75. Filmfestspiele von Venedig 2018
Frauen sind die besseren Mütter |
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Lanthimos modernisiert in The Favourite den Barock ins Ironisch-Absurdistische | ||
(Foto: Twentieth Century Fox of Germany GmbH) |
»Did you come to seduce me, or rape me?«
»I am a Gentleman.«
»So rape then.«
aus: The Favourite – Intrigen und Irrsinn
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Sind Frauen die besseren Menschen, und ansonsten Opfer böser Männerwelten? Agieren sie jederzeit unsexistisch und ohne auf ihre Vorteile zu achten? Tragen sie Konkurrenzkämpfe ohne Neid, falschen Ehrgeiz und böse Tricks aus, verwandelt sich harte Macht in ihren Händen plötzlich in kluge Verantwortung? Die eine oder der andere mag solche Illusionen hegen, doch in Venedig würde er oder sie schnell eines Anderen belehrt.
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The Favourite, der erste Kostümfilm des in England lebenden Griechen Yorgos Lanthimos, reist zurück in ein barockes Matriarchat: In die Zeit der Queen Anne (1702-1714) – die mir bislang vollkommen unbekannte Olivia Colmen spielt diese als eine Königin, die depressiv ist, launisch, eine Gefangene ihrer selbst. Überdies von Wundbrand am rechten Bein und später den Folgen eines Schlaganfalls heimgesucht, ist sie der Regierungsgeschäfte überdrüssig und Wachs in den Händen ihrer Vertrauten. Die wahre Herrscherin ist Lady Sarah Marlborough, die, gespielt von Rachel Weisz, geschickt die Klaviatur der höfischen Machtausübung bedient. Doch in Abigail (Emma Stone) erwächst ihr eine ebenbürtige Konkurrentin um die königliche Gunst. The Favourite, dessen Titel sich auf beide Hofdamen münzen lässt, ist eine subtile, facettenreiche Studie weiblicher Macht zwischen Furcht und Eigennutz.
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Wir sehen ein reales Matriarchat, Frauen, die Macht haben, die einander zum Narren halten, die den Männern auch darin komplett ebenbürtig sind. Wie könnte es besser sein?
»Sometimes a lady needs to have some fun.« In acht Kapiteln steht zunächst die Beziehung der Königin zu Sarah im Zentrum, in der politischer Rat, Freundschaft und sexuelle Dienstleistungen sich koppeln. »Love has limits«, sagt Sarah ziemlich früh. »It should not«, antwortet die Königin, und das ist dann fast ein
Befehl.
Dann steigt Abigail auf. Oder wie die Königin etwas deutlicher erklärt: »I do not dismiss her. I do like it, when she puts her tongue inside me.« Historisch sind Annes lesbische Beziehungen im Übrigen Spekulation, aber was tut das zur Sache?
Abigail wiederum kämpft ganz offen nur für sich. Und so ist in dieser Welt der symbolischen Spiele und des Scheins auch die Liebe eine Illusion, jenseits des Scheins existiert nur Macht.
Es gibt auch eine Tanzszene. Natürlich! Jeder Film dieser Art braucht eine Tanzszene. Aber bei Lanthimos prägt gerade diese der Absurdismus und die auf die Spitze getriebene Künstlichkeit, die wir aus seinen anderen Filmen kennen. The Favourite scheint mir weniger hart, als Dogtooth oder The Killing of a Sacred Deer. Eher ähnelt er in seiner Komik The Lobster. Lanthimos
interessiert sich daneben vor allem für zwei Dinge: Absurdismus und Regeln. Beides findet er auch hier. Aber die Regeln des höfischen Systems, die man gut mit einem in sich sinnlosen Spiel gleichsetzen könnte, spielen hier kaum eine Rolle.
Der Absurdismus eher, zum Beispiel in erwähnter Tanzszene. Denn Barocktänze waren ein komplexes Zeichensystem, das nach feinen, strengen Gesetzen choreographiert war. Und diese setzt Lanthimos in wenigen Augenblicken aufs Großartigste außer
Kraft. Oder in dem Hasenstall der Königin. Sie hat siebzehn Hasen, die sie zum Teil in ihren Gemächern frei herumlaufen lässt – sie nennt sie ihre Kinder, und erklärt, je einen für ein gestorbenes oder tot geborenes Kind zu haben. Die Hasen wirken absurd. Ob sie historisch sind, weiß ich nicht. Belegt aber ist: Queen Anne hatte siebzehn Kinder, die sämtlich tot geboren wurden oder am Tag der Geburt starben – bis auf zwei, die beide nicht einmal zwei Jahre alt wurden.
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Der Blick des Regisseurs auf seine Figuren ist empathisch, es gibt hier nicht Gut und Böse, sondern eine Welt aus Zwängen und den wölfischen Kampf unter Gleichen, die auf ihren Vorteil bedacht sein müssen, wenn sie überleben wollen.
Zugleich ist der Blick auf die Epoche belustigt und distanziert. Lächerlich sind auch die Männer nur scheinbar. Sie sind geschminkt, parfümiert, mit Perücken bekleidet, und außer mit Politik und Krieg mit Sonderbarem wie Entenrennen beschäftigt.
Er
nimmt die Epoche vollkommen ernst, sein Blick auf die Barockzeit ist historisch genau, aber der Film ist trotzdem ganz und gar modern. Lanthimos modernisiert den Barock ins Ironisch-Absurdistische und erinnert darin an Sofia Coppolas Marie Antoinette.
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Nicht weniger ausgezeichnet war Roma vom Mexikaner Alfonso Cuarón. Die Eröffnungscredits laufen über ein Bild von Steinplatten, über die Wasser läuft. Es ist die Garage der Familie, das Wasser soll sie reinigen, aber es kann gar nicht so viel Wasser geben, um all die Sünden wegzuspülen, mit denen wir hier konfrontiert sind.
