01.09.2018
75. Filmfestspiele von Venedig 2018

Frauen sind die besseren Mütter

The Favourite
Lanthimos modernisiert in The Favourite den Barock ins Ironisch-Absurdistische
(Foto: Twentieth Century Fox of Germany GmbH)

Nostalgie, Melancholie, Apokalypse – Notizen aus Venedig, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

»Did you come to seduce me, or rape me?«
»I am a Gentleman.«
»So rape then.«
aus: The Favourite – Intrigen und Irrsinn

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Sind Frauen die besseren Menschen, und ansonsten Opfer böser Männer­welten? Agieren sie jederzeit unsexis­tisch und ohne auf ihre Vorteile zu achten? Tragen sie Konkur­renz­kämpfe ohne Neid, falschen Ehrgeiz und böse Tricks aus, verwan­delt sich harte Macht in ihren Händen plötzlich in kluge Verant­wor­tung? Die eine oder der andere mag solche Illu­sionen hegen, doch in Venedig würde er oder sie schnell eines Anderen belehrt.

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The Favourite, der erste Kostüm­film des in England lebenden Griechen Yorgos Lanthimos, reist zurück in ein barockes Matri­ar­chat: In die Zeit der Queen Anne (1702-1714) – die mir bislang voll­kommen unbe­kannte Olivia Colmen spielt diese als eine Königin, die depressiv ist, launisch, eine Gefangene ihrer selbst. Überdies von Wundbrand am rechten Bein und später den Folgen eines Schlag­an­falls heim­ge­sucht, ist sie der Regie­rungs­ge­schäfte über­drüssig und Wachs in den Händen ihrer Vertrauten. Die wahre Herr­scherin ist Lady Sarah Marl­bo­rough, die, gespielt von Rachel Weisz, geschickt die Klaviatur der höfischen Macht­ausü­bung bedient. Doch in Abigail (Emma Stone) erwächst ihr eine eben­bür­tige Konkur­rentin um die könig­liche Gunst. The Favourite, dessen Titel sich auf beide Hofdamen münzen lässt, ist eine subtile, facet­ten­reiche Studie weib­li­cher Macht zwischen Furcht und Eigennutz.

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Wir sehen ein reales Matri­ar­chat, Frauen, die Macht haben, die einander zum Narren halten, die den Männern auch darin komplett eben­bürtig sind. Wie könnte es besser sein?
»Sometimes a lady needs to have some fun.« In acht Kapiteln steht zunächst die Beziehung der Königin zu Sarah im Zentrum, in der poli­ti­scher Rat, Freund­schaft und sexuelle Dienst­leis­tungen sich koppeln. »Love has limits«, sagt Sarah ziemlich früh. »It should not«, antwortet die Königin, und das ist dann fast ein Befehl.
Dann steigt Abigail auf. Oder wie die Königin etwas deut­li­cher erklärt: »I do not dismiss her. I do like it, when she puts her tongue inside me.« Histo­risch sind Annes lesbische Bezie­hungen im Übrigen Speku­la­tion, aber was tut das zur Sache?

Abigail wiederum kämpft ganz offen nur für sich. Und so ist in dieser Welt der symbo­li­schen Spiele und des Scheins auch die Liebe eine Illusion, jenseits des Scheins existiert nur Macht.
Es gibt auch eine Tanzszene. Natürlich! Jeder Film dieser Art braucht eine Tanzszene. Aber bei Lanthimos prägt gerade diese der Absur­dismus und die auf die Spitze getrie­bene Künst­lich­keit, die wir aus seinen anderen Filmen kennen. The Favourite scheint mir weniger hart, als Dogtooth oder The Killing of a Sacred Deer. Eher ähnelt er in seiner Komik The Lobster. Lanthimos inter­es­siert sich daneben vor allem für zwei Dinge: Absur­dismus und Regeln. Beides findet er auch hier. Aber die Regeln des höfischen Systems, die man gut mit einem in sich sinnlosen Spiel gleich­setzen könnte, spielen hier kaum eine Rolle.
Der Absur­dismus eher, zum Beispiel in erwähnter Tanzszene. Denn Barock­tänze waren ein komplexes Zeichen­system, das nach feinen, strengen Gesetzen choreo­gra­phiert war. Und diese setzt Lanthimos in wenigen Augen­bli­cken aufs Groß­ar­tigste außer Kraft. Oder in dem Hasen­stall der Königin. Sie hat siebzehn Hasen, die sie zum Teil in ihren Gemächern frei herum­laufen lässt – sie nennt sie ihre Kinder, und erklärt, je einen für ein gestor­benes oder tot geborenes Kind zu haben. Die Hasen wirken absurd. Ob sie histo­risch sind, weiß ich nicht. Belegt aber ist: Queen Anne hatte siebzehn Kinder, die sämtlich tot geboren wurden oder am Tag der Geburt starben – bis auf zwei, die beide nicht einmal zwei Jahre alt wurden.

