, Donnerstagabend, 13. September, um 19 Uhr eröffnet das Filmmuseum Bendestorf im Umland von Hamburg in Kooperation mit der Kunststätte Bossard seine Reihe »Film und Kunst« mit einer Vorführung meines Films Hitlers Hollywood
Hochaktuell geht es um Kino im Zeitalter der Propaganda, darum, wie Filme, ihre Mythen und Erzählungen wirken, ihre offenen Lügen und ihre versteckten
Wahrheiten.
Der Eintritt ist frei; um eine Spende wird gebeten.
Die Vorführungen finden im Filmmuseum Bendestorf (Am Schierenberg 2) statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
http://film-bendestorf.de/termine/
(to be continued)