Das entwickelt sich aber erst aus langen Einstellungen,
Beobachtungskamerafahrten, die bereits sehr eindrucksvoll sind und uns sofort ins Geschehen ziehen.
In einem Film mit offenkundigen autobiographischen Elementen reist Cuarón zurück ins Mexiko der Jahre 1970/71 und erzählt von einer wohlhabenden Arzt-Familie mit vier Kindern. Die Hauptfigur im Zentrum ist das Dienstmädchen Cleo, die gute Seele des Hauses und vertraute Ersatzmutter der Kinder. Das wird sie um so mehr, als der Vater eines Tages von einer Dienstreise nicht
mehr zurückkehrt, sondern mit der neuen Geliebten zusammenzieht.
Sehr gelassen rekonstruiert der Regisseur das ganz normale Leben. Mit einer fließenden, gut beobachtenden Kamera, großer Sensibilität und Humor. Roma ist nostalgisch und melancholisch, aber durchzogen von apokalyptischen Momenten, wie einem heftigen Waldbrand, einem Erdbeben in einer Geburtsklinik und vor allem der historisch belegten blutigen Niederschlagung einer Studentendemonstration durch analphabetische Arbeiter. Sie hatte man in die Stadt gekarrt und mit Knüppeln und Pistolen auf die Unbewaffneten losgelassen – über 120 wurden ermordet.
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Es ist das Portrait einer Klasse und einer historischen Situation, mit Kindern als zentralen Charakteren. Ich habe an The Ice Storm gedacht.
Im Kinderzimmer, es ist das Cuaróns, sehen wir Plakate von der WM »Mexico ‘70« und für »Make love not war«. Das Fernsehen kommentiert Szenen mitunter von außen. Genauso wie im Kino eine Kriegs-Film-Komödie mit Louis de Funès, Sieghart Rupp, Reinhard
Koldehoff.
Gewalt steht im Raum, wird aber selten explizit. Sie liegt in Gegenständen, wie dem Familienauto, einer protzigen US-Kutsche Ford Maverick. Als Running Gag fungiert die Hundescheiße im Eingang der Garage.
Bei dem Besuch bei Verwandten auf einer Hacienda sieht man zunächst viele ausgestopfte Hundeköpfe an der Wand hängen: Die Hunde des Hauses. Später sieht man Erwachsene und Kinder bei Schießübungen sinnlos im Wald herumballern. Vom Plattenspieler erklingt der Song
»Oh Mama blue«.
Dies ist auch ein Abgesang auf einen Lebensstil. Auf die Zeit, als man nicht an Gesundheit und ewiges Leben dachte, sondern das begrenzte Leben intensiver genoss, abends selbstverständlich Drinks aus schweren Kristallgläsern zu sich nahm und Mezcal, Zigaretten in Kette rauchte und auf schweren Möbeln aus Holz saß.
Wurden damals unter Erwachsenen mehr Partys und ausgelassenere Partys gefeiert als heute? Ich weiß, dass meine Eltern so gefeiert
haben…
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Dies ist das merkwürdige Beispiel einer Independent-Produktion von Netflix. Denn für den Streaming-Dienst ist der Film gemacht. Aber in den Credits zu Beginn lesen wir: Regie: Alfonso Cuarón; Drehbuch: Alfonso Cuarón; Kamera: Alfonso Cuarón; Schnitt: Alfonso Cuarón; Produktion: Alfonso Cuarón.
Der Film ist durchgehend schwarzweiß; es gibt – wie wohltuend – keinerlei Filmmusik, nur interne Musik, also welche, die sich aus den Szenen selbst ergibt. Zum Beispiel hört
Cleo gerne Schlager, singt sie mit, wenn sie aus dem Radio kommen.
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Zwei Frauen, Cleo und die mit vier Kindern verlassene Mutter nähern sich einander an, es sind gegenläufige Bewegungen zueinander hin. Eines Tages sagt die Mutter: »Wir sind allein, Cleo. Egal, was sie dir sagen, wir sind immer allein.«
Am Ende hat Cleo ihr Kind verloren und ist darüber weniger unglücklich, als es die Moral verlangt. Längst ist sie zur zweiten Mutter der Kinder ihrer Arbeitgeber geworden. Sie riskiert ihr Leben, um die Kinder der Familie zu retten. Hier gehört sie
hin, so wie die Mutter sie als Teil der Familie ansieht.
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Ein Film, der Frauen in jeder Lebenslage zeigt, ist auch weiblich. Ohne, dass der Regisseur es ist. Aber hätte man diese Darstellerinnen, diese Figuren, diese Sujets vom Lido verdammen sollen, um einer Regisseurin den Roten Teppich auszurollen? I doubt it.
Frauen sind auch nicht die besseren Menschen. Aber die besseren Mütter.
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Am nächsten Abend treffe ich Bruno, einen jüngeren brasilianischen Kollegen. Wir sind uns bei Lanthimos einig, bei anderem auch, debattieren aber über Cuarón. Er mag den Film, aber findet »Irgendetwas stimmt nicht.« Ich verteidige die Nostalgie Cuaróns, die Schärfe, die trotzdem da ist. Und sage: »Natürlich ist er weiß und bourgeois. Aber das sind wir beide auch.« Bruno: »Yes, but from a socialist point of view…«
Wahrscheinlich ist der Film politisch nicht auf irgendeiner
Linie. Und auch in punkto Skeptizismus ist Assayas Cuarón voraus. Denn er übt gute klassisch Selbstkritik. Aber Bruno hat Assayas noch nicht gesehen, wir haben hier noch nicht drüber geschrieben, lassen wir das für heute.
(to be continued)