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Der Blick des Regis­seurs auf seine Figuren ist empa­thisch, es gibt hier nicht Gut und Böse, sondern eine Welt aus Zwängen und den wölfi­schen Kampf unter Gleichen, die auf ihren Vorteil bedacht sein müssen, wenn sie überleben wollen.
Zugleich ist der Blick auf die Epoche belustigt und distan­ziert. Lächer­lich sind auch die Männer nur scheinbar. Sie sind geschminkt, parfü­miert, mit Perücken bekleidet, und außer mit Politik und Krieg mit Sonder­barem wie Enten­rennen beschäf­tigt.
Er nimmt die Epoche voll­kommen ernst, sein Blick auf die Barock­zeit ist histo­risch genau, aber der Film ist trotzdem ganz und gar modern. Lanthimos moder­ni­siert den Barock ins Ironisch-Absur­dis­ti­sche und erinnert darin an Sofia Coppolas Marie Antoi­nette.

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Nicht weniger ausge­zeichnet war Roma vom Mexikaner Alfonso Cuarón. Die Eröff­nungs­credits laufen über ein Bild von Stein­platten, über die Wasser läuft. Es ist die Garage der Familie, das Wasser soll sie reinigen, aber es kann gar nicht so viel Wasser geben, um all die Sünden wegzu­spülen, mit denen wir hier konfron­tiert sind.
Das entwi­ckelt sich aber erst aus langen Einstel­lungen, Beob­ach­tungs­ka­me­ra­fahrten, die bereits sehr eindrucks­voll sind und uns sofort ins Geschehen ziehen.
In einem Film mit offen­kun­digen auto­bio­gra­phi­schen Elementen reist Cuarón zurück ins Mexiko der Jahre 1970/71 und erzählt von einer wohl­ha­benden Arzt-Familie mit vier Kindern. Die Haupt­figur im Zentrum ist das Dienst­mäd­chen Cleo, die gute Seele des Hauses und vertraute Ersatz­mutter der Kinder. Das wird sie um so mehr, als der Vater eines Tages von einer Dien­st­reise nicht mehr zurück­kehrt, sondern mit der neuen Geliebten zusam­men­zieht.

Sehr gelassen rekon­stru­iert der Regisseur das ganz normale Leben. Mit einer fließenden, gut beob­ach­tenden Kamera, großer Sensi­bi­lität und Humor. Roma ist nost­al­gisch und melan­cho­lisch, aber durch­zogen von apoka­lyp­ti­schen Momenten, wie einem heftigen Waldbrand, einem Erdbeben in einer Geburts­klinik und vor allem der histo­risch belegten blutigen Nieder­schla­gung einer Studen­ten­de­mons­tra­tion durch analpha­be­ti­sche Arbeiter. Sie hatte man in die Stadt gekarrt und mit Knüppeln und Pistolen auf die Unbe­waff­neten losge­lassen – über 120 wurden ermordet.

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Es ist das Portrait einer Klasse und einer histo­ri­schen Situation, mit Kindern als zentralen Charak­teren. Ich habe an The Ice Storm gedacht.
Im Kinder­zimmer, es ist das Cuaróns, sehen wir Plakate von der WM »Mexico ‘70« und für »Make love not war«. Das Fernsehen kommen­tiert Szenen mitunter von außen. Genauso wie im Kino eine Kriegs-Film-Komödie mit Louis de Funès, Sieghart Rupp, Reinhard Koldehoff.
Gewalt steht im Raum, wird aber selten explizit. Sie liegt in Gegen­s­tänden, wie dem Fami­li­en­auto, einer protzigen US-Kutsche Ford Maverick. Als Running Gag fungiert die Hunde­scheiße im Eingang der Garage.
Bei dem Besuch bei Verwandten auf einer Hacienda sieht man zunächst viele ausge­stopfte Hundeköpfe an der Wand hängen: Die Hunde des Hauses. Später sieht man Erwach­sene und Kinder bei Schießü­bungen sinnlos im Wald herum­bal­lern. Vom Plat­ten­spieler erklingt der Song »Oh Mama blue«.
Dies ist auch ein Abgesang auf einen Lebens­stil. Auf die Zeit, als man nicht an Gesund­heit und ewiges Leben dachte, sondern das begrenzte Leben inten­siver genoss, abends selbst­ver­s­tänd­lich Drinks aus schweren Kris­tall­glä­sern zu sich nahm und Mezcal, Ziga­retten in Kette rauchte und auf schweren Möbeln aus Holz saß.
Wurden damals unter Erwach­senen mehr Partys und ausge­las­se­nere Partys gefeiert als heute? Ich weiß, dass meine Eltern so gefeiert haben…

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Dies ist das merk­wür­dige Beispiel einer Inde­pen­dent-Produk­tion von Netflix. Denn für den Streaming-Dienst ist der Film gemacht. Aber in den Credits zu Beginn lesen wir: Regie: Alfonso Cuarón; Drehbuch: Alfonso Cuarón; Kamera: Alfonso Cuarón; Schnitt: Alfonso Cuarón; Produk­tion: Alfonso Cuarón.
Der Film ist durch­ge­hend schwarz­weiß; es gibt – wie wohltuend – keinerlei Filmmusik, nur interne Musik, also welche, die sich aus den Szenen selbst ergibt. Zum Beispiel hört Cleo gerne Schlager, singt sie mit, wenn sie aus dem Radio kommen.

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Zwei Frauen, Cleo und die mit vier Kindern verlas­sene Mutter nähern sich einander an, es sind gegen­läu­fige Bewe­gungen zuein­ander hin. Eines Tages sagt die Mutter: »Wir sind allein, Cleo. Egal, was sie dir sagen, wir sind immer allein.«
Am Ende hat Cleo ihr Kind verloren und ist darüber weniger unglück­lich, als es die Moral verlangt. Längst ist sie zur zweiten Mutter der Kinder ihrer Arbeit­geber geworden. Sie riskiert ihr Leben, um die Kinder der Familie zu retten. Hier gehört sie hin, so wie die Mutter sie als Teil der Familie ansieht.

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Ein Film, der Frauen in jeder Lebens­lage zeigt, ist auch weiblich. Ohne, dass der Regisseur es ist. Aber hätte man diese Darstel­le­rinnen, diese Figuren, diese Sujets vom Lido verdammen sollen, um einer Regis­seurin den Roten Teppich auszu­rollen? I doubt it.
Frauen sind auch nicht die besseren Menschen. Aber die besseren Mütter.

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Am nächsten Abend treffe ich Bruno, einen jüngeren brasi­lia­ni­schen Kollegen. Wir sind uns bei Lanthimos einig, bei anderem auch, debat­tieren aber über Cuarón. Er mag den Film, aber findet »Irgend­etwas stimmt nicht.« Ich vertei­dige die Nostalgie Cuaróns, die Schärfe, die trotzdem da ist. Und sage: »Natürlich ist er weiß und bourgeois. Aber das sind wir beide auch.« Bruno: »Yes, but from a socialist point of view…«
Wahr­schein­lich ist der Film politisch nicht auf irgend­einer Linie. Und auch in punkto Skep­ti­zismus ist Assayas Cuarón voraus. Denn er übt gute klassisch Selbst­kritik. Aber Bruno hat Assayas noch nicht gesehen, wir haben hier noch nicht drüber geschrieben, lassen wir das für heute.

(to be continued)